Freiheit und Freigabe – Ferdinand Ulrich als Lehrer der Gabe und als Lehrer, der lebt, was er lehrt. Der Vortrag von Bischof Stefan Oster auf der Ferdinand Ulrich Tagung in Passau.
Von 12.09. – 14.09.2025 fand in Passau die erste Ferdinand Ulrich Tagung statt. Der vollständige Vortrag von Bischof Stefan Oster hier zum Nachlesen:
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
es war im Jahr 1988, ich war 23 Jahre alt und wollte den Sinn des Lebens herausfinden. Denn zunächst, nach dem Abitur ein paar Jahre davor, hatte ich Journalismus gelernt und für Zeitung und Hörfunk gearbeitet. Aber ziemlich schnell ist mir deutlich geworden, wie sehr dieses Geschäft und darin auch ich selbst von Eitelkeit bestimmt wurde. Und ich dachte: „Das kann es doch nicht sein, für was Du lebst.“ Ich habe also 1988 mein Medienleben unterbrochen und begonnen, in Regensburg Philosophie zu studieren. Dort gab es einen eigenartigen, schon etwas älter wirkenden Professor namens Ferdinand Ulrich. Er war anders als die anderen Philosophielehrerinnen und -lehrer, die auch dort lehrten – er war ganz anders. Es waren Seminarveranstaltungen, Proseminare und Hauptseminare, die Ulrich angeboten hatte. Und diese begannen damit, dass ein Teilnehmer ein Referat vorbereitet hatte zu einem philosophischen Text oder Thema, das der Professor zuvor vorgeschlagen hatte.
Nach wenigen Sätzen unterbrach ihn Ulrich, weil ihm etwas ganz Wichtiges eingefallen war. Und nicht selten sprach er über diesen Einfall dann bis zum Ende der Doppelstunde. Ich habe nicht schlecht gestaunt, war fasziniert, habe aber ziemlich wenig bis gar nichts verstanden. Ich bin dann bald mal in die Bibliothek gegangen und habe versucht zu finden, was Ulrich geschrieben hat. Ein großes, dickes Buch hieß: „Homo abyssus. Das Wagnis der Seinsfrage“. Ich habe es aufgeschlagen und versucht im Inhaltsverzeichnis nachzuvollziehen, um was es geht. Und ich konnte nichts, gar nichts finden, was mir irgendwie einleuchtend gewesen wäre. Es schien mir komplett wie eine Art Philosophenchinesisch. Trotzdem bin ich weiter hingegangen, um diesen eigenartigen, mir so weise erscheinenden Menschen weiter zu hören. Nach und nach dämmerte mir manches, es wurde ein wenig heller in meinem Kopf. Ich habe gemerkt, dass es irgendwie darum ging, zu lernen, mehr zu sein als zum Beispiel zu funktionieren.
Und irgendwie sprach Ulrich immer wieder vom Sein und vom Wesen. Und ich weiß noch wie heute, dass einmal in mir eine Frage aufkam, die lautete ungefähr so: „Wenn Sie immer vom Sein und vom Wesen sprechen: Was ist denn der Unterschied zwischen beiden?“ Tatsächlich habe ich die Frage damals nicht gestellt. Ich war viel zu eingeschüchtert von diesem so sprachmächtigen Mann. Und die anderen Studenten schienen so viel mehr zu kapieren und ich hatte Angst mich mit so einer dummen Frage völlig zu blamieren. Viel später habe ich dann aber festgestellt, dass genau diese Frage in den Kern seines Denkens gehört, und mir damals eine erste Antwort darauf sehr hilfreich hätte sein können. Es ging also um die sehr alte philosophische Frage der Differenz von Sein und Wesen, oder von Dasein und Etwas-sein. Und Ulrich hatte diese Frage, auch im Gespräch mit Martin Heidegger, als so genannte ontologische Differenz noch weiter vertieft und auf den Unterschied zwischen dem Sein und dem einzelnen Seienden ausgeweitet. Und noch entscheidender wird bei Ulrich dann deutlich, dass zur Deutung dieser Differenz auch die personale Differenz zwischen Personen, die Differenz von Ich und Du wichtig ist und sogar noch mehr: auch die Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Du. Es gibt also auch eine dialogische Differenz und mehr und mehr wurde mir deutlich, dass die in der Philosophie thematisierte ontologische Differenz letztlich am tiefsten deutbar und verstehbar ist als eingefasst in die dialogische, also personal zu verstehende Differenz zwischen Gott und seiner Schöpfung.
1. Das geschaffene Sein als Liebe
Das klingt jetzt für viele von Ihnen vermutlich überaus abstrakt – und irgendwie ist es das auch. Aber zugleich – je länger man sich damit befasst – wird einem deutlich, dass es bei Ulrich mitten in diesem abstrakten Denken und Fragen zugleich immer um das Allerkonkreteste geht. Der große Dichter Friedrich Hölderlin hat einmal gesagt: „Wer das Tiefste gedacht hat, liebt das Lebendigste“. Das gilt für Ulrich besonders und ich möchte das erläutern, indem ich das Wort „Sein“ einen Moment durch das Wort „Leben“ ersetze. Denn, so sagt Thomas von Aquin, das Leben ist das Sein aller lebendigen Wesen. Also: Sein „tut“ alles, was es gibt. Alles ist. Jeder Stein, das Wasser, die Luft, jedes Ding. Leben aber haben nur die lebendigen Wesen.
Deswegen: Das Leben ist das Sein der lebendigen Wesen. Wir sind, ich bin, genauso wie der Stein auch ist. Der Stein hat Sein und ich habe es auch. Aber der Stein hat kein Leben, daher ist also das spezifische Sein der lebendigen Wesen, das Leben. Und jetzt weiter: Ein Grashalm und ein Regenwurm haben auch Leben. Und wir ahnen, dass wir in einem bestimmten Sinn dasselbe Leben meinen, das der Grashalm hat und das ich auch habe. Also zum Beispiel sind lebendige Wesen Organismen, in denen es Prozesse gibt wie Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung und anderes. Und wenn diese Prozesse aufhören, dann hört auch der Organismus auf zu leben, also zu sein. Er stirbt und wird etwas Anderes, zum Beispiel bloße Materie. Also: Wir alle haben mit allem, was existiert, Anteil am Sein. Und mit allen lebendigen Wesen Anteil am Lebendig-sein. Und wenn ich nun sage: Wir haben Anteil am Sein und am Lebendig-sein – dann wird zugleich auch deutlich: Ich bin nicht das Leben und der Grashalm ist es auch nicht. Vielmehr gilt: Er hat Leben. Er hat Anteil am Leben. Und der Stein ist nicht das Sein, er hat Anteil am Sein. Und ich habe es auch.
