Bild: V. Gröll

Was bedeutet es lebendige Kirche zu sein?

Was bedeutet es lebendige Kirche zu sein? Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Abschluss der Renovierung der Pfarrkirche St. Martin in Hirschbach 2016.

Liebe Ehren- und Festgäste, liebe Kinder und Jugendliche, liebe Geschwister im Glauben,
ganz viel ist in den letzten Wochen und Monaten geleistet, ganz viel hergerichtet und vorbereitet und organisiert worden. Ich danke von Herzen allen Beteiligten für das große Engagement für diese schöne Martinskirche – eines unserer vielen kostbaren Kleinodien in unserem Bistum. Und heute ist es soweit, dass wir das Fest feiern. Das Fest des Abschlusses der Renovierung dieser rundumerneuerten Martinskirche!

Was bedeutet es lebendige Kirche zu sein?

Aber, meine Lieben, was feiern wir da eigentlich? Eine Kirche, ein schönes Gebäude aus Stein? Und wer feiert? Die Gemeinde, die Pfarrei, die Kirche selbst vor Ort? Vielleicht ist es ja ein wenig paradox: Das Gebäude stellt nach außen hin eine Kirche dar. Von innen gesehen sind aber diejenigen, die hier zum Gottesdienst zusammen kommen, lebendige Kirche.

Das heißt: diejenigen, die das Fest heute organisiert haben, feiern irgendwie auch sich selbst. Die Kirche in Hirschbach, das seid Ihr! Ihr, die Ihr hier seid, habt Grund zu feiern, denn Ihr habt wieder einen Raum, in dem Ihr Kirche sein könnt, in dem Ihr Euch als Kirche findet.

Wer und was ist eine Lebendige Kirche?

Und die Texte der heutigen Hl. Messe verdeutlichen etwas von der Mitte des Festgeheimnis, von der Antwort auf die Frage: Wer ist eigentlich Kirche und was ist sie? Im Alten Testament aus dem Buch Nehemia haben wir einen Text gehört, der für das Volk Israel ein sehr einschneidendes Erlebnis schildert. Das Volk ist aus dem jahrzehntelangen Exil, aus der Gefangenschaft in Babylon zurück gekehrt. Der Tempel wurde wieder aufgebaut. Und nun wird der Priester und Schriftgelehrte Esra beauftragt, das Gesetz dem Volk vorzutragen.

Das Gesetz der fünf Bücher Mose und das weinende Volk

Das Gesetz sind die fünf Bücher Mose, sozusagen eine Art schriftliche Geburtsurkunde des Volkes. Es ist das Buch, in dem steht, wer das Volk ist, was seine Geschichte mit Gott ist, was seine tiefste Identität ist und wie es zu diesem Gott steht. Esra trägt also das ganze Gesetz vor und nun hören wir, dass das ganze Volk weint. Warum wird nicht gesagt, aber vielleicht vor Rührung oder auch vor Bestürzung, weil nach der schlimmen Zeit in der Zerstreuung nun für alle noch einmal wirklich deutlich wird, wer sie sind.

Vielleicht weil sie es allzu schnell vergessen haben in der Zerstreuung, vielleicht weil sie sich in der Fremde allzu schnell mit anderen auf deren religiöse Vorstellung eingelassen haben. Oder vielleicht, weil sie sich angesichts der Größe und der Wunder Gottes als klein, als sündig, als unwürdig erfahren. Vielleicht auch weil sie endlich, endlich wieder beisammen sind, beim Tempel, in ihrer Mitte. Vielleicht aus allen Gründen zusammen. In jedem Fall aber sagen Esra und die Priester zum Volk: Weint nicht. Feiert, heute ist ein Freudentag.

Feiert, Ihr seid lebendige Kirche

Liebe Schwestern, liebe Brüder, ich stelle mir gerade vor, wie das bei uns wäre, wenn das Evangelium vorgelesen würde, und wir als Gläubige kämen hierher, freuten uns über die erneuerte Kirche und würden anfangen zu weinen, weil wir neu verstehen würden, wer wir sind vor Gott und mit unserem Gott.

Der Hl. Paulus hat uns in der zweiten Lesung eine vertiefte Beschreibung gegeben, wer wir als Kirche sind: Das sind die, in denen der Heilige Geist wirkt. Und zwar bei jedem und jeder auf ganz verschiedene Weise, bei dem einen zum Beispiel mit der Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, beim anderen mit der Gabe, Kranke zu heilen, beim anderen mit der Gabe prophetisch zu reden, beim anderen mit der Gabe den Glauben zu stärken. Und anderes mehr.

Der Geist Gottes schenkt Fähigkeiten, eine Gemeinde aufzubauen

Jetzt könnten Sie alle vielleicht sagen: Ja, so hat jeder seine Begabungen und Talente. Aber so ganz ist das mit dem, was Paulus hier ein Charisma nennt, nicht getan. Es sind nicht einfach unsere natürlichen Begabungen und Talente, die er meint. Paulus ist vielmehr der Ansicht, dass der Geist Gottes Fähigkeiten schenkt, die die Gemeinde aufbauen. Und die Gemeinde ist bei ihm in einem schönen Bild der ganze Leib Christi, es ist die Gegenwart Christi.

