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Erfüllte Zeit: Jahresschlussandacht 2015

Erfüllte Zeit: Die Predigt von Bischof Stefan Oster zur Jahresschlussandacht 2015 im Passauer Stephansdom.

Liebe Schwestern und Brüder,
der Abschnitt der eben gehörten Lesung stammt aus dem Brief des Apostels Paulus an die jungen Christen und Gemeinden in dem Land Galatien, in der heutigen Zentraltürkei. Paulus ringt offensichtlich darum, dass er diesen Gemeinden zwar das Evangelium von Jesus verkündet hat, und ganz offenbar waren die neuen Christen von Anfang an begeistert dabei. Der Brief atmet inzwischen aber eine andere Atmosphäre.

Was heißt erfüllte Zeit?

Offenbar sind nach Paulus auch andere Verkündiger in die Gemeinden eingedrungen, die eine andere Botschaft als die des Paulus verkünden. Und diese andere Botschaft hat nun eben damit zu tun, dass die Galater zu den so genannten Elementarmächten zurückkehren und neuerdings wieder ängstlich auf bestimmte Abläufe der Zeit achten, auf Tage, Monate, Jahre…

Wir wissen wenig über die Inhalte dieser anderen Verkündigung, aber für Paulus wären die Galater – wenn sie diese Lehre annehmen sollten – auf dem Weg zurück in die innere, in die geistliche Sklaverei, in den Weg zurück unter die Knute dessen, was Paulus das Gesetz nennt. Und sie entfernen sich damit aus der Freiheit, die die Begegnung mit Christus schenkt, und von der Paulus unermüdlicher und unbeugsamer Zeuge ist.

1. Was ist eigentlich die Zeit?

Liebe Schwestern, liebe Brüder, ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber Paulus spricht in diesem Text noch einmal von der Zeit, gleich am Anfang, wenn er sagt: Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen.

Offenbar gibt es also einen Unterschied zwischen einem ängstlichen Beachten von Zeiten, von zeitlichen Fristen einerseits und der erfüllten Zeit andererseits, die irgendwie im Zusammenhang mit dem Erlöser steht? Wie können wir das verstehen, und wie hängt die Erfahrung von Zeit mit unserem Glauben zusammen? Ich stelle diese Fragen, weil wir hier und heute auch einen zeitlichen Abschluss feiern und bedenken, das Ende eines Jahres. Was tun wir da? Und warum tun wir es? Warum interessieren uns zeitliche Abschnitte wie so einer?

Das mit der Zeit ist ein schwieriges Problem

Der heilige Augustinus hat einmal sehr prominent gesagt. Das mit der Zeit sei ein schwieriges Problem. Jeder weiß irgendwie, was es ist, was die Zeit ist, aber wenn man es einem anderen erklären soll, dann weiß man es auf einmal nicht mehr oder dann wird es richtig schwierig. Was ist das, die Zeit? Eine einfache Feststellung ist zunächst: Wir messen die Zeit, wir zählen sie quasi. Und wir teilen sie ein in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

Und wenn wir die Zeit als zählbar und messbar denken, wie eine Art Lineal, auf dem man Zeitpunkte markieren kann, dann stellen wir fest, dass es so etwas wie Gegenwart im Grunde gar nicht gibt. Denn in dem Augenblick, in dem ich einen Jetztpunkt zählen will, ist er im Grunde schon Vergangenheit. Und wenn wir ehrlich sind, dann beunruhigt uns das auch. Wenn wir nämlich die Zeit nur so verstehen, wenn wir sie nur zählbar und messbar verstehen, dann können wir die Gegenwart nicht feststellen, nicht festhalten, wir können nicht in der Gegenwart bleiben. Sie vergeht ja permanent.

Und wir können nichts dagegen tun, die Zeit läuft unaufhörlich, unerbittlich, gnadenlos vorwärts. Morgen ist das Neue Jahr da, ob wir wollen oder nicht. Und schon in der nächsten Sekunde, Minute, sind wir wieder eine Sekunde älter, näher dran am Tod, dem wir doch am liebsten entgehen wollen.