Ferdinand Ulrich kommt in seinem Denken nun stark von Thomas von Aquin her, der sagt, Gott selbst ist Leben, Gott ist sein Sein, Gott ist die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten. Und alles andere, was existiert, verdanktseine Existenz, also sein Sein oder sein Leben und hat es nicht aus sich selbst, sondern hat es empfangen. Jeder und jede von uns hat sich seine Existenz und sein Leben nicht selbst gegeben. Aber wenn ich es nicht aus mir selbst habe, dann ist es notwendig empfangen. Allein Gott ist Sein schlechthin. Allein Gott ist Leben schlechthin. Das heißt aber auch: Gott ist kein einzelnes Seiendes neben anderen Seienden, sondern Gott ist Sein. Thomas nennt das „ipsum esse subsistens“. Wir sind Seiende, alles Geschaffene ist ein Seiendes. Aber Gott ist Sein schlechthin.
Und Ferdinand Ulrichs große Frage ist nun: Wie kann man philosophisch nachvollziehen, dass alles Sein und damit auch alles Leben ursprünglich eine Gabe ist. Und zwar geschaffene und geschenkte Gabe des göttlichen Gebers, der ursprünglich in der Heiligen Schrift als der geschildert wird, der alles, was er geschaffen hat, gut geschaffen hat. Sie merken schon, hier denkt nun ein gläubiger Philosoph, der seine Voraussetzungen auch offenlegt. Er denkt vor allem im Anschluss an Thomas von Aquin konsequent alles geschaffene Leben, alles geschaffene Sein als Liebesgabe aus den Händen eines liebenden Gebers. Geschaffenes Sein als Gabe, geschaffenes Sein als Liebe.
Diese knappe Einleitung wird im Lauf der nächsten Tage sicher noch tiefer und detaillierter auch philosophisch fachlich erläutert. Ich habe sie angerissen, um im Folgenden zu zeigen, was mir an Lebenserkenntnis durch die Begegnung mit Ferdinand Ulrich wesentlich geworden ist. Ein ganz Wesentliches ist dieses: Das geschaffene, verschenkte Sein wie auch das geschaffene, geschenkte Leben gibt es nicht als einzelnes, quasi in sich selbst stehendes Sein. Es ist vielmehr radikal verschenkt an alles das, was gleichsam schöpferisch aus ihm selbst hervorgeht, was aber zugleich ganz unterschieden ist vom geschaffenen Sein selbst. Wir brauchen wieder ein Bild, wenn auch ein unzureichendes: Nehmen Sie als Beispiel ein Orchester, das sich Mozart-Orchester nennt und dessen Existenz darin besteht, dass es Mozart-Musik spielt. Es empfängt gleichsam alle Noten dieser Mozart-Musik auf Papier. Aber nur auf Papier ist diese Musik gleichsam „nichts“, es sei denn, sie transformiert sich in lebendige, gespielte Musik des Orchesters. Das Orchester kommt als Mozart-Orchester zum Leben, zu sich selbst, indem es das empfängt, die Noten auf Papier, was es dann selbst schöpferisch hervorbringt. Es wird Mozart-Musik, Mozart-Orcheser. Und jeder Musiker des Orchesters bringt es je nach Fähigkeit, Charakter und Instrument auf seine je eigene Weise hervor, jeder spielt seinen Part im Ganzen.
Analog erläutert Ulrich das geschaffene, verschenkte Sein, das als Gabe nicht in sich es selbst bleibt, sondern die geschaffenen Dinge aus sich hervorgehen lässt – und sich ihnen zugleich zu schenken. Und zwar so, als hätte jedes Geschaffene gewissermaßen einen Auftrag empfangen, der da lautet: Sei! Und für den Menschen: Sei und werde immer mehr du selbst. Das geschaffene Sein, sagt Ulrich, ist reine Liebe, reine Gabe, die nichts an sich und für sich zurückhält. Und es wird damit vielleicht auch deutlich, dass es so wichtig ist, das geschaffene Sein nicht als einen abstrakten Begriff zu verstehen und schon gar nicht als ein in sich selbst stehendes Ding, wie eine Art Gegenstand, wie eine Art Super-Seiendes zwischen Gott und der Schöpfung, sondern vielmehr wie ein Verb oder wie wir als Kinder gelernt haben, wie ein Tunwort. Sein ist Vollzug. Und dieser Vollzug ist Gabe-sein, eine Gabe, die nichts für sich zurückhält: Damit die Dinge sind, damit wir sind, damit ich bin und zugleich werde, weil wir ja in einer zeitlichen, geschichtlichen Welt leben, einer Welt, die immer im Werden ist.
2. Der Mensch und das Sein: Erkennen und Lieben
In dieser, unserer sichtbaren, der Zeit unterworfenen Welt kommt das geschaffene, das verschenkte Sein am tiefsten im Menschen in sein Ziel. Oder vielleicht besser gesagt: Im Menschen kann am deutlichsten werden, was gemeint ist, wenn Thomas von Aquin zwei Dinge sagt, auf die sich Ulrich immer wieder beruft: Das geschaffene, verschenkte Sein ist ein Gleichnis der göttlichen Güte, eine Ähnlichkeit, ein Ausdruck von ihr. Da steht das lateinische Wort: similitudo. Und ein zweites, was Thomas sagt und was Ulrich fortwährend auslegt: Das geschaffene Sein ist „simplex et completum, sed non subsistens“. Es ist einfach, vollständig gegeben – aber es steht nicht in sich selbst, es ist einfach verschenkt. Thomas nennt zur Erklärung noch ein anderes Bild: Das Laufen läuft nicht – der Läufer läuft. Analog: Das geschaffene Sein oder das geschaffene Leben lebt nicht in sich und aus sich – es ist völlig verschenkt, es hat kein eigenes Seiend-sein. Es ist gegeben.
