Was bedeutet Freiheit im Leben eines Christen? Welche Rolle haben Meinungsfreiheit und religiöse Freiheit in gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften? Wieso treten Christen in Ländern, in denen Repression und Verfolgung herrschen, oft entschiedener für ihren Glauben ein als Gläubige in der sogenannten westlichen Welt? Was sind zudem wichtige Themen im interkonfessionellen Dialog und was gibt schließlich Hoffnung für die Zukunft der Kirche? Über diese Fragen sprach Bischof Stefan Oster im Interview mit Heinrich Schmid-Schmidsfelden von ADF International, einer Organisation, die sich weltweit für die Religionsfreiheit und die freie Ausübung des christlichen Glaubens einsetzt.
Wir veröffentlichen das bisher in gekürzter Form erschienene Interview im Folgenden in voller Länge:
Exzellenz, ADF International, die Alliance Defending Freedom, agiert vor den Gerichten der Welt sowie durch Medienarbeit und Trainingsprogramme für junge Politiker, Journalisten und Juristen und sieht die Freiheit als gemeinsamen Nenner aller Menschenrechte, die wir zu schützen versuchen. Dazu gehören die Freiheit zu glauben, die Freiheit zu beten und öffentlich zu bekennen, die Freiheit, seine Berufung auszuleben, Kinder im Glauben zu erziehen und menschliches Leben von der Befruchtung bis zum natürlichen Tod zu schützen. Inwiefern ist diese Freiheit eine Voraussetzung für ein tugendhaftes, christliches Leben?
Ich bin überzeugt, dass es Aufgabe des Staates ist, solche Freiheit zu ermöglichen, die Sie beschreiben – damit die Menschen dann besser lernen und einüben können, in einen tieferen, existenzielleren Vollzug von Freiheit finden zu können. Nämlich in eine Freiheit, die Christen meinen: Sich in Gott getragen zu wissen – und deshalb in die Lage kommen, sich selbst zu verschenken. Und Sich-verschenken-lernen bedeutet Lieben-lernen. Die höchste Berufung von uns Christen ist es, Gott, die Menschen und sich selbst lieben zu lernen – als Antwort auf unser Geliebt-sein durch Gott.
Es wäre freilich möglich, so einen Weg auch unter Bedingungen staatlicher Unfreiheit zu finden, wir kennen dazu Beispiele von heiligen Männern und Frauen – etwa in Gefangenschaft oder in Lagerhaft. Aber es ist wohl auch deutlich weniger wahrscheinlich. Das heißt: Wenn ein Staat wirklich das Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger befördern will, dann ist es eine seiner vordringlichsten Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen und zu schützen, in denen Menschen in Freiheit Gott suchen und eine freie Antwort auf die Liebe Gottes geben können.
Bei ADF International setzen wir uns entschieden für das Leben ein – sowohl am Anfang als auch am Ende. Warum betrachten Sie sowohl das ungeborene Leben als auch das Leben am Lebensende als schützenswert? Sehen Sie Möglichkeiten, die Wahrheit über die Würde jedes Lebens in der säkularen Welt zu verbreiten und auch dort fruchtbaren Boden zu finden?
Ja, sehe ich, denn die Argumente für den Schutz ungeborener Kinder müssen nicht einmal religiös sein, sondern sind von wissenschaftlichen Erkenntnissen gedeckt: Sobald Samen- und Eizelle verschmolzen sind, beginnt ein selbständiger Mensch heranzuwachsen. Und aus meiner Sicht ist jeder Versuch, nach dieser Verschmelzung zu sagen, ab wann ein Embryo ein Mensch wird, mehr oder weniger willkürlich. Denn der Embryo ist in jedem Fall und immer selbständig wachsendes, menschliches Leben. Das heißt: Eigentlich gibt es keinen mit Sicherheit feststellbaren Übergang von „etwas“ zu „jemand“ – so als wäre ein Embryo im frühen Stadium noch „etwas“, der dann erst zu „jemand“ mutiert.
Und wenn wir diesen Übergang nicht eindeutig bestimmen können, müssen wir den Embryo immer schon als „jemand“ bezeichnen und behandeln. Abtreibung ist folglich gewaltsame Tötung von „jemandem“, von einem selbständig wachsenden menschlichen Leben. Ich sehe nicht, wie das ernsthaft bestritten werden könnte. Oder anders formuliert: Jeder lebende Mensch hat einen konkreten, geschichtlichen Anfang in dieser Welt – und ich sehe nicht, wie man auf die Frage: „Wann hast Du angefangen als selbständiges, menschliches Wesen zu existieren?“, einen anderen Zeitpunkt wählen könnte als die Verschmelzung von Samen- und Eizelle im Mutterleib.
