Der Himmel – endlich wieder offen!

Predigt in der Christmette am 24.12.2018 im Passauer Stephansdom

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

vermutlich hat es bei einigen von Ihnen, die Sie heute Nacht hier im Dom sind, zuvor daheim in den Familien Diskussionen gegeben. Die einen wollten gerne in die Kirche gehen, um die Weihnachtsmesse zu feiern, die anderen haben argumentiert: Jetzt sei es doch gerade so schön gemütlich, man sitze so gut zusammen, das Gespräch sei gut; das ganze Jahr komme man nicht so zusammen – aber nein, jetzt müsse man raus in die Kälte und in den kalten Dom. Und wenn wir ganz ehrlich mit uns sind, dann ist die Debatte vielleicht nicht nur unter den Familienmitgliedern so gelaufen, sondern mitten durch viele von uns selbst, durch unser eigenes Herz – die eine Seite in mir sagt: Geh hin! Die andere Seite in mir sagt: Ist doch grade so schön, bleib lieber daheim mit den Lieben! Und lass die Kirche nicht den Stimmungskiller sein! Bei allen, die Sie hier sind, hat die „Geh hin“-Seite die Oberhand behalten. Aber warum eigentlich? Warum sind wir heute hier? Warum sind auch viele von uns hier, die unterm Jahr eher selten kommen? (Seien Sie uns willkommen!) Und: Was suchen wir hier, was erwarten wir, nach was sehnen wir uns?

Die Außen- und die Innenseite der Religion

Vermutlich ist uns allen das Folgende mehr oder weniger bewusst: Religion hat eine Außenansicht, eine Außenseite. Man kann Religion äußerlich beschreiben, analysieren, auf ihre Erscheinungsformen hinzeigen, auf ihre Feste und Aktivitäten, kulturell, geschichtlich, soziologisch. Man kann beobachten und sich fragen: Welchen Sinn hat das Ganze? Was feiern, was machen sie da, die Katholiken? Und Religion hat eine Innenseite, eine Seite gläubiger Erfahrung, eine Seite, die unser Innerstes berührt, die sich bewegen lässt, emotional, aber die auch mehr ist als nur emotional, mehr als nur Gefühl. Menschen beispielsweise, die trauern, kommen ja nicht deshalb in die Stille einer Kirche oder in einen leisen Gottesdienst, weil sie ihre Trauer verstärken wollen, sondern weil sie hoffen, mitten in der Trauer und über sie hinaus in sich einen Anker zu finden, einen inneren Ort zu berühren, der tiefer ist als die Trauer – und der dann wieder hilft zu leben. Religion hat eine Innenseite, aber die ist eben leise und tief – und sie lärmt nicht.

 Das oft unglaubwürdige Außen

Aber eben deshalb lässt sich mit dieser Innenseite oft so schlecht argumentieren gegen ein offensichtliches oder manchmal lautes Äußeres, oder gegen das Argument von längerer Gemütlichkeit am Weihnachtsabend. Oder gegen all die Argumente gegen die Kirche, die heute so oft in der Zeitung stehen – und die eben diese Mitte so oft verdunkeln. Und diese Argumente scheinen so berechtigt, zumal in einer Zeit, in der gerade auch bei uns Verantwortlichen der Religion diese Außenseite oft so wichtig zu sein scheint, das Geld und das Prestige etwa. Oder in einer Zeit, in der deutlich wird, dass im Namen der eigentlichen inneren Mitte, Menschen in ihrem Innersten verletzt und missbraucht worden sind – eben von solchen, die eigentlich die ersten Vertreter der inneren, der heiligen Seite des Glaubens sein sollten.

 Kirche der Heiligen und Kirche der Sünder

Aber, liebe Schwestern und Brüder, und das sage ich ohne irgendwas davon zu entschuldigen, aber die Kirche war immer die Kirche der Sünder und zugleich die Kirche der Heiligen. Von Anfang an gibt es Verrat bei Judas etwa, bei Petrus oder bei der Feigheit der Apostel, die unter dem Kreuz alle davonrennen. Und alle, wir alle, müssen immer neu lernen, aus der Mitte, letztlich aus der Kraft und Gegenwart Jesu mehr und tiefer zu leben, als aus der eigenen Kraft oder gar aus dem eigenen Ego. Morgen werden wir im Gottesdienst die Zeile aus dem Evangelium hören: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“

 Macht der äußere Verrat das Innen zunichte?

Und ich möchte uns die Frage stellen, liebe Schwestern und Brüder, ist durch den Verrat die innere Mitte verschwunden oder anders geworden? Oder nur eben noch schwerer zu hören und zu glauben, angesichts von so vielem an äußerer Unglaubwürdigkeit. Unser Glaube hat eine Innenseite. Und tatsächlich meine ich, haben die allermeisten von Ihnen solche persönlichen inneren Erfahrungen mit unserem Glauben gemacht, mit dieser tiefen Innenseite – sonst wären Sie nicht hier. Und seien diese Erfahrungen auch noch so leise oder schwer zu beschreiben. Aber eben diese Erfahrungen sind es, die uns an Weihnachten ziehen. Und natürlich, dieses Innere, das kann uns einerseits Tiefe sein und Mitte, und daher auch Ausgangspunkt von Trost und Hoffnung, aber es ist eben nicht einfach herstellbar, nicht machbar. Wir können es nicht inszenieren. Wir können uns auch nicht dabei zusehen und dauernd fragen: Bin ich jetzt schon in meiner inneren Mitte? Wir können nur hierher kommen, uns einlassen in die Liturgie, ins Hören, ins Gebet, in die Musik, ins Mitsingen, in die Glaubensgemeinschaft – und wir können Gott bitten, dass Er uns öffnen möge. Denn jeder Versuch es einfach nur selbst zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Es geht viel eher um das Lassen und das Zulassen, von dem, was schon da ist.