Was heißt es nun, dass das im Menschen am tiefsten zum Ausdruck kommt? Nun, der Mensch ist mit der Kraft seines Geistes auf alles hin offen, was es gibt. Er kann sich allem zuwenden, was ist, was Sein hat. Thomas sagt sogar noch radikaler, dass die menschliche Seele in gewisser Weise alles ist. Und er sagt dies, weil es im Erkennen einen Akt des Empfangens und der Aneignung gibt, in der die Vernunft in bestimmter Weise das Erkannte selbst wird. Und zwar weil zwischen dem erkennenden, sich ausstreckendem Geist und der erkannten Sache eine Art Vereinigung stattfinden kann. Thomas verwendet dafür sogar das Bild von der Hochzeit. Das bedeutet, der erkennende Geist wendet sich einer Sache zu, nimmt sie in sein Erkenntnisvermögen hinein, betrachtet sie – und formt dann zuerst einen Gedanken und dann ein Wort über die Sache. Er beginnt darüber zu sprechen. Und Thomas sagt nun – auch im Anschluss an Augustinus – das so geformte Wort ist ein Kind dieser Hochzeit, ein „Kind des Geistes“. Und wie man bei einem realen Kind zweier Eltern manche Züge von Papa und Mama erkennen kann, so trägt ein authentisches Wort auch die Züge von beidem, dem Erkennenden und dem Erkannten an sich.
Nehmen Sie als Beispiel meine Rede hier über Ferdinand Ulrich selbst: Ich hoffe sehr, dass mein Sprechen, mein Wort über ihn einigermaßen angemessen ist, dass es also wirklich etwas über ihn selbst sagt. Wie er war, wie er gedacht hat. Und natürlich – das hat auch schon Thomas gesagt – nie könnte ich das Geheimnis dieser Person mit Worten jemals ganz ausschöpfen. Thomas hat gesagt, dass kein Philosoph jemals auch nur das Wesen einer einzigen Fliege hat vollständig erforschen können. Aber doch kann durch die Art meiner Zuwendung zu dieser Person etwas Wahres über sie gesagt werden. Und zugleich werden Sie merken: Genau so wie ich es sage, wird es keine andere Person sagen können. Nicht weil ich so großartig wäre, sondern weil jeder Mensch in einzigartiger Beziehung zum anderen steht und damit auch in einer einzigartigen Erkenntnisbeziehung. Dieses Wort, oder diese Rede über Ulrich, ist als „Kind des Geistes“, das mir aus der Begegnung mit ihm und meiner Beschäftigung mit ihm und seinem Werk zugewachsen ist.
Und vielleicht sehen Sie nun auch, dass die Art der interessierten Zuwendung zu einer Sache oder einer anderen Person auf ganz verschiedene Weise geschehen kann. Ich kann über die Person zum Beispiel einfach Daten sammeln, die verfügbar sind und könnte hier ein Referat über diese Daten und Fakten geben, die mir untergekommen sind. Und ich würde hoffen, dass sie stimmen, dass sie richtig sind. Und manches, was ich sage, sind einfach auch nachprüfbare Informationen. Dann würden Sie vielleicht sagen: „Interessant, das habe ich noch nicht gewusst.“ Unsere Vernunft ist dazu in der Lage, nämlich gesammelte Informationen zu verarbeiten und weiterzugeben. Ich könnte mich Ulrich aber zum Beispiel auch so zuwenden, dass ich sage: „Hier ist jemand, mit dem ich befreundet sein durfte. Und ich habe auch verstanden, dass er ein wirklich bedeutender Philosoph ist. Ich durfte ihn kennen – und gebe meine Erkenntnis nun in der Hoffnung weiter, dass mein eigenes Licht dabei vor Ihnen zu leuchten beginnt.“ Dann benutze ich meine Erkenntnisse und Informationen, um zuerst einmal selbst gut dazustehen. In der Hoffnung, dass Sie nachher sagen: „Toll, wie der Oster das gesagt hat.“ Und vermutlich wäre ich selbst mehr daran interessiert, dass sie mich gut finden – und nicht so sehr den, über den ich spreche.
Und tatsächlich, weiß ich ja gar nicht, ob ich schon wirklich die innere Reife besitze, heute Abend ehrlich zu versuchen, Ulrich so gut es geht von ihm selbst her zu zeigen. So dass ich mich wirklich ganz in diesen Dienst stellen würde – und zwar ohne dabei selbst glänzen zu wollen? Natürlich wäre es gut, wenn ich es gut mache, weil es ihm dann gerecht wird, und Sie hoffentlich gut verstehen können. Aber die wirklich entscheidende Frage ist: will ich mit meinem Gutseinwollen eher dienen, oder eher glänzen? Ich kann mich erinnern, es war noch eher am Anfang meiner Freundschaft mit ihm, auch am Anfang meiner Zeit als junger Ordensmann. Ich hatte damals schon ein wenig mehr verstanden von ihm.
Ich hatte bei ihm eine Magisterarbeit über den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber geschrieben. Und je länger ich über Buber nachgedacht habe, habe ich gleichzeitig begonnen, Ulrich selbst zu lesen. Und ich kam immer mehr zu der Erkenntnis, dass Ulrich das Verhältnis von Ich und Du viel tiefer ergründet hatte, als der weltberühmte Martin Buber in seinem bahnbrechenden Buch mit dem Titel „Ich und Du“ je gekommen war. Das heißt: Hier wuchs in mir die Faszination, dass ich da wirklich einem sehr bedeutenden Denker nahe sein durfte, der zugleich ein großer Unbekannter war. Und eben diese Faszination hat mich dazu geführt, ihn zu einer Art Idol für mich zu machen: „Ich kenne ihn und bin sein Freund!“ Ich hatte damals schon den Wunsch, das, was er zu sagen hatte, sollten auch andere wissen. Ich habe ihn zum Beispiel gebeten, einmal nach Benediktbeuern zu kommen, um meinen jungen Mitbrüdern eine Einkehrzeit über das Gebet zu geben. Aber im Rückblick gesehen, war das wohl noch kein reifer Umgang mit ihm. Er sagte damals zu mir: „Stefan, das geht nicht. Denn ich würde vermutlich erst einmal einen ganzen Tag brauchen, um den Luftballon zum Platzen zu bringen, den Sie in den Köpfen Ihrer Mitbrüder über mich aufgeblasen haben. Wissen Sie, ich bin nur ein armer, kleiner Pilgerbruder von Jesus, nicht mehr.“
Von hier zurück zum Thema Sein und zum Thema Erkenntnis: Sie sehen hoffentlich, dass das Erkennen einer Sache oder einer anderen Person nicht einfach eine neutrale Angelegenheit ist. Denn der Mensch ist mit seinem Geist offen auf alles, was es gibt – und kann es sich aneignen. Und wie ich vorhin schon gesagt habe: Alles, was es gibt, hat Sein. Und ich sagte, die erkennende Vernunft kann sich alles aneignen, was es gibt. Das heißt, in analoger Weise: Die Vernunft kann also in gewisser Weise auch alles werden, was es gibt. Vielleicht hat mancher von Ihnen einen Hund, den er liebt. Sie beschäftigen sich deshalb viel mit dem Tier. Sie kennen es gut, sie wissen um seine Vorlieben, seine Reaktionen, seine Anhänglichkeit und mehr. Das heißt: Der von Ihnen erkannte Hund gewinnt in Ihrem Inneren, in Ihrem Erkenntnisvermögen Wirklichkeit. Er wird in gewisser Weise in Ihnen lebendig. Er bestimmt Ihr Leben mit. Einen anderer Hund, den Sie nicht kennen, der ist in Ihrem Leben auch nicht da. In diesem Sinn hat die erkennende Vernunft die Möglichkeit, etwas in sich selbst wirklich werden zu lassen – natürlich nur in einem analogen Modus zur konkreten, materiellen Realität der Dinge. Aber für Sie als Person ist diese Realität in Ihnen überaus konkret. Das heißt: Die menschliche Vernunft kann das im Grunde mit allem machen, was es gibt. Wenn Sie etwa großes Interesse an Steinen haben und Steine immer mehr verstehen wollen, warum auch immer, dann werden diese Gegenstände in ihrem Leben wirklich. Sie fangen an, in Ihrem Leben, in Ihrem Nachdenken, in Ihrem Sprechen wichtig zu werden und insofern auch wirklich zu werden.