In einer zunehmend pluralistischen und säkularen Gesellschaft ecken Vertreter religiöser Minderheitspositionen, insbesondere zu Glaubens- und gesellschaftlichen Themen, oft an. Wie gehen Sie persönlich damit um, wenn Ihre Positionen oder Überzeugungen auf Widerstand oder Unverständnis stoßen? Welche Strategien und inneren Überzeugungen helfen Ihnen, auch in solchen Situationen standhaft zu bleiben und den Dialog aufrechtzuerhalten?
Zunächst versuche ich auch diejenigen wirklich zu achten, die anders denken als ich selbst. Und wenn es um seriöse Argumente geht und nicht einfach um böse Polemik, dann will ich auch versuchen, zu hören und zu verstehen. Und hoffentlich auch zu lernen. Auch die anderen, jeder und jede, sind Geschöpfe Gottes. Und weil Gott sie mit derselben Liebe liebt, wie mich, will ich ihn bitten, mir zu helfen sie mindestens zu achten, weil ich aus mir selbst ohnehin nur schwer die Kraft aufbringen könnte, sie zu lieben – so wie Jesus in der Schrift fordert: die Feinde lieben! Außerdem versuche ich solche Dinge mit ins Gebet zu nehmen und dem Herrn hinzulegen und ich bitte ihn, mir darin inneren Frieden zu bewahren. Und ich spüre, wie er mir dazu auch immer wieder hilft.
In westlichen Gesellschaften erleben wir eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben, die sich in den hohen Zahlen an Kirchenaustritten widerspiegelt. Währenddessen setzen sich Organisationen wie ADF International unermüdlich für Geistliche wie Bischof Rolando Álvarez in Nicaragua und Missionare und Laien in Ländern wie der Türkei oder Nigeria ein, die allein durch das Ausleben ihres Glaubens und ihrer Berufung in Lebensgefahr geraten. Wie erklären Sie diesen Kontrast zwischen einem lauwarmen Christentum im Westen und der mutigen Standhaftigkeit von Christen, die unter Verfolgung leiden? Was können wir von ihnen lernen?
Eine liberale Konsumgesellschaft wie unsere ist – nach den Worten von Papst Johannes Paul II. – womöglich sogar ein größerer Feind für den Glauben als z.B. eine Diktatur. Dieser Papst hatte die Nazis und die Kommunisten erlebt – und er sagte: Da weiß man ziemlich genau, wer der Gegner ist. Aber wissen wir es in einer reichen Gesellschaft wie der unseren, wo sehr viele Menschen ganz große Wahl- und Konsummöglichkeiten haben? Und wo wir wie von selbst, oft schleichend und unbewusst, dahin geführt werden, ganz viel für unser Wohlstandslevel zu investieren – weil die Sehnsucht nach dem, was der Wohlstand vermeintlich bietet, zumindest vordergründig leicht verwechselbar ist mit der Freude und dem Frieden, den Christus schenken will.
Denn es mir „gut geht“, wovon und wozu sollte ich dann noch erlöst werden wollen? Zudem: Wir leben in einer Zeit, in der „elektronisches Entertainment“ und „digitale Bedürfnisbefriedigung“ unfassbare Ausmaße angenommen haben. Wenn Sehnsucht und Neu-Gier nach immer noch mehr Neuem ständig dominieren, womöglich ebenfalls unbewusst, weil ich ständig darin abgelenkt bin – wie sollen da Fragen nach größerer Tiefe noch aufkommen? Außer vielleicht durch dramatische Unterbrechungen wie zum Beispiel Leiderfahrungen?
Meinungsfreiheit ist ein zentrales Gut in einer demokratischen Gesellschaft. Wie beurteilen Sie den aktuellen Diskurs über Meinungsfreiheit, insbesondere im Hinblick auf religiöse Überzeugungen? Und wie stehen Sie zu der zunehmenden Sorge innerhalb des Klerus, der oft unsicher ist, ob er grundlegende christliche Wahrheiten von der Kanzel verkünden darf, ohne gesellschaftliche oder rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen?
Das ist eine komplexe Frage: Wir sehen bisweilen eine Cancel-Culture eher von links – und nun sehen wir zugleich eine Art libertäre politische Kultur eher von rechts wachsen – wenn wir in die westlichen Länder schauen. Die Polarisierungen wachsen. Ich halte daher viel davon, von einem Streben nach mehr Ganzheit zu sprechen. Gott will uns mehr „ganz“ machen, mehr integriert, mehr heil – und damit auch heilig. Ein heiliges Leben macht zugleich den Kontrast deutlich, was weniger heilig ist – und so lässt sich dann auch wenigstens indirekt zeigen, wie wir den Menschen sehen. Und wie Gott uns will. Allerdings sehe ich auch Situationen, in denen das klare Zeugnis in Worten gefragt ist; freilich: wo immer möglich, ist es wichtig, solch eine Klarheit in der inneren Haltung der Achtung und Liebe vorzutragen.