Der Wunsch, die Zeit anzuhalten

Wie oft würden wir uns in den schönen, tiefen Momenten unseres Lebens wünschen, wir könnten die Zeit einfach anhalten. Aber hilft nichts, sie geht unerbittlich voran. Kein Wunder also, dass Menschen aller Zeiten versucht haben, Zeit irgendwie zu manipulieren, in den Griff zu kriegen. Man hat die Zeit an den Planeten festgemacht – und das ist ja auch plausibel. Denn der Gang der Planeten unterteilt unsere äußerlich erlebte Zeit, Tag und Nacht, die Jahreszeiten und anderes mehr.

Kann man den Gang der Sonne aufhalten und so die Zeit anhalten? Kann man den Mond manipulieren und so die Zeit zum Stehen bringen? Oder kann man sie irgendwie beeinflussen? Und dadurch sich selbst? Oder kann man sich selbst so nach den Lauf der Planeten und ihren Zeitrhythmen richten, dass das eigene Leben dadurch verlängert wird? Vielleicht spricht Paulus von so einer Versuchung der Galater, wenn er sie davor warnt, zu den schwachen Elementarmächten zurückzukehren und sich ängstlich nach bestimmten Zeiten zu richten.

2. Es gibt so etwas wie existenzielle Zeiterfahrung

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wir stehen am Ende eines Jahres und denken über die Zeit nach. Ich möchte mit Ihnen eine Beobachtung teilen, die uns in die eigene Tiefe führen kann. Wir haben gesehen, dass es in einem rein physikalischen Sinn keine Gegenwart gibt, weil jeder gezählte Zeitpunkt im Moment der Zählung schon wieder vergangen ist.

Und dennoch wissen wir in einem tieferen, in einem existenziellen Sinn, dass es so etwas wie die Erfahrung von Gegenwart gibt – für uns und unsere Seele, die Erfahrung von Dauer, Erfahrung von Ganz-da-sein im Hier und Jetzt. Und im Grunde kennt jeder solche Erlebnisse, dass wir irgendwie ganz da sind, und zwar meistens deshalb, weil wir irgendwie ganz bei der Sache sind. Wir sehen einen spannenden Film und sind richtig mit hineingenommen in das Geschehen; wir haben ein sehr intensives Gespräch, sind ganz bei der Sache und beim Gesprächspartner und haben nicht das Gefühl von Vergehen der Zeit, sondern eher von Dauer, von Ganz-da-sein.

Oder wir nehmen teil an einem Spiel, am Sport und sind ganz engagiert und fragen uns erst nach dem Spiel: Wie schnell doch diese Stunde verflogen ist. Aber wir sind bei solchen und anderen Gelegenheiten ganz da. In dieser einen Stunde selbst ist Gegenwart. Und wir sind dabei echt, authentisch, in der Mitte, im Hier und Jetzt.

3. Zerrissene Zeit

Und nun, liebe Schwestern und Brüder, ist es nicht eigentlich so, dass wir uns immer wieder nach solchen Augenblicken sehnen, in denen wir selbstvergessen ganz von uns absehen, ganz bei der Sache sein können und eben dadurch auch ganz da sein können.

Sehnen wir uns nicht immer wieder nach solchen Erfahrungen von Gegenwart, von einfachem Dasein, von Hier und Jetzt? Und können das vor allem Kinder nicht viel besser als wir Erwachsene, einfach selbstvergessen und hingegeben im Spiel ganz da zu sein?