Vielleicht sehen Sie nun auch, wie sehr das geschaffene Sein und unser Erkenntnisvermögen aufeinander bezogen sind: Alles Seiende hat Sein, alles Seiende ist durch seine Teilhabe am Sein wirklich. Und alles in uns Erkannte wird, je tiefer wir es erkennen, umso wirklicher in uns. Und unser Sprechen darüber bekommt ebenfalls Substanz. Wir haben etwas erkannt. Dabei gilt auch: Der authentisch Sprechende, dem es wirklich um eine Sache geht, der will nicht, dass der Hörende an seinem Wort hängenbleibt. Er will, dass durch das Sprechen des Wortes die Sache selbst gesehen wird, die mit dem Wort gesagt wird. Er ist nicht in seinem Wort auf sich zurückgebeugt und will nicht, dass der Hörende „an seinen Lippen hängt“, sondern er will im Grunde das Gegenteil. Er will, dass der Hörende dorthin schaut, hinschaut, worauf das Wort zeigt, wohin es führt. Und wohin es sich nach dem Sprechen wieder verschweigt, damit die besprochene Sache selbst in den Blick kommt. Das bedeutet natürlich auch: Unser Denken braucht immer neu diesen Bezug zur Realität, sonst werden wir Menschen Sonderlinge, die in ihrer eigene, vor allem gedachten, also gedanklich konstruierten Welt leben, wir werden wirklichkeitslose Konstruktivisten. Oder denken Sie an alle Informationen, die im Internet vorhanden sind oder die durch künstliche Intelligenz jetzt noch viel verfügbarer werden. Wir können sie benutzen und gebrauchen, viele Worte machen, aber wenn wir sie uns nicht innerlich aneignen, wenn sie nicht gewissermaßen personale Erkenntnis werden, dann hängen sie am Ende in der Luft. Und dann kann es sein, dass jemand ein Vielwisser ist, aber im Grunde keine Ahnung hat von Begegnung, von Liebe, von einem Erkennen, das wie eine Hochzeit ist. Der Hl. Ignatius von Loyola hat einmal gesagt: Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Spüren und Verkosten der Dinge von innen her.
3. Sein als Gabe – Hören und Sprechen
Aber – und das ist ein Gedanke und zugleich eine Erfahrung, die Ulrich sehr radikal und tief durchdenkt – die Erkenntnishaltung, die auf den Gegenstand zielt, ist dann am meisten angemessen oder am wahrhaftigsten in der Zuwendung, wenn sie aus dem empfangenen Sein kommt, aus dem ich lebe und bin. Das heißt letztlich: Aus der Liebe, aus der ich selbst geschaffen bin. Und diese von der Liebe geleitete Erkenntnishaltung beschreibt Ulrich in der Analogie zum geschaffenen Sein immer neu als Einheit von Fülle und Nichts, von Reichtum und Armut, weil sie letztlich absichtslose Liebe ist. Damit sind wir im Zentrum des Seinsdenkens aber auch der Seinserfahrung von Ulrich, die zutiefst, ja abgründig, mit seinem Denken über den Menschen verbunden ist: Homo abyssus. So heißt sein Hauptwerk. Der Mensch als Abgrund, der abgründige Mensch.
Ich möchte es am Beispiel des Zuhörens verdeutlichen. Wenn ein Mensch einem anderen wirklich zuhört, kann man sich das räumlich vorstellen: Er öffnet sich auf den Sprechenden hin mit seinem Geist, seinem Erkenntnisvermögen, man könnte auch sagen, aus der Mitte der Person, also mit seinem Herzen. Diese Begriffe: Geist, Vernunft, Seele, Herz bezeichnen jeweils verschiedene Aspekte oder Nuancen unseres ganzen geistigen Vermögens, aber allen ist gemeinsam: Es ist unser Vermögen zur Wirklichkeit. Also nochmal: Ein Hörender öffnet sich auf den Sprechenden. Er streckt sich gewissermaßen aus auf ihn. Der Sprechende kann sich im Hörenden aussprechen, sich öffnen, sich zeigen. Und dieses Hören ist im gelingenden Fall ein liebendes Hören. Nur: Das bedeutet bei Ulrich gerade nicht ein besitzergreifendes, ein habenwollendes, begieriges Hören, sondern ein dienendes Hören. Ein Hören, das den Sprechenden und sein Sich-zeigen gewissermaßen trägt, behutsam einbettet in die eigene innere Offenheit, ins eigene Erkenntnisvermögen. Es lässt ihn sein, wer er oder sie ist. Es lässt den Anderen zu sich kommen. So ein Hören erwartet den Anderen in Geduld. Es gibt Raum. Und wenn wir nun genau hinsehen, dann ist so ein Hören einerseits arm – weil es sich so gut wie möglich frei macht von Vorurteilen, von Ungeduld, von Immer-schon-gewusst-haben, von begierigem Zugriff, von Versuchen der Manipulation. Es lässt sich den Anderen einfach geben. Es empfängt den Sprechenden als Gabe, als Reichtum, wenn man so will.