Wie sehen Sie die Zukunft des interkonfessionellen Dialogs zu zentralen christlichen Themen (z.B. Berufung zu Ehe und Familie, Würde des Menschen, Lebensschutz, Mann-und-Frau-sein)? Welche Rolle könnten diese Gespräche in der gesellschaftlichen Gestaltung spielen, und wie könnte eine stärkere Zusammenarbeit der verschiedenen christlichen Kirchen diese Positionen des Christentums in Europa stärken?
Es gibt in allen Konfessionen Christen, die sich ehrlich an der Schrift orientieren wollen, ohne vor allem in den anthropologischen Fragen allzu schnell den Strömungen der Zeit nachzugeben. Bei solchen sehe ich auch den Wunsch nach stärkerem Miteinander. Ich erlebe sogar, dass manche, für die die katholische Kirche noch vor nicht allzu langer Zeit eher ein Gegner war, nun ein echtes Interesse daran haben, dass auch wir Katholiken in solchen konkreten Fragen treu bleiben.
Sie spüren, dass sie uns auf diesem Weg „brauchen“ oder auch, dass wir einander „brauchen“. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir alsbald wieder eine Wende erleben: Nach vielen Irrungen und Verwirrungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten werden hoffentlich wieder viele Menschen entdecken, dass bei uns auch der Reichtum tiefer Wahrheiten über das Menschsein zu finden ist. Und zudem: Ich will auch gar nicht sagen, dass die vielen großen anthropologischen Fragen und auch die echten oder vermeintlichen Irrwege, die wir erleben, uns nicht auch weiterhelfen können im besseren Verstehen, wer wir selbst sind. Es gibt ja letztlich auch keine Lüge, die nicht Verdrehung von Wahrheit wäre. Und die uns helfen kann, der Wahrheit besser auf die Spur zu kommen.
Letztes Jahr feierten Sie Ihr 10-jähriges Jubiläum als Bischof von Passau – wenn Sie an die nächsten zehn Jahre denken, was gibt Ihnen persönlich Hoffnung für die Zukunft der Kirche, insbesondere in Bayern? Welche Entwicklungen und Veränderungen erwarten oder erhoffen Sie sich, sowohl für Ihr Bistum, als auch die Christen in Deutschland und die Gesellschaft in unserer Region?
Ich mühe mich um diese drei Punkte: Das viele Gute, was da ist, gut pflegen und stützen. Das, was sich überlebt hat, sterben lassen. Zugleich neue Impulse setzen, kleine Initiativen beginnen, durch die sich Menschen wieder neu und frisch vom Kern des Evangeliums berühren lassen können: Vom lebendigen Christus.
Die strukturellen Schieflagen, in die wir uns in den letzten Jahrzehnten hineinbegeben haben, sind aus meiner Sicht ziemlich dramatisch. Wir haben eine riesige Struktur von hunderttausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in all unseren kirchlichen Werken. Und diese Zahl wird weiter wachsen, weil der Staat den Kirchen als Träger vor allem sozialer Werke immer noch viel zutraut. Zugleich sind diese vielen Menschen dem sakramentalen Leben aber zumeist entfremdet – und haben immer weniger mit dem konkreten Glauben zu tun, den die Kirche lebt und verkündet.
Und umgekehrt: Ziemlich wenige Menschen, höchstens fünf Prozent der noch eingetragenen Katholiken, leben aus den Sakramenten. Und wenn Sie sich deren Altersschnitt anschauen, werden diese zahlenmäßig weiter abnehmen und womöglich auch schnell abnehmen. Aber wohin dieses Ungleichgewicht strukturell führt, mag ich mir noch nicht ausdenken. In jedem Fall denke ich aber, dass wir im größten Umbruchsprozess von Kirche seit Jahrhunderten stecken.
Und umso wichtiger ist es, sich wirklich darum zu bemühen, als Jüngerinnen und Jünger Christi zu leben, um andere in diese Gegenwart einladen zu können, in die Begegnung mit dem Herrn, die letztlich der Weg ist, der rettet und in die Freude führt. Ich darf übrigens auch erleben, dass das immer wieder gelingt – nicht mehr in riesigen Zahlen, aber eben tatsächlich immer wieder. Und das ist der Grund meiner Hoffnung. An solchen Menschen und ihrem neuen Leben, ihrer neuen Sinnerfahrung und neuer Freude kann man ablesen: Das Evangelium ist wirklich wahr.