Vergangenheit und Zukunft

Und sind wir Erwachsene selbst nicht allzu oft daran gehindert, weil wir mit unseren Gefühlen und Gedanken gerade dauernd in der Vergangenheit hängen? Weil wir irgend etwas verarbeiten müssen, oder weil uns eine Verletzung nachhängt oder irgendetwas ähnliches. Oder sind wir vielleicht deshalb nicht einfach da, in der Gegenwart, weil wir dauernd innerlich ängstlich oder erwartungsvoll auf die Zukunft schauen und sie manchmal am liebsten sofort bewältigt haben wollen oder sie sofort hinter uns gebracht haben wollen, damit das, was da auf uns zukommt nicht mehr so bedrohlich wirkt?

Oder sind wir gedanklich nicht oft so in der Zukunft, dass wir zum Beispiel hoffen, dass endlich das Wochenende kommt und wir uns hier und heute nicht mehr so schinden müssen, sondern dann endlich Zeit haben für Spaß und Erholung? Und ist es dann nicht auch oftmals so, dass der Genuss des Wochenendes mit allem, was es bietet, auch nicht immer so erholsam ist, weil zur echten inneren Erholung auch die Fähigkeit gehört, einfach in der Gegenwart zu sein?

Selten im Jetzt

Oder meinen wir nicht allzu oft, erst dann zufrieden sein zu dürfen, wenn wir alles erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben? In jedem Fall aber mehr als mein Nachbar oder mein Arbeitskollege? Ist es nicht bei vielen das Streben nach mehr Anerkennung oder mehr Genuss oder mehr Sicherheit oder mehr Erfolg genau das, was uns daran hindert, einfach hier und jetzt da zu sein?

Ist es also nicht so, dass wir in den allermeisten Zuständen, die wir erleben, gerade nicht einfach da sind? Sondern eben irgendwo in Gedanken, nach hinten oder nach vorne? Oder ganz woanders, aber eben ganz selten nicht einfach hier und jetzt, da? Leben wir nicht alle viel öfter in so etwas wie in zerrissener Zeit, als wirklich in der Gegenwart?

Und wenn das so ist, warum ist das so? Warum sind wir nicht einfach da, gegenwärtig, in der Mitte? Warum zählen wir Zeit, warum schreiben wir Geschichte, auch unsere eigene, warum feiern wir morgen ein Neues Jahr, einen neuen Anfang? Und warum sind wir oft so seltsam gegenwartslos? Obwohl wir uns doch alle nach Gegenwart, nach Dauer sehnen?

4. Paulus und die erfüllte Zeit

Liebe Schwestern, liebe Brüder, Paulus macht uns mit einem eher knappen Hinweis darauf aufmerksam, dass es so etwas wie eine heile, eine erfüllte Zeit gibt. Wir haben in der Lesung gleich am Anfang gehört, dass er schreibt: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt. Damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen und damit wir die Sohnschaft erlangen.“

Ich halte diese zwei Sätze aus dem Galaterbrief für eine abgrundtiefe Zusammenfassung dessen, was Erlösung mitten in der Zeit bedeutet. Als die Zeit erfüllt war: Offenbar geht es um hier um mehr als nur um den Ablauf einer Frist. Im Markus-Evangelium sind die allerersten Worte aus dem Munde Jesu nämlich ähnlich: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“

Erfüllte Zeit ist der Anbruch von Gottes Reich

Erfüllte Zeit ist hier Anbruch des Reiches Gottes mitten in der Zeit. Mitten in der Zeit, die wir so oft als zerrissen, als gegenwartslos erfahren. Die Zeit ist erfüllt. Wir haben eben Weihnachten gefeiert. Da wird in den Texten aus dem Alten und Neuen Testament oft erzählt, dass das Volk des Alten Bundes voller Sehnsucht auf die Zeit des Messias gewartet hat, dass sie sie herbei gesehnt hat.

Eine Zeit, des Aufatmens, des Heiles, der Heilung unserer Wunden an Leib und Seele. Und das Weihnachtsereignis selbst ist das Ereignis, da die Welt ihre Erfüllung bekommt. Die Schöpfung selbst bringt in Maria den Schöpfer hervor, den, der die Zeit und ihre Wunden heilt, der Erfüllung bringt.