Und es empfängt ihn in ein In-sich-haben, das – weil es nicht begierlich ist – eben frei-gebend ist, also freigebig, großherzig. Und merken Sie, wenn ich diese Armut als frei bezeichne und zugleich freigebig, dann ist diese Armut des Hörenden zugleich ihr Reichtum. So sehr ist diese Armut aus dem eigenen Selbstseindürfen beschenkt, dass sie sich so arm für den Anderen machen kann. Eine offene Armut, die den Anderen aber beschenkt mit Zeit, mit einer Offenheit, mit einem Vermögen, das den Anderen mag. Ist es nicht interessant, dass hier das Wort Vermögen verwendet werden kann? Ein Wort, das wir in anderen Kontexten für materiellen Reichtum verwenden. Ein solchermaßen mögender und damit vermögender Hörender lebt sein inneres Bei-sich-sein, sein inneres Sich-beschenkt-wissen, sein inneres Sich-empfangen-haben als eine Weise des armen Offen-seins und Seins-beim-Anderen.
In diesem Sinn ist dann der Hörende auch eine Gabe für den Sprechenden und der Sprechende eine Gabe für den Hörenden. Der Hörende gibt ja im authentischen Hören nicht einfach nur sein Ohr oder sein Denken, sondern in einem genaueren Sinn eigentlich sich selbst. Er stellt sich dem Sprechenden ganz zur Verfügung – auch mit seinem leiblichen, sinnlichen, emotionalen und geistigen Vermögen. Wäre er nicht ganz da, sondern nur mit „halbem Ohr“ oder mit dem „Kopf ganz woanders“ oder mit dem Hunger-Gefühl schon heimlich beim nächsten Mittagessen, dann wäre sein Hören-können beeinträchtigt. Im schlechtesten Fall würde er nur so tun als ob und irgendwann würde der Sprecher womöglich sagen: „Du hörst mir gar nicht zu.“ Aber wenn ein Mensch dem Anderen „ganz Ohr“ ist, dann ist er in gewisser Weise auch ganz von sich weggegeben. Er hält nicht hintergründig an sich fest, er vergisst die vordergründigen Eigeninteressen. Er gibt sich und ist daher selbst als Geber in seinem Sich-geben anwesend.
Damit sind wir einmal mehr bei der Thematik der Gabe, die diese Konferenz ja prägen soll. Und hier möchte ich Sie auf eine Einsicht hinführen, die mir in meiner Beschäftigung mit Ulrich und seiner Philosophie überaus zentral geworden ist. Zunächst: Jeder von uns kennt ein vordergründiges Geben oder Schenken, mit dem der Geber oft ein handfestes persönliches Interesse verbindet: Ich will eigentlich etwas von der Person, der ich etwas schenke. Ich will sie beeinflussen oder Macht über sie ausüben oder ich will einen Gefallen von ihr – oder was auch immer. Im schlechtesten Fall ist es verdeckte Manipulation oder offene Bestechung. Ein solches Geben macht sich nicht arm im genannten Sinne, es hält seine Gabe hintergründig im eigenen Interesse fest. Und die Gabe selbst bleibt damit auch vom Geber als einem Manipulator gewissermaßen besetzt. Es ist wie „käufliche Liebe“, die keine Liebe ist, sondern zuerst Eigeninteressen verfolgt. Ulrich hat daher immer wieder über das folgende Geheimnis gesprochen: Der Geber gibt sich in seiner Gabe mit. Wenn wir auf ein Liebespaar schauen, wo eine Person der anderen etwas schenkt. Sie will am liebsten sich selbst schenken, aber sie schenkt einen Ring oder eine Essenseinladung oder einen Blumenstrauß. Wir können in diesem Sinn fast immer nur sehr begrenzt, sehr endlich schenken, auch wenn wir uns selbst ganz geben wollen. Aber wir sehen auch, dass eine Gabe erst dann wirklich Gabe wird, wenn sie wirklich immer tiefer die andere Person um ihrer selbst willen meint und der Geber im Geben immer weniger sich selbst sucht. Aber je mehr ein Geber die Gabe hinterrücks doch an die eigenen Interessen bindet, desto mehr ist er in der Gabe nicht als Geber gegenwärtig, sondern als Manipulator – der die Gabe zum Instrument der Manipulation oder Bestechung macht, um zuerst die eigenen Ziele verfolgen zu können. Es ist von der sprachlichen Analyse her wohl kein Zufall, dass im Deutschen oder auch im Englischen in den Worten für Gabe oft genug auch das Wort Gift im negativen Sinn mit daherkommt. Denken Sie an das deutsche Wort Mitgift. Oder denken Sie auch an das griechische Wort für Gabe, nämlich „dosis“, das wir ins Deutsche übernommen haben. Eine Über-Dosis einer bestimmten Substanz ist giftig oder sogar tödlich.
Also entscheidend ist die Erkenntnis: In einer wirklichen Gabe gibt sich der Geber mit. Aber er gibt sich nur als Geber mit, wenn er die Gabe auch wirklich loslässt auf den Empfänger hin. Wenn er sich also wirklich trennt von der Gabe, das heißt, wenn er den Zwischenraum zwischen Geber und Empfänger nicht mehr kontrollieren oder manipulieren will; wenn er sie wirklich loslässt auf den Empfangenden.
Und wenn ich eben im Beschreiben des Zuhörens gesagt habe, dass wirkliches Hören sowohl ein Empfangen wie zugleich ein Geben ist, dann lässt sich das auch für das gegenständliche Geben und Empfangen sagen: Ein Geber, der den Empfangenden wirklich meint, der ist im Schenken auch selbst ein Empfangender. Er hat ja in seinem Geben den Empfangenden schon mitbedacht. Was freut ihn, was hilft ihm, was passt zu ihm. Und wenn dann der Empfangende wirklich mit offenem Herzen annimmt, dann ist dies eine Weise, den Geber zu achten und mit dieser Achtung zu beschenken – ihm also auch etwas zu geben. Denken Sie an eine Situation, in der Sie ein Kind beschenken wollen. Und Sie haben viel nachgedacht, was passen könnte. Und Sie haben das Kind wirklich gern. Sie haben es also im Geben-wollen zugleich bereits in sich empfangen. Aber nun stellen Sie vor, das Kind beachtet Ihr Geschenk gar nicht. Oder wirft es sofort in die Ecke. Oder aber: Das Kind reißt es einfach an sich – als hätte es das Geschenk ohnehin verdient – und beachtet Sie als Geber gar nicht weiter. In solchen Situationen wäre dies eine Weise des Empfangens, die im Empfangen nicht zugleich ein Geben wäre.
