Bild: Stefanie Hintermayr

Vom Tod zum Leben – Wie die Trauer Jesu Heil bewirken kann

Am 16. November fand im Spectrum Kirche die Andacht zum Gebetstag für Betroffene und mit Betroffene von sexuellen Missbrauch statt.

Die Predigt von Bischof Stefan Oster hier zum Nachlesen:

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

zunächst möchte ich Ihnen, Veronika*, ausdrücklich danken für Ihre so tiefgehende, persönliche Betrachtung der Lazarus-Erzählung und ihre einfühlsamen Bezüge, die sich von dort auch für Menschen finden lassen, die von Missbrauch betroffen sind. Es fällt mir nicht leicht, dem noch etwas hinzuzufügen – und es nicht vielmehr einfach stehen und in Stille noch weiter nachwirken zu lassen. Nun ist aber an dieser Stelle ein Predigtwort des Bischofs vorgesehen und ich will versuchen, in aller Behutsamkeit einfach und kurz Gedanken dazuzulegen.

Das Evangelium macht deutlich, dass es Jesus anrührt, wie sehr die Schwestern Marta und Maria unter dem Tod ihres Bruders Lazarus leiden. Und er lässt sich von diesem Leid und dieser Trauer bewegen. Wir lesen hier, so deutlich wie fast nirgendwo sonst in den Evangelien, von einem weinenden Jesus, der wie es heißt, „im Innersten erregt und erschüttert“ (Joh 11,33) ist.  Aus dieser Erschütterung über die Trauer der Menschen und den Tod des Freundes heraus wirkt er das Wunder, bringt vom Tod ins Leben zurück.

Freilich ist es für Lazarus ein Zurück in dieses Leben konkreter Geschichte. Und freilich wird auch Lazarus noch einmal den biologischen Tod dieses Lebens sterben. Aber Jesus macht mit diesem letzten großen Zeichen seines irdischen Weges deutlich, dass er – wie er zuvor im Dialog mit Marta sagte – selbst „die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25) ist. Das heißt, in seiner Person ist ein Leben da, ein neues Leben, das nie mehr aufhört. Ein Licht, das von keiner Dunkelheit überwältigt werden kann.

Und die Uraufgabe unserer Kirche ist es, Menschen zu helfen, in die Begegnung mit Jesus zu finden – und damit zu vertrauen, dass es möglich ist, sich von diesem neuen Leben schon hier und heute tragen zu lassen. Die Kirche ist Künderin der Gegenwart des erneuerten Lebens. Und genau hierin liegt nun die große Tragödie: Menschen der Kirche und ja, auch Strukturen der Kirche haben dazu beigetragen, dass dieses Lebenslicht verdunkelt ist; oder noch schlimmer, dass die bloße, fassadenhafte Rede über dieses neue Leben für manche Menschen zu einer Art tödlichen Falle wurde; weil sie benutzt wurde, um unter dem Schein des Guten anderem das Böse anzutun.

Umso wundersamer ist es, dass unter uns Betroffene sind, wie auch Veronika*, die sich trotz ihres Leidens in der Kirche und an der Kirche nicht davon haben abhalten lassen, immer noch mitten in dieser Kirche das Heil zu suchen. Ich danke Ihnen sehr, liebe Veronika* und allen, die auch mit Ihnen auf diesem Weg sind. Sie helfen uns allen, genauer hinzuschauen, eigene blinde Flecken zu entdecken. Sie helfen uns allen, das eigene Herz uns erweitern und anrühren zu lassen, von dem was in dieser Kirche auch geschehen konnte.

Und Sie sind eine Zeugin des „trotz allem“: Trotz allem hören Sie nicht auf zu glauben, dass mitten in dieser Kirche, die Teil des großen Problems ist, zugleich auf einer tieferen Ebene auch ein Weg der Lösung bereit liegt. Nicht von uns selbst, nicht zuerst durch unsere Bemühungen. Sondern durch das unverbrüchliche Ja, des Herrn zu uns allen und zu seiner Kirche – trotz allem. Und durch Ihr Vertrauen, dass sich der Herr selbst auch nach wie vor von Leid und Trauer seiner Geschöpfe erschüttern lässt. Und dass er hört und behutsam Neues wachsen lässt, mehr Heil und mehr Frieden. Das Leid, das er selbst ertragen hat, hat er für alle Leidenden ertragen, damit sie Hoffnung haben.

Und er hat es auch für alle ertragen, deren Herz verstockt ist. Denn an einer anderen Stelle, im Markusevangelium (Mk 3,1ff), lesen wir von einer weiteren Erschütterung Jesu: Er ist am Sabbath im Tempel und will einen Kranken heilen. Von den anwesenden Pharisäern heißt es, sie würden achtgeben, ob er auch am Sabbath heilt, denn sie suchten einen Grund der Anklage gegen ihn. Und die Reaktion Jesu: Er sieht sie an, „voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz“.

Und so wie Gott über seine Propheten im Alten Bund fortwährend über das verstockte Herz des Gottesvolkes klagt, so geht es ihm sicher immer wieder auch mit uns, die wir uns heute ebenfalls zum Gottesvolk zählen dürfen. Verstockte Herzen im Blick auf Gott und im Blick auf das Leid von Menschen sind Phänomene jeder Zeit, sie sind nämlich das Grundproblem schlechthin unseres erlösungsbedürftigen Menschseins.

Und ich bete und bitte, dass uns der Herr durch diese heutige Gebetsandacht, durch unser Miteinander, aber auch durch die Erkenntnisse der Studie, die wir erwarten, immer wieder vor allem diese Lektion lehrt: Dass wir selber Trauer und Erschütterung wirklich lernen. Und zwar so, dass sie nicht nur Lippenbekenntnisse werden, oder auch wieder nur Fassade bleiben, sondern dass erneuerte Herzen auch in Wege der Erneuerung münden können. In erneuerte Wege vor allem auch für und mit den vielen, die oft so dramatisch verwundet worden sind. Herr, erbarme dich unser.

*Um die Anonymität der betroffenen Person zu wahren, wurde der Name durch Veronika ersetzt.