Erfüllte Zeit und erfüllte Leistung?

Aber wie kann man diese Erfüllung verstehen? Paulus schreibt, dass Gott seinen Sohn gesandt hat, der dem Gesetz unterstellt war, damit die freigekauft werden, die unter dem Gesetz stehen. Was meint er damit? Nun ein Aspekt, den Paulus hier sieht, ist in jedem Fall der: Der religiöse Mensch neigt dazu zu denken, erst wenn er alles gemacht hat, was gefordert wird, erst wenn er alle Gebote erfüllt, erst wenn er genug gefastet, gebetet und Almosen gegeben hat, erst dann erwirbt er sich das Recht, einfach da zu sein vor Gott. Erst dann ist er gut genug.

Und sonst ist er nie gut genug. Israel hatte das Gesetz, Israel hatte auch Gesetzeslehrer, Pharisäer und Schriftgelehrte, die das alles kannten und die sehr genau auf die Vorschriften achteten, dass sie erfüllt würden. Das Problem war aber, dass die einzelnen Vorschriften nie alle erfüllbar waren. Und so kam es, dass manche religiöse Menschen wie Paulus, vorher Saulus, sich unglaublich intensiv danach gestreckt haben, alles genau zu erfüllen, mit Eifer, peinlich genau. Aber sie haben nie das Gefühl bekommen: es ist genug, ich bin gut genug. Jetzt liebt dich Gott. Nein, erst noch das und das und das – und dann irgendwann vielleicht.

Nicht aus eigener Kraft

Und für Paulus war dann eine fundamentale Erkenntnis seines Lebens: durch die Erfüllung des Gesetzes aus eigener Kraft wird niemals ein Mensch vor Gott gerecht. Er kann sich noch so anstrengen, noch so mühen, es bleibt fast immer auch ein Versuch der Selbstrechtfertigung, ein Versuch, sich selbst recht zu machen. Es bleibt also hintergründig auch egoistisch, es bleibt sündig: Ich mache mich gut durch eigene Anstrengungen und Leistung. Ich bin so und so gut, da muss Gott mich doch mögen. Das, so sieht Paulus, funktioniert nicht.

Wenn das aber nicht funktioniert, bedeutet das, dass das Gesetz also schlecht ist? Nein, aber es führt den Menschen dauernd in die Versuchung, entweder vermessen oder verzweifelt zu werden. Vermessen, weil er meinen könnte, er verdiene aus eigener Kraft Gottes Liebe. Verzweifelt, weil er merkt, er schafft es nie aus eigener Kraft, also verdient er nie Gottes Liebe. Der Mensch, der durch Erfüllung des Gesetzes die Gerechtigkeit erlangen will, schafft es nie. Und er bleibt fortwährend in zerrissener Zeit.

Es geht nicht um Leistung, sondern um Gott

Und nun die alles erlösende, befreiende, vergebende und erneuernde Erfahrung für Paulus, die er fortan zum Zentrum seiner Verkündigung gemacht hat – und damit zum großen Apostel der jungen Christenheit wurde. Aus Saulus, dem Gesetzesbefolger, wurde Paulus, der Befreite, der Diener Christi. Warum? Paulus hat verstanden, dass der Weg Jesu – dem Gesetz unterstellt – ein Weg war, der gleichsam von innen her verdeutlicht hat, worum es im Gesetz überhaupt geht. Nie einfach um meine Leistung, sondern um Gott.

Um die Liebe zu Gott und die Sehnsucht nach Gott. Und Jesus, so sieht Paulus überdeutlich, Jesus hat für uns alle das Gesetz erfüllt, das ganze Gesetz. Jesus war ein Jude durch und durch, ein Mann seines Volkes, aber er hat deutlich gemacht – mit seinem ganzen Leben, dass kein Mensch aus sich selbst gut, gerecht, liebend, hoffend ist, sondern dass jeder Mensch Gott und seine Vergebung braucht, um neu ins Land des inneren Friedens zu finden, in das Reich, in dem Gott die erste Stelle gebührt.