4. Einige wesentliche Einsichten (Key Learnings)
All das kann ich hier nur andeuten. Ulrich hat es detailliert und in großer Tiefe und im kreisenden Denken immer neu entfaltet. Aber ich möchte aus dem Gesagten zunächst diese sechs Kerneinsichten nennen, die für konkretes Leben so wesentlich sind, so genannte Key-Learnings:
- Geschaffenes Sein ist verschenkte Liebe. Alles, was gibt, existiert aus verschenkter Liebe und alles Lebendige lebt aus verschenkter Liebe. Alles ist Gabe.
- Das menschliche Erkenntnisvermögen wird der erkennbaren Wirklichkeit dann am meisten gerecht, wenn es sich der Welt in der Haltung sich verschenkender Liebe zuwendet.
- Solche Zuwendung ist Einheit von Fülle und Nichts, von Armut und Reichtum. Der Reichtum der Liebe ist ihr Arm-sein-können für den Anderen. Und die Armut der Liebe ist ihr Reichtum des Sich-ganz-verschenken-könnens.
- Deshalb gilt auch: Im Geben einer Gabe gibt sich der Geber in der Gabe mit. Seine Fähigkeit zu geben (Reichtum), ist identisch mit seiner Fähigkeit, sich darin mit der Gabe und in die Gabe hinein selbst loszulassen (Armut).
- Daher ist eine Gabe dann eine echte Gabe, wenn sich der Geber im Geben von der Gabe trennt. Andernfalls ist die Gabe „vergiftet“ und der vermeintliche Geber ist als Manipulator in der Gabe gegenwärtig.
- Ein solches Geben ist in einer Welt, in der es primär um Rechnen und Aufrechnen geht, in der der Mensch zur käuflichen Ware oder zur Datenmenge reduziert wird, im doppelten Sinn des Wortes „umsonst“. Ulrich hat dieses Wort geliebt und immer wieder von der Liebe gesprochen, die umsonst ist: In der doppelten Bedeutung dieses deutschen Wörtchens, nämlich wirklich geschenkt, umsonst als gratis. Und zugleich in einer primär rechnenden Welt: umsonst als vergeblich, weil es in so einer Welt nichts bringt, einfach nur zu lieben. Zugleich hat Ulrich in immer neuen Anläufen deutlich gemacht, dass sich der Mensch in der Tiefe seiner Existenz nach nichts mehr sehnt als danach, umsonst geliebt zu sein.
Diese sechs Punkte (und weitere mehr) sind für mich sehr grundlegend geworden, für mein eigenes Leben und den eigenen Glauben. Vor allem auch deshalb, weil ich Ferdinand Ulrich als einen Lehrer erlebt habe, der sein Denken so mitgeteilt hat und darin auch so gelebt hat, dass immer wieder zu erfahren war: Er lebt, was er empfangen hat. Einige Beispiele dazu:
Immer wieder hat er gesagt oder auch geschrieben: „Der Lehrer ist der beste, der für seine Schüler überflüssig wird.“ Sein Geben war auch ein Sich-selbst-geben – und so, dass er sich selbst nicht notwendig machen wollte. Nach meiner Erfahrung ging es ihm tatsächlich immer neu um die Sache selbst und nicht darum, dass ein Student genau wiederholen sollte, was Ulrich gesagt hat. Ulrich wollte vielmehr wirklich denken lehren und damit zugleich lieben lehren. Ich habe ja mehrfach über ihn gearbeitet und publiziert. Und mein erster Aufsatz ging über das Thema „Die Metaphysik in der Wiederholung.“ Ein Thema, das er von Kierkegaard und Heidegger aufgegriffen und vertieft hatte. Ich habe ihm einen ersten Textentwurf zu lesen gegeben. Damals war ich schon über 30 Jahre alt und mein Philosophiestudium lag schon hinter mir. Und mein Manuskript, das ich von ihm zurückbekommen hatte, war – um es ehrlich zu sagen – ein Meer von roten Korrekturen. Ich war doch recht bedrückt angesichts der Erkenntnis, dass ich ganz offenbar recht wenig angemessen formuliert hatte. Ein Salesianerkommilitone, dem ich das gezeigt hatte, sagte zu mir damals sinngemäß: „Du musst Dir vorstellen, du bist ein Lehrling in einer Malerwerkstatt – und er ist der Michelangelo. Dann hast Du das rechte Verhältnis.“ Tatsächlich habe ich nicht sofort gesehen, wie viel Mühe und Genauigkeit dieser Michelangelo der Philosophie in die Korrektur meines ärmlichen Versuches hineingelegt hatte. So war es übrigens immer wieder, auch dann, wenn er seine eigenen, älteren Texte korrigierte: Meistens ein Meer von Rot. Aber immer mit ungeheurer Konzentration und Genauigkeit, vor allem mit großer Treue im Kleinen. Hingabe leben auch in der Treue zum Kleinen. Das war seine Weise, sich damals dem Anfänger in seiner Philosophie zu geben. Erst später, als ich selbst Arbeiten von Studenten korrigiert habe, ist mir bewusst geworden, wie viel Mühe er damals wirklich investiert hatte in diesen anfänglichen, ärmlichen Gehversuch meinerseits.