In geheimnisvoller Weise ist Jesus da – und die Charismen weisen die Glieder der Kirche darauf hin: der oder die gehört zu Christus. Er hat in sich etwas geschenkt bekommen, das den Glauben an diese Gegenwart und die Erfahrung dieser Gegenwart vertieft.

Weit weg vom Bewusstsein für eine lebendige Kirche?

Liebe Schwestern, liebe Brüder, manchmal frage ich mich, was eigentlich dazu geführt hat, dass wir uns in unserem Bewusstsein, Kirche zu sein, doch ziemlich weit weg bewegt haben von dieser Erfahrung des Paulus und seiner Gemeinden. Damals waren Kirche alle die, die sich versammelt haben und sich darin bestätigt und bestärkt haben, wie Jesus unter ihnen da ist, wie er wirkt, wie er heilt und heiligt, wie er lehrt, wie er den Glauben stärkt. Und alles das, diese Erfahrung von Identität ist hinein geflossen in die Eucharistie.

Hier ist der Höhepunkt, hier nähren wir uns buchstäblich von ihm und seiner Gegenwart. Hier bekommen wir sinnlich anschaubar die Erfahrung, dass wir Anteil an ihm haben. Das, liebe Schwestern und Brüder, ist Kirche, es sind diejenigen, die Jesus kennen, die ihn lieben und aus ihm und seiner Gegenwart leben. Es sind diejenigen, die sich von Maria, der Mutter der Kirche, wie im heutigen Evangelium sagen lassen: „Was er euch sagt, das tut.“ Und dann wandelt der Herr das Wasser in köstlichen Wein.

Heimkehr

Und Heimkehr in die Kirche ist dann ein Akt, der vielleicht das folgende sagt: Es tut mir leid, Herr, dass ich immer wieder so weit weg von Dir lebe, dass ich in meinem Herzen allerhand Dingen und Menschen den Platz eingeräumt habe, der eigentlich dir gebührt. Aber ich will ein Christ sein, eine Christin, ein Mensch, der zu Dir gehört, zu Deinem Leib, Deiner Kirche. Hier bin ich eigentlich daheim.

Eine lebendige Kirche aufbauen: Es muss um Gott gehen

Liebe Schwestern, liebe Brüder, mir ist schon klar, dass die Dinge, die ich jetzt gesagt habe, sehr herausfordernd sind, mancher mag sich auch überfordert fühlen. Aber im Grunde ist mein innerstes Anliegen wirklich, dass sich auch in diesen Zeiten von heute, Kirche von neuem als die Gemeinschaft derjenigen erweisen möge, die zu Jesus gehören, die ihn kennen und lieben. Und die dann deswegen in sich Gaben entdecken, mit deren Hilfe sie Gemeinde wieder aufbauen.

Durch seine Gaben und Geschenke. Ich glaube ehrlich, dass wir in unserer Kirche längst an dem Punkt sind, an dem wir spüren: Es muss uns wieder wirklich um Gott gehen, um den Glauben an Ihn, um das Lob Gottes, um die Erkenntnis Jesu. Ich bin fest überzeugt, dass nur daraus Erneuerung kommt, dass nur daraus das Wachstum kommt, das uns der Herr schenken will.

Wo ist die Jugend?

Wir beklagen uns, dass die Jugend weg bleibt aus der Kirche. Das tut uns weh, zurecht. Aber haben wir ihnen denn tatsächlich auch mehr zu zeigen als Rituale, die vielen von uns selbst schon langweilig erscheinen, weil sie uns kaum noch etwas sagen? Haben wir ihnen mehr zu zeigen als ein Evangelium, das sich nach unserer oberflächlichen Meinung darin erschöpft, dass wir einigermaßen anständig miteinander umgehen und zueinander nett sind?

Liebe Schwestern und Brüder, das innerste Geheimnis unseres Glaubens ist die leibhaftige Gegenwart Jesu unter uns! Mal ehrlich: Glaubt das noch einer? Glaubt noch einer, dass von dieser Wandlung hier am Altar eine lebensverändernde Kraft ausgeht, die mein eigenes Leben wirklich auch verwandeln kann? Ist das noch eine Realität, eine Frage für uns? Ich weiß, liebe Schwestern und Brüder, dass es schon noch nicht wenige unter uns gibt, die das von Herzen glauben. Und sie tun sich vielleicht nicht so leicht, das auch ausdrücklich zu sagen.

Glaube als Last und Schwierigkeit

Aber ich weiß auch, dass es viele gibt, denen dieser Glaube längst eine Schwierigkeit geworden ist, manchem sogar eine Last. Ich weiß, dass es für viele nichtssagend geworden ist und sie kommen halt noch her, weil man es auf dem Dorf eben so macht. Und ich mag es auch niemandem verdenken und natürlich niemanden anklagen.

