Lernen an Gefangenen – wie Don Bosco seine Berufung fand. Das Grußwort von Bischof Stefan Oster an der Abschlussveranstaltung der Bayerischen Justizvollzugsakademie der Anwärterinnen und Anwärter der zweiten Qualifikationsebene der Fachlaufbahn Justiz, fachliche Schwerpunkte allgemeiner Vollzugsdienst und Werkdienst am 18. Juli 2025 im Herzogschloss in Straubing.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Fest- und Ehrengäste,
herzlich danke ich Ihnen für die Einladung und die Gelegenheit bei dieser Feier ein kurzes Grußwort zu sprechen. Und ganz herzlich möchte ich den jungen Beamtinnen und Beamten gratulieren, die diesen Ausbildungsabschnitt erfolgreich absolviert haben.
Vielleicht hat der eine oder die andere von Ihnen schon einmal den Namen Don Bosco gehört. Er ist eine der großen Heiligengestalten des 19. Jahrhunderts und Gründer der heute zweitgrößten Ordensgemeinschaft der Katholischen Kirche; die Gemeinschaft heißt die Salesianer Don Boscos. Ich bin selbst Mitglied dieses Ordens. Don Bosco lebte in Turin zwischen 1841 und 1888, also knapp 50 Jahre lang. Es war die Zeit der beschleunigten Industrialisierung, die unter anderem dazu geführt hatte, dass viele Jugendliche der ärmlichen und von Hungersnöten geplagten Landbevölkerung in die Großstadt nach Turin gingen. Dort wurden sie in den neu entstehenden Großbetrieben angeheuert, ausgebeutet und wieder gefeuert und viele von ihnen fanden sich auf der Straße wieder und begannen nahezu zwangsläufig eine kriminelle Karriere.
Als frisch geweihter Priester ließ sich Don Bosco anleiten von einem weiteren Geistlichen namens Don Cafasso, der später ebenfalls heiliggesprochen wurde und sich unter anderem bereits einen Namen als Gefängnisseelsorger gemacht hatte. In den fünf Turiner Gefängnissen begleitete Cafasso die Gefangenen oft bis zum Vollzug ihrer Todesstrafe, was ihm auch den Namen Galgenpriester eingebracht hatte. Bei ihm lernte Don Bosco die abgründigen Zustände in den Turiner Gefängnissen kennen, insbesondere in der berüchtigten Generala in Turin.
Jugendliche lagen in Ketten, eingepfercht zusammen mit Schwerverbrechern. Die hygienischen Zustände waren grauenhaft, es herrschte Gewalt. Der Gesellschaft und den Behörden waren die Menschen in den Gefängnissen egal. Für die Jugendlichen dort gab es im Grunde keine Perspektive, keine Bildung, keinerlei Fürsorge. In Don Bosco reifte durch diese Erfahrungen die Überzeugung, dass er sein Leben dafür einsetzen würde, bei den Jugendlichen dafür zu sorgen, dass es erst gar nicht so weit kommen sollte, dass sie im Gefängnis landen. Er fand seine Berufung darin, ein großer Pädagoge für die verarmte Jugend der Stadt zu werden. Den Jugendlichen Würde und Perspektive zu geben, familiäre Heimat, Bildung und Ausbildung zu ermöglichen.
Alles das entwickelte Don Bosco – aus der Erfahrung der Begegnung in den Gefängnissen und auf den Straßen Turins. Wir haben zum Beispiel so etwas wie die ersten Lehrverträge in den Turiner Unternehmen mit der Unterschrift Don Boscos. Er brachte einen Jugendlichen dorthin, versprach dass der Junge verlässlich kommen und arbeiten würde und rang den Unternehmensverantwortlichen die Zusage ab, dass sie ihn anständig behandeln, anlernen und auch bezahlen würden. Präventivmethode nannte er seinen Weg: Im Voraus verhindern, dass junge Menschen in den Gefängnissen landen. Oder aber: Auch – das wissen wir von ihm – sich um die Gefangenen sorgen, sie besuchen, ihnen Perspektive eröffnen für die Zeit nach dem Strafvollzug.