Eine zweite Weise seines Lehrer-seins war dann einige Jahr später meine Doktorarbeit über ihn. Ich habe ihm während der Erarbeitung im Grunde nie etwas von dem schon Geschriebenen zu lesen gegeben. Freilich habe ich seinen ständigen kritischen Blick über meine Schulter beim Schreiben gespürt oder mir diesen Blick zumindest eingebildet. Aber ich habe damals schon etwas besser verstanden, dass Geben auch immer eine Weise von Frei-Geben bedeutet. Er hat mich damals einfach machen lassen. Ich hatte schon ziemlich viel von seinen Schriften, auch von den unveröffentlichten Arbeiten und seinen Zettelkästen von ihm erhalten, schon wie eine Art Nachlass. Und als er begonnen hat, mir diese Dinge zu schenken, spürte ich bisweilen auch die Gier in mir, die sich vielleicht so artikuliert: „Da ist so ein bedeutender Philosoph – und er ist mein Freund geworden. Und kaum jemand interessiert sich noch für ihn, außer mir natürlich. Ich werde dann schon was damit machen und womöglich den Ruhm ernten.“ Und wenn ich dann auf dieses Motiv schaue, dann war es auch wieder mehr „Ich“ als „Er“. Und ich musste lernen, dass es dabei eben nicht zuerst um mich und meine Interessen ging. Was ich sagen will: Er hat mir in seinem Geben auch geholfen, selbst innerlich zu wachsen. Nicht nur er hat das Geben seiner Schriften auf mich hin losgelassen. Sondern auch ich musste lernen, mich von seinem vermeintlichen Kontrollblick zu befreien. Oder von meinem gierigen Besitzen-wollen seiner Arbeiten. Und beim Formulieren der Doktorarbeit war es dann so, dass ich nach und nach hineingewachsen bin in das Verstehen: Er als Geber will, dass der Empfangende auch wirklich nimmt, wirklich empfängt. Und dass es sein eigenes wird. So, dass ich als Empfangender nicht bloß eine bloße Erinnerung liefern oder eine schlechte Kopie abliefern sollte von dem, was ich empfangen hatte. Vielmehr geht das Empfangene in den Empfangenden ein – und wächst und reift und bringt so das Eigene hervor. Und natürlich ist es ein verdanktes Eigenes, aber zugleich ein freigegebenes Eigenes und nie einfach nur kopiertes. Ferdinand Ulrich ist mir auf diesem Weg ein väterlicher Freund geworden, der seine sprichwörtliche geistliche Fruchtbarkeit gegeben und verschenkt hat – und ich durfte sie einfach empfangen, verdanken und dann ins Eigene eingehen lassen. „Der Lehrer ist der beste, der für seine Schüler überflüssig wird.“ Und das Wort „überflüssig“ hat er in derselben Weise benutzt wie sein Lieblingswort „umsonst“. Überflüssig im Sinn von: Das braucht niemand – in einer Welt, in der es vor allem um Kosten- und Nutzenrechnung geht. Und zugleich: Überfließend, so wie die Liebe, die wie ein Geschenk nicht einfach geschuldet, sondern einfach so gegeben wird, wie der Überfluss.
Sie können von hier aus auch vielleicht verstehen, was ich bei Ferdinand Ulrich über geistliche Fruchtbarkeit lernen durfte. Und wie zum Beispiel geistliche Begleitung sich vollziehen muss, als ein Dienst der Freigabe und als ein Dienst, der genau von diesen Voraussetzungen her nicht manipulierend oder übergriffig sein darf. Wir neigen als Menschen in unserer Unerlöstheit dazu, den realen Zwischenraum zwischen mir und dem Anderen, den wir oft als Graben oder als Abgrund zwischen uns empfinden, kontrollierend oder manipulierend zu überbrücken. Wir wollen das am besten im Griff behalten und beherrschen, was zwischen uns passiert. Zumindest zunächst. Wir wollen daher eine tiefe, innere Öffnung vermeiden, weil sie uns ja auch verwundbar machen und die Kontrolle entziehen kann. Wir wollen letztlich erkennen, ohne zu lieben. Wir suchen nach dem Nutzen für uns. Und selbstverständlich kann das in einer Welt wie der unseren auch von Nutzen sein. Wir sollen ja nach dem Wort Jesu „arglos sein wie die Tauben, aber auch klug wie die Schlangen.“ (Mt 10,16) Und doch gilt zugleich: Wer nie in eine Erkenntnishaltung der absichtslosen Liebe findet, nie in die Öffnung zum Herz der Wirklichkeit und des Anderen, der verliert im biblischen Sinn sein Leben. „Wer nicht liebt, sagt der Johannesbrief, der bleibt im Tod.“ (1 Joh 3,14)
5. Ulrichs Philosophie und der christliche Glaube
Ich möchte jetzt noch in der gebotenen Kürze an drei Punkten von vielen möglichen weiteren aufzeigen, warum dieser philosophische Zugang auch so wertvoll ist für das Verstehen des eigenen christlichen Glaubens.
Ein erster Punkt ist das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz Gottes. Wir glauben, dass Gott die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten ist. Der Ich-bin, der Ich-bin-da (vgl. Ex 3,14). „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“, sagt Paulus in der Apostelgeschichte (17,28). Aber wie ist das denkbar, wenn er doch nicht mit der Welt zusammenfällt, nicht mit ihr identisch ist: Nun, wenn er das geschaffene Sein schenkt, schenkt er sich darin mit. Und zwar als Geber. Er ist als Geber im Sein gegenwärtig und er ist es nur, insofern er sich vom geschaffenen Sein trennt, wenn er es aus Liebe loslässt auf alles Geschaffene hin, das im Sein und durch sein Sein existiert. Zugleich sichert aber der radikale Gabecharakter, dass es keinen Durchgriff gibt vom endlichen zum unendlichen Sein. Gott manipuliert nicht und ist von seinen Geschöpfen nicht manipulierbar. Gott gibt frei und ist in seiner Freiheit zugleich in der Welt da und genau deshalb zugleich absolut transzendent. Er ist damit zugleich der Nicht-andere wie der Ganz-andere.
In einem weiteren Punkt lässt sich verstehen, wie im Erkennen Subjektivität und Objektivität zusammenhängen, aber auch, wie wir deshalb das Verhältnis von Wahrheit und Liebe tiefer verstehen können. Wenn die liebende Zuwendung frei von egozentrischen Interessen ein liebendes Raumgeben ist, in dem sich der Gegenstand der Erkenntnis zeigen und geben kann, dann ist der freigegebene Raum im Erkennenden zugleich der Raum der Objektivität. Der Gegenstand kann sich an sich selbst und von sich her zeigen. Zugleich ist es in einem tiefen Sinn genau der offen gehaltene geistige Raum dieser konkreten erkennenden Person im Hier und Jetzt, in genau dieser Situation. Das heißt zugleich: Die Erkenntnisperspektive, die auf den erkannten Gegenstand fällt, ist zugleich in einem positiven, nicht beliebigen Sinn ganz subjektiv. Sie in ihrem Zugewandtsein eben genau jetzt von genau dieser Person eröffnet. Es ergibt sich also eine einzigartige Erkenntnisverbindung, die ein einzigartiges, nicht einfach wiederholbares Erkennen und Sprechen zeitigt. Und zwar nicht einfach in bloß subjektiver Färbung, so dass Objektivität quasi verschwindet. Vielmehr so, dass es genau aus dieser konkreten Perspektive so etwas wie ein wirklichkeitsvolles, objektives Richtig-sein des Gesagten gibt. So entsteht authentische und originelle Objektivität und keine Objektivität im Sinn von bloß buchstäblicher, reduzierter Gleichheit. Sehen wir beispielsweise auf die vier Evangelien. Ich bin sicher, wenn sich die Evangelisten untereinander begegnet wären: Sie wären darin zutiefst verbunden gewesen, dass sie zwar auf je verschiedene Weise trotzdem alle vom selben Jesus erzählen. Und die Kirche als die entscheidende Unterscheidungsinstanz hat diese Evangelien als authentische Erzählungen über Jesus bestätigt.