Mit Jesus beginnt die erfüllte Zeit

Deshalb ist Jesus, der Gottmensch, für uns da durch gegangen, durch das ganze Gesetz und er hat es so gewissermaßen von innen her aufgesprengt und mit neuem, mit tiefstem Sinn erfüllt. Jetzt können wir uns vertrauensvoll auf ihn einlassen, jetzt müssen wir nicht mehr voller Angst und Anstrengung meinen, Gott liebt uns nur, wenn wir alle religiöse Leistung dieser Welt bringen. Jetzt verbinden wir uns innerlich mit Jesus selbst und dann sieht der Vater in uns seinen Sohn.

Und er sieht nicht mehr dauernd nur Menschen, die meinen, sich selbst gut machen zu müssen, damit der Vater sie endlich mag. Der Vater hat uns schon geliebt vor der Erschaffung der Welt. Und Jesus ist gekommen, damit wir das endlich wieder glauben.

Wir dürfen alles ihm übergeben, wir dürfen uns von ihm tragen und befreien lassen. Er führt in die Freiheit, in die Fülle der Zeit, in die Erfahrung, neu in der Gegenwart leben zu dürfen und zu können. Warum können wir das jetzt? Weil wir getragen sind, von innen und von unten her: Wer mit Jesus geht, der wächst in das Vertrauen hinein: Mir kann nichts mehr passieren.

5. Gotteskindschaft

Paulus bekräftigt diese Erfahrung mit dem zweiten Satz, den wir gehört haben: Jesus ist also gekommen, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt. Und jetzt heißt es weiter: „Damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen und damit wir die Sohnschaft erlangen“. Was sagt das: Wir können das Gesetz nicht aus eigener Kraft erfüllen, wir können nicht durch Leistung in die Gotteskindschaft gelangen.

Erfülltes Gesetz und erfüllte Zeit

Aber der, der Gottessohn, der der Gottes einziges, wahres Kind ist, hat es für uns erfüllt. Er hat das ganze Gesetz erfüllt und er hat uns die Tür in das Vaterhaus Gottes, in sein Vaterherz wieder aufgesperrt. Wir können durchgehen. Jesus ist die Tür. Wie, indem wir einfach wieder religiöse Leistungen vollbringen?! Nein, indem wir an Jesus glauben, indem wir ihm vertrauen, indem wir ihn lieben.

Er ist der Sohn und durch unsere Verbindung mit ihm, sind auch wir von neuem geliebte Kinder Gottes. Wenn wir das Vater Unser beten, dann weil es uns Jesus gelehrt hat. Er hat wie niemand zuvor auf der Welt von Gott als seinem Vater gesprochen. Er lebt in seiner inneren Welt in beständiger Beziehung mit dem Vater. Und er will, dass wir durch die Beziehung zu ihm mit hinein genommen werden in die Gotteskindschaft.

Beim Vater im Haus

Wir haben gehört, wie Paulus unterscheidet zwischen der Sklaverei und der Gotteskindschaft. Der Sohn, das Gotteskind wohnt ihm Haus, der Sklave wohnt draußen, er weiß nicht, was im Haus vorgeht und tut nichts als mehr oder weniger willig Befehle empfangen und erfüllen. Keine Beziehung von Herz zu Herz, nur Dienst nach Vorschrift.

Aber der Sohn, das Kind Gottes, darf beim Vater im Haus wohnen, es gehört zu ihm und deshalb kann es einen neuen, einen befreiten Lebensstil leben. Es braucht nicht mehr immer noch mehr, nicht noch mehr Besitz, Anerkennung, Kontrolle, Macht, Vergnügen. Das Gotteskind freut sich an dem, was es hat. Es erträgt, was in dieser Welt unvollkommen ist, aber es lebt mit Herz und Seele vor allem beim Herrn und mit ihm beim Vater.