„Es gibt keinen jungen Menschen, bei dem im Kern nicht doch noch etwas Gutes zu finden wäre.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von Don Bosco haben wir zum Beispiel den Satz gelernt: Es gibt keinen jungen Menschen, und scheint er vielleicht noch so verkommen, bei dem im Kern nicht doch noch etwas Gutes zu finden wäre. Und wo er dann auch zugänglich und berührbar sein könnte für eine positive Veränderung. Wir Salesianer erzählen uns eine rührende Begegnung Don Boscos mit einem jungen Kerl in einer Turiner Sakristei im Winter. Es war ganz am Anfang seines Wirkens. Don Bosco bereitete sich gerade auf die Feier des Gottesdienstes vor. Der Junge hatte vermutlich schlicht deshalb in der Sakristei Schutz gesucht, weil es dort warm war und nicht deshalb, weil er ministrieren konnte oder wollte.
Der Mesner vermutete einen Kriminellen, er fuhr in an und jagte ihn davon. Als Don Bosco das bemerkte, ließ er ihn zurückrufen und sagte dem Jungen, er möge auf ihn warten bis nach der Messe. Dann kamen sie ins Gespräch. Don Bosco fragt nach seinen Namen und wo sein Vater sei. Antwort: tot. Und seine Mutter? Tot. Ob er lesen und schreiben könne? Nein. Ob er die Gebete könne, Vater Unser und so? Nein? Ob er vom Glauben etwas wisse? Nein. Ob er pfeifen könne? Pfeifen konnte er. Und wie. Und er ließ es Don Bosco hören. Don Bosco hatte den Punkt gefunden, an dem der Junge berührbar war und sich öffnen und zeigen konnte – trotz seiner deprimierenden Lage. Und Don Bosco sprach mit ihm noch eine Weile und lud ihn ein wieder zu kommen, und seine Freunde mitzubringen.
„Don Bosco hatte den Punkt gefunden, an dem der Junge berührbar war und sich öffnen und zeigen konnte.“
Diese Geschichte erzählt den Beginn eines Werkes, das sich heute, über 150 Jahre später auf 130 Länder der Erde erstreckt. Die Salesianer Don Boscos – mit mehr als 13 000 Ordensmitgliedern und Hunderttausenden Männern, Frauen und Jugendlichen, die mit ihnen arbeiten. Und überall sorgen sie sich darum, dass das Leben junger Menschen gelingt. Dass junge Menschen – auch in schwierigen Umständen – ihre Würde entdecken können, dass sie etwas wert sind, dass in ihnen Potential steckt, das sie entfalten können; dass auch sie befähigt sind zur Gemeinschaft. Und alles das selbst dann, wenn sie vermeintlich am Boden liegen oder niemanden haben. Denn wir leben aus der Überzeugung, dass die Würde jedes Menschen – so wie es in unserem Grundgesetz heißt – unantastbar ist. Als Christen begründen wir diese Würde jedes Menschen damit, dass der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, all denen unter Ihnen, die mit Menschen zu tun haben, die eine Strafe abbüßen müssen, danke ich von Herzen, dass Sie sich auch unter oft schwierigen Bedingungen immer wieder daran erinnern, dass die Würde unterschiedslos jedem Menschen zukommt und uns zur Achtung verpflichtet. Noch einmal gratuliere ich den Absolventinnen und Absolventen und danke Ihnen für die Einladung zu diesem Festakt. Und für die Gelegenheit an einen Mann zu erinnern, der seine großartige Lebensberufung in besonderer Weise aus der Begegnung mit gefangenen jungen Menschen gefunden hat.
Hören Sie auch die Predigt über den Landauer Stadtpfarrer Johann Baptist Huber: Mutig bis in den Tod