In eben diesem Sinn lässt sich dann auch das Verhältnis von Liebe und Wahrheit tiefer begreifen: Die Liebe, die sich im absichtslosen Umsonst dem zu erkennenden Gegenstand oder einer Person zuwendet, vermag eben deshalb in einer lauteren Weise die Wahrheit des Erkannten zu erkennen und zu sagen. Mehr noch: Sie vermag die Wahrheit durch ihr Mögen als Vermögen in gewisser Weise sogar mit hervorzubringen. Wie tief doch das biblische Wort für Erkennen die zwischenmenschliche Begegnung von Personen berührt. Und wie sehr es dabei um die Sehnsucht von uns Menschen geht, wahrhaftig erkannt zu werden.
Ein weiterer, sehr entscheidender Punkt: Das, was in der Schrift über den so genannten Sündenfall erzählt wird, lässt einen Menschen entstehen, der das Paradies verlassen musste. Eine Deutungsmöglichkeit dazu ist: Der Mensch nach dem Fall war nicht mehr in der Lage, Gott als uneingeschränkt guten Geber und die Welt, die Wirklichkeit, in der er lebt, als Gabe zu erkennen und anzunehmen. Jetzt musste sich der Mensch selbst behaupten und primär die Eigeninteressen verfolgen, auch gegen die Anderen. Sein „Erkennen von Gut und Böse“ ist nicht mehr verdankte, liebende Zuwendung zur Wirklichkeit, sondern steht funktional im Interesse des eigenen ichhaften Überlebenskampfes: Die Welt wird erkannt, insofern sie meinen vordergründigen Eigeninteressen nützt. Die Schrift erzählt in der Folge, wie Gott deshalb immerfort in die Geschichte seines Volkes eingreift, um es wieder zu einem anderen, neuen Blick auf ihn und die geschaffene Welt zu erziehen. Aber immer wieder erhebt sich biblisch die Klage, die Menschen hätten ein Herz aus Stein oder einen versteiften Nacken, als Bilder für die Unfähigkeit zur Umkehr des Herzens.
Jesus nun, ist das ewige Wort des Vaters, der aber in der Schrift im Grunde erst zu sprechen anfängt, nachdem er sich die menschliche Welt dreißig Jahre lang hörend, sie annehmend, sie erlebend angeeignet hatte; er hat sich diese Welt im besten Sinn geschehen lassen. Paulus schreibt im 2. Korintherbrief (8,9) im Sinne auch der ulrichschen Philosophie: „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ Wenn nun der Schöpfer derselbe ist, wie der Erlöser, und der Schöpfer dabei neu und tiefer als Vater offenbart wird, dann ist der Gekreuzigte selbst der Deuter dieses Vaters schlechthin. Ein Deuter jener Liebe, aus der die Welt geschaffen ist, ein Deuter des geschaffenen Seins selbst. Wie umgekehrt: Das geschaffene Sein als Liebe weist schon voraus auf den, der die göttliche Liebe und Wahrheit in Person ist. Diese Person ist Wort, das im Anfang war. Und dieses Wort will zuerst und vor allem, die Menschen mit dem Vater versöhnen und sie hineinlieben in das Reich dieses Vaters, als Familienmitglieder, als Kinder der Gottesfamilie, als seine Brüder und Schwestern. Jesus spricht, er spricht mit seiner ganzen Existenz, mit seiner Verkündigung, mit seinen Machttaten, mit seiner Sammlung der Menschen, mit seiner Passion. Und wie ich eben sagte: Ein selbstloser Sprecher will mit seinem Wort ganz auf die Sache und nicht auf sich selbst verweisen, so können wir das Kreuz, das das Wort Gottes erleidet, ebenfalls in diesem Sinn deuten: Derjenige, der am Herzen des Vaters ruht und Kunde gebracht hat, sagt im Moment des Kreuzes alles, was er aus Liebe zu den Menschen zu sagen hat – mit seiner ganzen Existenz. Er sagt es, indem er stirbt und nichts mehr sagt. In ihm leuchten in der tiefstmöglichen Weise die Einheit von Reichtum und Armut der göttlichen Liebe auf. Sie gibt in Jesus alles, alles ist Gabe, alles ist vergebende Liebe – und der Mensch wird eingeladen, diesem göttlichen Zeugen zu glauben, dass Gott wirklich ein guter Geber ist und nicht ein egoistischer Geizkragen.
Verehrte Damen und Herren, Sie ahnen, es gäbe noch viel mehr zu sagen. Aber ich hoffe, ich konnte mit dem Ausgeführten deutlich machen, dass ich durch das Denken von Ferdinand Ulrich und noch mehr in der persönlichen Weggemeinschaft mit ihm, der treu versucht hat zu leben, was er gelehrt hat, viel grundlegender in Philosophie und Theologie hineinfinden konnte, als in allen anderen akademischen oder auch spirituellen Erfahrungen. Ulrich war auch Lehrer des Gebets, Lehrer der Begleitung anderer und er war ein Lehrer mitten im Herzen der Kirche. Dieses Herz hat er immer als den Ort gedeutet, in dem der ewige Logos empfangen, ausgetragen und zur Welt gebracht worden ist: Die Mutter des Herrn. Von der es in der Schrift heißt, dass sie alles in ihrem Herzen bewahrt hat. Sie war die, die zutiefst von Gott erkannt wurde und Ihn im obigen Sinn erkannt hat. Er hat sie als die heile Schöpfung erfahren und verehrt, als den Sitz der Weisheit, wie die große Tradition sagt. Bei ihr können wir Gott begegnen und mit ihr lernen, welche Antwort wir mit unserem ganzen Leben dem Herrn geben können. Auch für diese Erkenntnis und für so vieles mehr bin ich Ferdinand Ulrich und unserem dreifaltigen Gott von ganzem Herzen dankbar.
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Einen ausführlichen Bericht zum ersten Tag der Ferdinand-Ulrich-Tagung lesen Sie hier auf der Bistumswebsite.