Eine neue Freiheit

Liebe Schwestern, liebe Brüder, ist es nicht so, dass ein Mensch, der sich von unten, von innen her getragen weiß, sich viel leichter weggeben kann? Ist es nicht so, dass ein Mensch, der vom größten Reichtum des Universums schon berührt ist, nicht dauernd nach Reichtum streben muss? Ist es nicht so, dass ein Mensch, der aus dem tiefen Vertrauen lebt, ein geliebtes Kind Gottes zu sein, nicht dauernd nach Anerkennung der anderen streben und die eifersüchtig festhalten muss? Und ist es nicht so, dass die innere Sicherheit, das innere Getragen-sein das Streben nach äußerer Sicherheit relativiert?

Paulus schreibt an einer beeindruckenden Stelle des Römerbriefes: (Röm 8:35) „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?“ Und er fährt fort: „All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

6. Auch in dunklen Zeiten daheim in der Fülle der Zeit

Paulus ist daheim, Paulus lebt in dem Ort, in dem die Fülle der Zeit ist, Gegenwart. Äußere Umstände in dieser Welt sind brüchig, sind vergänglich. Unser Streben nach Mehr oder unsere Ängste vor Verlust verlieren ihren Stachel, wenn wir in dieser Weise daheim sind.

Liebe Schwestern, liebe Brüder, Paulus lebt so tief in dieser gläubigen Gewissheit, dass er auch in den dunkelsten Situationen, im Gefängnis, in Momenten der Folter, in Momenten der Verfolgung immer noch Gottes Lob singen konnte und wollte, wie wir aus seinen eigenen Erzählungen wissen.

Keine letzte Heimat in dieser Welt

Er konnte auch in solchen Situationen immer noch dankbar sein, dass unser Gott so unfassbar barmherzig ist und das in Christus für ihn erwiesen hat. Hier, hier in dieser Welt, ist keine letzte Heimat. Hier, in dieser Zeit, die wir zählen, die wir festhalten wollen, in der wir Geschichte schreiben, hier ist kein letzter Haltepunkt. Der letzte, der einzige Haltepunkt ist in Christus, er ist der Anker in der Zeit, das Zentrum der Geschichte.

Und er ist der Gott, dem Mose im brennenden Dornbusch seinen Namen geoffenbart hat. Der Name Gottes lautet: Ich bin der Ich-bin-da. Wir könnten auch übersetzen: Ich bin der Gegenwärtige. Und ich bin überzeugt, liebe Schwestern und Brüder, dass unsere eigene Fähigkeit, vertrauensvoll in der Gegenwart zu leben, im Hier und Jetzt einfach da zu sein, hingegeben zu sein, diese Fähigkeit ist zugleich die Fähigkeit, innerlich Gott zu begegnen. Er ist der Gegenwärtige, er ist da und wir sind innerlich mit ihm verbunden, in dem Maß, in dem wir einfach da sein können. In ihm ist Gegenwart. Er selbst ist ewige Gegenwart.

Gegenwart ist erfüllte Zeit

Liebe Schwestern, liebe Brüder wir leben in unruhigen Zeiten obwohl wir in unserem Land immer noch in so gesicherten Verhältnissen leben. Aber die Situation der vielen Flüchtlinge weltweit, von denen viele auch zu uns kommen, die Terroranschläge in Paris und anderswo, die Krise Europas, dazu Krankheiten, Naturkatastrophen und vieles mehr auf der ganzen Welt, lassen die Zeiten unruhig erscheinen. Und sie erscheinen umso unruhiger, je mehr der Glaube verschwindet.

Und das, meine Lieben, erleben wir alle: das Wegbrechen von gläubigen Traditionen, das Verschwinden, das allmähliche Verdunsten von wirklichen religiösen Überzeugungen, der Mangel an Menschen, die uns voller Freiheit, voller Tiefe, voller Dankbarkeit davon erzählen, dass sie den Herrn kennen, dass sie Christen sind aus tiefer gläubiger Überzeugung. Wie Paulus. Solche Menschen brauchen wir. Sie richten uns auf. Sie stärken unsere Hoffnung. An solchen Menschen sehen wir: das Evangelium ist wahr. Es gibt diese innere Heimat. Schon jetzt.

