Bild: Die Seligpreisung der Armen im Geiste, Teil einer russisch-orthodoxen Ikone aus dem 17. Jahrhundert

Selig, die arm sind vor Gott: Allerheiligen 2015

Selig, die arm sind vor Gott: Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Hochfest Allerheiligen im Passauer Stephansdom 2015.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Das ist der allererste Satz, den Jesus in seiner allerwichtigsten Rede in der Bibel sagt. Er sagt ihn in der Bergpredigt, die im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums beginnt. Selig, die arm sind vor Gott!

Selig, die arm sind vor Gott

Wörtlich übersetzt steht da im Griechischen: Selig, die arm sind im Geist. Aber das wäre im Deutschen sehr missverständlich, denn Jesus preist nicht einfach Dummheit selig. Die Übersetzung „arm vor Gott“ weist darauf hin, dass es um eine Haltung geht, aber diese Haltung ist eine Geisteshaltung. Was heißt das also, arm vor Gott, was heißt arm im Geist? Was ist das für eine Haltung – und warum nennt Jesus sie selig? Und warum ist das so wichtig?

Was bedeutet „arm vor Gott“, „arm im Geist“?

Sehr geeignet, um zu verdeutlichen, was Jesus aus meiner Sicht gemeint hat, ist unsere Fähigkeit zum Zuhören. Kennen Sie das, dass Ihnen ein Mensch wirklich zuhört? Dass er im Hören wirklich versucht zu verstehen, innerlich mitzugehen?

Kennen Sie einen Menschen, der so zuhören kann, dass Sie sich in Ihrem eigenen Sprechen am Ende unterstützt fühlen und dass sie sich selbst am Ende Ihres Sprechens besser verstehen? Weil der Hörer Ihnen in seinem Verstehen gewissermaßen ins eigene Wort geholfen hat?

Berührung von Herz zu Herz

Ein wirklicher Hörer ist offen für Sie, er lässt sich von dem Gesagten berühren, er lässt sich auch betreffen, von dem was gesagt wird und wie es gesagt wird und von wem es gesagt wirt. Er geht einfach innerlich mit. Es findet eine Berührung von Herz zu Herz statt.

Und der wirkliche Hörer ist deshalb offen für den Sprecher, weil er dem Sprecher wirklich auch zutraut, dass er etwas zu sagen hat. Wenn er ihm das nicht zutrauen würde, würde er sich gar nicht öffnen, würde er es gar nicht für wert finden, innerlich mitzugehen, mitzuhören, mitzudenken.

Leer werden, um empfangen zu können

So ein Mensch geht also davon aus, dass er vom anderen, vom Sprecher beschenkt wird. Er geht davon aus, dass der Sprecher, in dem was er zu sagen hat, eine Art Reichtum hat, dass er als Hörer bereichert werden kann. Und um diesen Reichtum zu empfangen, muss der Zuhörer selbst innerlich frei sein, er muss sich in seiner Offenheit leer und empfänglich machen.

Er muss gewissermaßen ganz Ohr werden. Eine solche Offenheit kann man auch arm nennen, weil sie vertraut, dass ihr von dem, der spricht, etwas Gutes entgegenkommt, etwas das sie bereichert. Ein Reichtum für meine offene Armut.

Wenn einer nicht zuhören kann…

Dagegen steht: Wenn einer nicht zuhören will oder kann, dann oft deshalb, weil er einem Sprecher gar nicht zutraut, dass da etwas Gutes kommt, etwas das ihn beschenken und bereichern könnte. Oder weil er selbst so gerne spricht oder sich sprechen hört, weil er selbst meint, er ist schon so reich. Kennen Sie das nicht? Sie sprechen mit einem Menschen und spüren, dass der gar nicht hört – und Ihnen bleibt fast das Wort im Hals stecken. Sie spüren, er will gar nicht hören oder er kann es einfach nicht.

Vielleicht weil er meint, dass er selbst schon alles weiß oder hat oder kann. Ein Mensch, der beständig meint, in diesem Sinn reich zu sein, in diesem eher negativen Sinn, so ein Mensch wird vermutlich nie einer sein, der wirklich begegnet, bei dem wirkliche Kommunikation von Herz zu Herz stattfindet. Denn auch das ist ein Geheimnis: Ein wirklicher Zuhörer, der dann anfängt selbst zu sprechen, der spricht so, dass er auch im Sprechen noch mithört, ob der Hörende auch verstehen kann.

Arm vor Gott sein: Die Bergpredigt

Von hier möchte ich zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, zur Bergpredigt von heute: Jesus preist also die selig, die arm sind im Geiste, die arm sind vor Gott. Das sind diejenigen, liebe Schwestern und Brüder, die wirklich von ganzem Herzen vertrauen können, dass Gott zu ihnen spricht, dass er in ihr Leben hinein spricht.

