Corona und die Grabeshöhlen der Menschheit

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

allein viermal haben wir in der ersten Lesung aus dem Buch des Propheten Ezechiel das Wort „Gräber“ gehört. Gott verheißt: Ich öffne eure Gräber, ich hole euch aus euren Gräbern herauf. Und im heutigen Evangelium geht Jesus zum Grab des Lazarus, zur Grabeshöhle und holt ihn da aus dem Tod zurück – obwohl er schon vier Tage in seiner Grabeshöhle gelegen war. Dies ist das letzte, das spektakulärste Zeichen im Johannesevangelium, das Jesus wirkt, eher er seinem eigenen Leiden entgegengeht.

„Kommt und seht“ – die Heimat Jesu

Ich möchte mit Ihnen über zwei Details nachdenken, die mir im Gebet mit diesem Evangelium neu aufgegangen sind. Da ist einmal das Wort „Komm und sieh“ – Es ist hier die Antwort, die Jesus bekommt auf die Frage: „Wo habt ihr ihn bestattet?“ Und sie führen den erschütterten und weinenden Jesus zum Grab des Lazarus. Warum ist das auffällig? Weil diese Worte: „Komm und sieh!“ fast identisch sind mit den allerersten Worten, die Jesus im Johannes-Evangelium überhaupt sagt. Johannes, der Täufer hatte seine Jünger auf Jesus hingewiesen mit den Worten: „Seht das Lamm Gottes!“ Die Jünger des Täufers gehen Jesus daraufhin nach und fragen ihn: „Rabbi, wo wohnst du? (Joh 1, 38)“ Und er sagt seine ersten Worte in diesem Evangelium: „Kommt und seht!“ Und die Jünger gehen mit und im Bleiben bei ihm an diesem Nachmittag dürfen sie erkennen, dass er der ist, der beim Vater wohnt, der vom Vater kommt. Sie verstehen, dass er wirklich der Messias ist. Das heißt für uns: Wenn wir zu ihm kommen, zu Jesus, und wenn wir sehen lernen mit dem Herzen, werden wir mit ihm eine innere Heimat bekommen, wir werden mit ihm dorthin finden, wo er innerlich wohnt – im Haus des Vaters, in einem Leben, das nie mehr aufhört.

„Komm und sieh“ – zum Grab

Aber jetzt in dieser Szene des heutigen Evangeliums vom toten Lazarus, da ist die Bewegungsrichtung eine genau umgekehrte. Die Menschen sagen jetzt zu ihm: „Komm und sieh!“ und er geht in die Nähe des Todes. Wo wohnen denn wir Menschen? Vor allem, wo wohnen wir ohne Gott? Wir wohnen in der Verlorenheit, beim Grab oder schon im Grab. Die Menschen damals sind verzweifelt über den Tod des Lazarus! Und Jesus kommt und sieht, weil er erschüttert ist über ihre Not und ihre Trauer. Er geht hinein in ein Reich, in dem der Tod herrscht – nicht das Leben. Und das ist nicht dort, wo er selbst wohnt.  Aber wir sehen so eine Bewegung Jesu hinaus in das Reich des Todes oft im Evangelium, sein Hingehen zu denen, die den Todesgeruch buchstäblich an sich tragen: die Leprakranken etwa; oder auch die gesellschaftlich schon Toten, wie die Zöllner – oder wie der tatsächlich in den Grabeshöhlen hausende Besessene von Gerasa (Lk 8,27). Wir sehen: Jesus geht in unsere Verlorenheit, die vom Tod bedroht ist  – um uns in ein Leben zurückzuholen, das größer ist als alles, was wir durchschnittlich für Leben halten.

Die Liebe der Maria von Betanien

Und das zweite, was mir aufgefallen ist: Jesus reagiert tief erschüttert, im Innersten erregt. Und er weint – und erst jetzt, nach dieser inneren Erschütterung, geht er zum Grab um das Unfassbare zu tun. Aber wann geschieht diese heftige Erschütterung beim Herrn? Sie passiert erst, nachdem Maria zu ihm gekommen war. Ihre Schwester Marta hatte schon ihr Glaubensbekenntnis abgelegt, schon bekannt, dass er der Messias ist. Aber von Maria lesen wir in mehreren Stellen des Evangeliums, dass sie diejenige war, die in einer Art Herzensfreundschaft mit dem Herrn gelebt hat. Sie war es, die sich ihm einfach zu Füßen gesetzt und ihm zugehört hatte, als Jesus zu Besuch war. Sie war es, die vor seinem Tod einfach ein Pfund kostbarstes Nardenöl über seine Füße ausgoss, sie salbte und mit ihren Haaren trocknete – Öl im Wert eines Jahreslohnes eines Arbeiters in der Antike. Wir spüren daran, sie liebt ihn einfach über alles. Und er spürt, wie sie ihn versteht. Und er reagiert auf ein Verhalten, dass ihr existenziell aus der Tiefe ihres Herzens kommt. Und jetzt, liebe Schwestern und Brüder, jetzt realisieren wir vielleicht, dass es nicht gleichgültig ist, ob uns Jesus interessiert oder nicht, ob wir ihm vertrauen oder nicht, ob wir Sehnsucht nach seiner Nähe haben oder nicht. Wir spüren, wie seine Antwort auf Maria auch eine Antwort ist aus der inneren Qualität dieser Beziehung.  Jesus will uns ja heimholen in sein Reich, ins Reich des Vaters. Es ist das Reich, in dem Er mit dem Vater König ist – aber in diesem Reich herrschen Liebe, Wahrhaftigkeit, Friede, Freude – die allesamt aus dem Herzen ihrer Bewohner kommen. „Ich hole euch aus euren Gräbern“ sagt der Prophet Ezechiel und ergänzt an anderer Stelle: „Und ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euer Inneres“ (Ez 36,26)