So ist eben das kirchliche Leben in Niederbayern zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer postmodernen und pluralen und medial geprägten Gesellschaft. Und natürlich tragen auch wir Kirchenverantwortliche – und ich schließe mich da durchaus ein – bisweilen dazu bei, dass die Glaubwürdigkeit von Kirche immer mal wieder in Frage gestellt wird.

Und wir spüren ja allenthalben, dass da manches nicht mehr trägt, wir spüren, dass wir so etwas wie Erneuerung brauchen. Geistige und geistliche Erfrischung. Wir sehnen uns danach, solche Erfahrungen machen zu dürfen wie in der ersten Lesung: zum Beispiel, dass wir weinen müssen, wenn wir das Evangelium hören, weil es uns mitten ins Herz trifft.

Lebendige Kirche sind die, die zu Jesus gehören

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wenn wir uns hier und heute miteinander fragen, wer oder was Kirche ist, dann ist die erste Antwort. Das sind die, die zu Jesus gehören. Und es sind die, die durch Jesus von neuem mit dem Vater versöhnt sind, die zu ihm wirklich und von Herzen Vater sagen dürfen. Und das auch glauben. Es sind die, die zum obersten Chef aller Chefs gehören. Es sind die, die vertrauen können, dass dieser oberste aller Chefs, der Schöpfer des Universums, sie persönlich kennt, beim Namen.

Ja, mehr noch: Er kennt sogar Ihr Muttermal unter dem Kinn, er kennt die Zahl Ihrer Haare und er weiß, dass Sie gerne Butterbrezen essen und anderes mehr. Kirche sind diejenigen, die Vertrauen haben, dass Jesus in ihrer Mitte ist und bleibt. Es sind diejenigen, die sich als Geschwister erkennen, weil sie auf den gleichen Namen und im gleichen Geist getauft sind. Das sind wir Christen. Und ich weiß natürlich, dass das für viele heute keine Perspektive ist, meine Lieben, dass das nicht wenigen zu viel ist.

Gott suchen, Sehnsucht wecken

Aber meine Sehnsucht geht dahin: Dass überall wieder Menschen von neuem anfangen, Gott wirklich zu suchen, seine Gegenwart erfahren, sich von seinen Gaben beschenken lassen und so Gemeinde aufbauen. Wie bei Paulus. Meine Lieben, wir haben unseren Jugendlichen nichts zu bieten, was wir aus uns selbst hätten. Aber wir könnten eine Erfahrung anbieten, die da heißt: Er wohnt in unserer Mitte, kommt und seht. Und wir helfen euch sehen. Mit den Augen des Herzens.

Noch einmal: Ich will keinesfalls entmutigen und über die Köpfe hinweg reden. Ich weiß zu gut um die konkrete kirchliche Realität vor Ort. Aber ich will Sehnsucht wecken, Hunger nach einer Wirklichkeit, die tiefer liegt, als was die meisten von uns über Kirche ahnen und denken und glauben. Wir sind die, die mit Jesus sind. Er ist da und bleibt da, das hat er uns zugesagt.

Unsere Seele nähren lassen

Vielleicht, ziemlich sicher, haben wir allzu lange darauf verzichtet, wirklich zu realisieren, ihn zu suchen in seiner Gegenwart, unsere Seele von ihm und seinem Wort nähren und verwandeln zu lassen. Vielleicht konnten wir zu selten weinen, angesichts seines unfassbaren Erbarmens und seiner Geduld mit uns.

Liebe Hirschbacher und alle, die sich zugehörig fühlen. Ich möchte Sie einladen, nutzen Sie die Gunst dieser Stunde Ihrer Kirchenrenovierung und fragen sich miteinander, was heute für die Kirche, die Sie alle selbst sind, das Zentrale ist. Es ist nicht zuerst, sich um Flüchtlinge zu kümmern, es ist nicht zuerst, möglichst lange den Betrieb aufrecht zu erhalten, es ist nicht zuerst schauen, dass das Pfarrfest gut läuft.

Gott ist die Mitte einer lebendigen Kirche

Alles das ist wichtig und gut. Es ist ein Zeugnis. Aber das Zeugnis wird allmählich immer leerer, wenn es unverbunden bleibt mit der aufrichtigen Bitte: Herr, lass uns Dich neu suchen, lass uns Dir neu begegnen, lass uns neu verstehen, wer du bist, wie du bist und wie du unter uns bist. Und lass uns lernen, Dir den Lobpreis zu singen, Dich anzubeten, weil Du ein unfassbar großer Gott bist.

Wenn wir dann hinausgehen, und uns um Arme kümmern, weil wir uns von Christus geschickt wissen – dann werden die Menschen neu spüren, zu wem wir gehören, dann werden sie sagen, wie es in einer alten Verheißung des Buches Sacharja (8,23) für das messianische Reich heißt: „So spricht der Herr der Heere: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“