Das sind diejenigen, die voller innerer Offenheit und Armut, voller demütiger Geduld warten können, bis sie hören und verstehen lernen. Es sind diejenigen, die glauben, dass alles, was im Leben wirklich wichtig ist, dass das alles von Gott kommt, dass das alles geschenkt ist. Sie vertrauen, dass die wirklich wichtigen Dinge ein Reichtum sind, den ich nicht einfach aus mir selbst schon habe, sondern den ich von Gott erwarten darf: Freundschaft, Liebe, tiefe Freude, Dankbarkeit, die Fähigkeit treu zu sein, Geduld, Güte, Selbstbeherrschung, innere Ordnung, Tiefe, wachsende Weisheit, Hoffnung. Und vor allem auch: Glaube.

Christus schenkt es uns mit sich selbst

Alles das schenkt Christus, alles das schenkt Gott in seinem Wunsch uns zu geben. Und er schenkt es uns als Gabe, zusammen mit sich selbst. Aber er kann es nicht schenken, wenn wir meinen, dass wir innerlich schon alles haben. Er kann es nicht schenken, wenn wir denken, dass wir den Reichtum aus uns selbst haben.

Er kann es nicht geben, wenn wir innerlich verschlossen sind, wenn wir nicht fähig sind zu hören, nicht fähig zu warten, wenn wir nicht fähig werden, die leise Sprache seiner Liebe zu lernen, wenn wir nicht fähig sind, bei ihm zu bleiben. Selig sind, die arm sind vor Gott.

In einer Haltung der Armut vor Gott treten

Aber wenn wir es sind, liebe Schwestern, liebe Brüder, wenn wir lernen, in diesem Haltung unserem Gott zu begegnen, dann erfüllt sich jetzt schon eine Verheißung, des zweiten Halbsatzes, die ungeheuerlich ist. Selig, die arm sind vor Gott, sagt Jesus, denn ihnen gehört das Himmelreich! Ein ganz wichtiges Merkmal ist hier das Wort „gehört“, das hat die Zeitform der Gegenwart. In den anderen, nachfolgenden Seligpreisungen, da steht die Zukunftsform, da steht also zum Beispiel: Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.

Oder: Selig die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Hier aber, in der allerersten und vielleicht wichtigsten Seligpreisung, da steht: Ihnen gehört das Himmelreich! Jetzt schon! Menschen, die in der Weise da sind, wie ich versucht habe zu schildern, Menschen, die in dieser Weise arm sind vor Gott, die wissen um das Geheimnis des Himmelreiches, weil sie schon dazu gehören. Sie spüren, sie ahnen schon, dass dieses Reich für sie schon angebrochen ist.

Jesus will den Zugang zum Himmelreich öffnen

Liebe Schwestern und Brüder, das ist das Schwierige an inneren Erfahrungen. Man kann sie so schwer mitteilen, man kann sie nicht gut beschreiben, so dass man es einfach nachmachen könnte; man spürt nur manchmal, dass es einfach so ist, wie es da steht. Ihnen gehört das Himmelreich, sagt Jesus. Denen, die von Ihm alles erwarten!

Jesus will jedem von uns den inneren Zugang ermöglichen. Er will jedem von uns, in das innere Vertrauen hinein helfen, dass er da ist, dass das Himmelreich anfanghaft schon angebrochen ist – und dass es uns schon gehört. Er will uns in den inneren Frieden führen, in die Versöhnung mit Gott, in die Wahrheit, die uns auch in die Wahrheit zu uns selbst bringt. Wo das geschieht, in der Armut des Geistes, da ist der Frieden, da ist Anfang des Himmelreiches.

Arm vor Gott leben und vom Reichtum berührt werden

Wir bitten den Herrn gleich nachher, vor der Kommunion, um den Frieden, den Jesus den Seinen verheißen hat, und den nur er geben kann: Liebe Schwestern und Brüder, uns allen ist dieser Frieden verheißen. Uns allen ist verheißen, dass wir in das Land der Ruhe einziehen dürfen, von dem der Brief an die Hebräer spricht. Uns allen ist verheißen, dass wir innerlich schon dorthin gehören. Jetzt schon – und einst in Fülle.

Heute an Allerheiligen feiern wir alle die Menschen, die in ihrem Leben ganz aus dieser Armut leben konnten – und die deshalb von einem Reichtum berührt waren, der von Gott kam, der sie selig sein ließ. Wir feiern die vielen Unerkannten, in denen die Liebe Gottes ganz gegenwärtig war und die sie voller innerer Freiheit und voller Frieden an ihre Mitmenschen verschenkt haben.

Heute feiern wir alle Heiligen, die inzwischen kaum noch jemand erinnert. Wir ehren sie alle – und wir rufen sie an, damit sie für auch uns beten. Damit auch wir immer mehr Menschen werden, die arm sind vor Gott, die von Ihm alles erwarten – und die heute schon hineinfinden dürfen in das Land des Friedens, in das Himmelreich, das ihnen verheißen ist. Amen.