Der Glaube, der ins Leben führt

All dieses, liebe Schwestern und Brüder, wird biblisch in dem großen Wort Glaube zusammengefasst: Jemandem vertrauen, jemandem das Herz geben und zugleich wissen, wem man vertraut. So war Maria von Betanien. Und Sie spüren jetzt vielleicht auch, wie wesentlich es ist, im Glauben zu sein und im Glauben zu wachsen. Weil der Glaube uns wirklich ins Leben führt.

Die Anfechtung des Glaubens

Aber eben: Dieser unser Glaube ist angefochten, jetzt in dieser Krisenzeit besonders. Gibt es Gott wirklich? Ist Jesus wirklich da, trotz Corona? Kürzlich habe ich einen Film wieder angesehen, eine biographische Verfilmung über den großen Christen und Schriftsteller C.S.Lewis. Er muss erleben, wie seine von ihm über alles geliebte Frau an einem Krebsleiden stirbt und zurvor furchtbar leidet. Und in dieser Zeit seines Ringens, in seiner Trauer, seiner Verzweiflung, in seiner Anfechtung fragt er sich zweifelnd: Oder sind wir nicht vielleicht doch nur wie Ratten in Gottes großem Experimentierkäfig? Auf unser Evangelium übertragen könnte es lauten: Oder wird unsere Welt am Ende doch nicht mehr sein als nur ein großes Grab, ein riesiger Friedhof – und eben nichts mehr. Ohne jeden tieferen Sinn? Ist die Corona-Krise am Ende nicht doch ein deutliches Signal dafür, dass wir alle, die ganze Welt dem Ende entgegen gehen – und nicht mehr als nur diesem Ende? Und sind wir nicht alle schon in Grabesnähe? Sitzen wir nicht alle im selben Grab, die ganze Welt? Letztlich totgeweiht und nicht mehr? Und sind viele Menschen in Zeiten wie diesen nicht auch besonders von Zweifeln wie diesen bedrängt?

Wir brauchen einander!

Vielleicht ahnen Sie jetzt, liebe Schwestern und Brüder, wie sehr wir den Glauben brauchen, wie sehr die Welt unseren Glauben braucht, wie sehr wir Jesus brauchen, der in unsere Gräber mit hinabsteigt, in unser Kranksein, in unser Gefühl der Verlorenheit. Wir brauchen Glauben und wir brauchen einander im Glauben. Stärken wir uns gegenseitig, indem wir uns gerade jetzt davon erzählen, wie wir glauben, was uns stärkt im Glauben, was uns bewegt. Wir sind nicht sehr gewohnt davon zu sprechen – aber womöglich hilft uns der Herr gerade jetzt zu sehen, was wesentlicher ist als alles andere? Vielleicht hilft er uns zu sehen, wo er wohnt und wie wir mit dem Herzen da hinfinden können. Und wie wir einander helfen können, diese innere Tür aufzumachen. Liebe Schwestern, liebe Brüder, ich bin überzeugt, diese Liebe, die von Jesus kommt, die ihn in die menschliche Gräberlandschaft gehen lässt, diese Liebe ist stärker als der Tod. Und wenn wir davon berührt sind, dann zeigen auch wir unserem Nächsten gegenüber, dass wir die sind, die Hoffnung haben, die Glauben haben, die ein inneres Daheim bei Jesus haben. Schenken wir einander Zeit, Aufmerksamkeit, echtes Zuhören – in unseren Familien – und auf anderen Wegen auch denen, die gerade allein sind. Bieten wir unsere Hilfe an – und hören wir nicht auf zu beten. Bitten wir den Herrn täglich neu, unser Herz zu verwandeln, auf das wir jetzt schon immer wieder im Herzen  erahnen dürfen, was es heißt, bei Ihm zu wohnen. Liebe Schwestern und Brüder, Gott segne Sie in dieser Zeit – danke von Herzen für jedes Gebet. Und bleiben wir verbunden mit Ihm, untereinander – und mit denen, die uns jetzt am meisten brauchen. Amen.

 

Bild: Duccio di Buoninsegna: die Auferweckung des Lazarus