 Der Himmel ist wieder offen

Und das, liebe Schwestern, liebe Brüder, das ist eben das qualitativ Neue an dem, was wir hier feiern. Der Himmel war vor dem Kommen Jesu in die Welt auf eigenartige Weise verschlossen. Der Mensch hat versucht, ihn sich zu verdienen und zu erleisten, und hat sich doch oft nur noch tiefer in seine eigene Selbstgerechtigkeit verstrickt. Konnte und kann man sich verdienen, dass der Himmel aufgeht, weil man zum Beispiel ganz viel betet und meditiert, oder weil man das jüdische Gesetz ganz genau befolgt oder weil man ganz viel Menschen in Not hilft? Nein, sagt Gott, es geht nicht einfach nur darum, moralisch etwas besser zu werden, oder innerlich ruhiger. Es geht darum, den offenen Himmel selbst in sich aufzunehmen. Warum? Weil in Jesus der Himmel von sich aus auf die Erde gekommen ist, damit er für uns wieder offen ist. Weil in Jesus Sünden vergeben werden, weil er sich uns schenkt als Gabe, weil er und nur er die Tür zum Himmel selbst ist – und weil unser Vertrauen auf ihn, auf dieses Gottesgeschenk auch in uns die Tür zum Himmel aufmacht. Er will uns innerlicher werden, als wir es selbst sein können. Und er will durch unser Zeugnis und unser Leben aus dieser Mitte auch zu den anderen kommen. Er ist ja schon da, er ist unverlierbar mitten in die menschliche Welt und Geschichte eingegangen, aber der Glaube an Ihn, das Vertrauen auf Ihn, die innere Öffnung für Ihn ist wie eine Neugeburt für jeden Menschen. Anfang des neuen Lebens. Und Anfang eines Engagements für Welt und Mitmenschen, das anders motiviert ist, als es zuvor war. Der Glaube lässt anders sehen, vor allem lässt er Not um uns herum anders sehen und er hilft uns, selbstloser zu lieben.

 Heimgeholt aus der Verlorenheit

Und deshalb sind wir wirklich hier, liebe Schwestern und Brüder, weil uns der Wunsch, die Sehnsucht nach einem neuen Leben zieht, heimlich, unbewusst oder offen und wirklich voller Sehnen. „Welt ging verloren, Christ ward geboren“, singen und beten wir im Kirchenlied. Und das heißt, wir alle werden aus der Verlorenheit herausgeholt und heimgeholt, dorthin, wo im Innersten unseres Lebens wirklich der Friede ist – gleich wie die äußeren Umstände sind: Es ist der Friede auf Erden für die Menschen seines Wohlgefallens, wie wir im Evangelium gehört haben. Wir haben es gehört aus dem offenen Himmel von den Engeln über dem Hirtenfeld. Und womöglich werden Sie heute berührt oder auch neu berührt von dieser tiefen Gegenwart in Ihnen, vielleicht spüren Sie, dass die Stille, das Gebet, der Gesang Sie öffnen, vielleicht auch neu öffnen und etwas neu in Bewegung bringen. Wenn ja, dann wäre es wichtig, diese zarte Pflanze zu pflegen, dann wäre es wichtig, wieder einen neuen Anfang zu machen mit Jesus. Dann lade ich Sie ein, wieder regelmäßig zu ihm zu beten, einfach mit ihm zu sprechen, bewusst auf ihn zu vertrauen, in den Gottesdienst zu kommen und so in sich wachsen zu lassen, was sich da geöffnet hat. Denn ohne diese Beziehungspflege kann es sein, dass manche von Ihnen im nächsten Jahr vor der selben Frage stehen: Gehe ich hin oder ist es grad so gemütlich daheim? Und dann kann es sogar sein, wenn Sie den Impuls nicht wahrnehmen und pflegen, dass Sie dann wirklich daheimbleiben – und womöglich irgendwann auch endgültig draußen bleiben aus diesem stillen Ort des inneren Friedens bei Ihm. Denn die Lautstärke draußen wird jedes Jahr größer.

 Zeiten des Umbruchs – aber Weihnachten bleibt!

Liebe Schwestern und Brüder, wir leben in Zeiten des Umbruchs. Das merken wir in der Kirche, in der Politik, in der Gesellschaft. Aber ich darf Ihnen wirklich zusagen, dass in allem Umbruch dieses als das Verlässlichste von allem bleibt: Gott ist in Jesus gekommen, um uns mit sich zu versöhnen, um uns den Frieden zu schenken – und so durch uns die Welt zu verwandeln. Und dieses Kommen, diese Zusage war endgültig – von Seiner Seite. Sein Ja zu uns bleibt! Erneuern wir heute und immer wieder unser Ja und Amen auch zu ihm, zum Kind in der Krippe, das dasselbe ist wie der Gekreuzigte, der für uns den Tod besiegt hat. Der Himmel ist wieder offen. Amen.

(Bild: Köllnberger)