7. Hoffnungszeichen

Andererseits gibt es auch zum Ende diesen Jahres viele Hoffnungszeichen für mich und viele andere. Wir erleben die Sehnsucht vieler Menschen nach Glauben, nach Halt, nach Sinn. Und mir begegnen immer wieder Menschen, die zurückfinden in den Glauben, oder wieder tiefer hineinfinden. Wir erleben da und dort auch echte Aufbrüche, da und dort auch kleine oder größere Anfänge von Menschen, die ehrlichen Herzens wieder den Gott des Evangeliums suchen.

Wir erleben zwar auch, dass viele Suchende der Kirche, dem Christentum oft nicht mehr viel zutrauen, und deshalb woanders suchen. Aber ihre Sehnsucht darf eine Herausforderung für uns sein. Wie überzeugend sind wir innerlich daheim? Wie überzeugend können wir von dem sprechen, dem wir in seinem Wort, in der Schrift, im Sakrament begegnen? Wenn wir regelmäßig in den Gottesdienst gehen, in die Feier der Eucharistie, dann nehmen wir den Herrn so tief, so innerlich in uns auf, dass wir aus diesem Geschehen wirklich hineinwachsen können, in diese Nähe.

Der Herr macht alles neu, auch das nächste Jahr

Aber, glauben wir das tatsächlich? Haben wir schon Erfahrungen geschenkt bekommen, dass es so ist? Oder sehnen wir uns wenigstens gläubig nach solchen Erfahrungen? Liebe Schwestern, liebe Brüder, der Herr macht alles neu. Er schenkt uns morgen ein Neues Jahr, 2016. Und er lädt uns immer neu ein, unsere Herzen zu öffnen, damit er in uns alles neu machen kann, für uns und für andere. Er will, dass wir aus dem Geheimnis der Fülle der Zeit leben dürfen, als Kinder Gottes, denen nichts mehr passieren kann, egal was kommt. Egal, was die Zeit bringt.

Er will uns hinein nehmen in eine Verbundenheit mit ihm selbst und dem Vater, die dann dankbar und ohne Angst auf 2015 zurückschaut und die das kommende Jahr dankbar erwarten kann. Als ein Jahr, das uns viele Gelegenheiten schenken wird, in der Beziehung zu Ihm zu wachsen und Zeuge seiner Barmherzigkeit zu sein.

Erfüllte Zeit leben

Ich darf Ihnen allen versichern, liebe Schwestern und Brüder, unser Herr liebt jeden einzelnen von Ihnen, jeden Mann, jede Frau, jedes Kind, jeden Jugendlichen. Er liebt jeden so, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt. Wir dürfen aus dem Vertrauen leben, dass es wirklich so ist. Und wir dürfen uns in diesem Vertrauen von Christus verwandeln lassen, in Menschen, denen man das auch anmerkt, zu wem sie gehören.

Und vielleicht können wir uns ja vornehmen, dass im nächsten Jahr wenigstens ein Mensch durch uns den Herrn kennen lernen soll, auf dass auch dieser Mensch seine Barmherzigkeit erfahren und in den Ort hineinwachsen darf, in dem die Fülle der Zeit schon angebrochen ist. Das hoffe ich für Sie alle und für viele Menschen, verbunden mit dem Wunsch nach Wohlergehen für Sie und alle Ihre Lieben. Möge im Jahr 2016 der Segen über Ihnen allen walten. Amen.


Endzeit oder Spätzeit? – Die Ansprache von Bischof Stefan Oster zur Jahresschlussandacht des Vorjahres finden Sie hier.

Die Predigt zur Jahresschlussandacht 2016 finden Sie hier.