Der Hirtenbrief zum 3. Adventssonntag und anlässlich der Veröffentlichung der Aufarbeitungsstudie von Bischof Stefan Oster SDB.
Liebe Schwestern und Brüder,
gibt es einen Ausweg aus dem Dunkel, aus der Wüste, aus der Gefangenschaft? Hilft uns Gott wirklich? Stimmt es denn, dass er da ist? Die biblischen Texte des heutigen Sonntags stellen im Grunde diese Frage. Ich möchte Sie einladen, sich einem Moment lang in Gedanken ganz weit zurückzuversetzen: Stellen Sie sich vor, sie wären ein gläubiger Jude, eine gläubige Jüdin im sechsten Jahrhundert vor Christus. Ihre große Glaubensgeschichte hat Ihnen fortwährend erzählt: „Wir sind das auserwählte Volk Gottes von Anfang an. Wir wurden von Gott aus Ägypten herausgerufen – und Gott ging mit uns durch die Wüste, im Offenbarungszelt des Mose. Wir sind ins gelobte Land eingezogen, sind Königreich geworden mit Jerusalem als Hauptstadt – und Gott wohnt in unserer Mitte, im großen, großartigen Tempel. Wir sind das Volk, in dessen Mitte Gott wohnt.
Das ist unsere Identität.“ Aber dann kommen auf einmal die Babylonier und machen alles platt. Sie zerstören den Tempel, sie bringen viele Menschen um. Und sie nehmen die religiöse und politische Elite Israels mit in die Sklaverei – in die Gefangenschaft nach Babylon. Für Jahrzehnte. Was würde das mit Ihrem jüdischen Glauben machen? Würden Sie nicht völlig selbstverständlich die Frage stellen: Stimmt das denn alles? Ist Gott wirklich mit uns? Sind wir wirklich sein Volk?
Oder denken Sie an das heutige Evangelium: Johannes der Täufer ist schon verhaftet im Gefängnis. Er hatte Jesus als erster erkannt, als er sagte: Seht das Lamm Gottes. Er hatte auch die Messias-Verheißungen aus der Schrift erinnert, denn die Wunder, die Jesus wirkte, waren im großen Jesaja-Buch angekündigt: Blinde sehen, Lahme gehen. Aber da steht eben auch: Gefangene werden befreit! Und ausgerechnet er, Johannes, der treueste Prophet Jesu, sitzt jetzt im Gefängnis, mit dem Tod bedroht. Und er schickt seine Leute zu Jesus, die ihn fragen: Stimmt das denn wirklich, dass Du es bist? Bist Du wirklich der, der kommen soll?
Und wie ist es bei uns – in der Kirche?
Und wir? Wir als Kirche, liebe Schwestern und Brüder? Fragen wir nicht auch so ähnlich, angesichts dessen, was wir erleben? Wir erleben seit Jahren zumindest zahlenmäßig einen Niedergang von Kirche und Glaube in unserem Land wie seit Jahrhunderten nicht. Und dann erscheint in diesen Tagen auch noch eine Studie, die uns zeigt, dass sich in den letzten acht Jahrzehnten in unserem Bistum über 150 Priester an Kindern und Jugendlichen vergangen haben, durch sexuellen Missbrauch oder körperliche Gewalt.
Vor allem die Älteren unter uns werden gefragt haben: „Priester sind doch berufen, heilige Männer zu sein, aber Priester als Verbrecher?“ Kirche soll Heilsort sein und wird durch solche Männer zum Unheilsort. Die Menschen wandern ab. Und vermutlich werden nicht wenige auch von Ihnen fragen: Stimmt es denn wirklich? Ist Gott wirklich in unserer Kirche da? Ein Priester feiert die Eucharistie, nimmt die Beichte ab, verkündet Gottes Wort. Kann es also sein, dass sich ein Gottesmann so verfehlt? Und wenn die Eucharistie Wandlung unserer Herzen bewirken soll, stimmt das denn wirklich – auch für Priester, die so oft dieses Sakrament feiern? Ist Jesus darin wirklich da?
Ein schonungsloser Blick in die Vergangenheit
Liebe Schwestern und Brüder, die Studie der Universität, die über unsere Bistums-Homepage aufgefunden und studiert werden kann, ist ziemlich schonungslos im Blick auf die Vergangenheit im Bistum. Das Schlimmste war und ist dabei, dass betroffene Kinder und Jugendliche so gut wie nicht im Blick waren. Im Umgang mit Taten oder Verdächtigungen ging es jahrzehntelang vor allem um den Schutz des Ansehens der Kirche, um einen möglichst gnädigen Umgang mit einem Beschuldigten, um möglichst wenig öffentliches Aufsehen. Dass aber Missbrauch ein Leiden verursachen kann, dass oft lebenslange schlimme Auswirkungen hat, konnte oder wollte man nicht sehen. Und dass die Betroffenen über Jahrzehnte nicht einmal angehört wurden, hat ihre Ohnmachtserfahrung oft unerträglich gemacht.
Die Wahrheit über das menschliche Herz
Stimmt es also wirklich? Dass Gott trotz allem da ist? Liebe Schwestern und Brüder, die Texte, mit denen wir auf Weihnachten zugehen, die sagen uns: Ja, es stimmt. Ja, Gott kommt und er ist da. Aber tatsächlich ist er so ganz anders da, als wir es uns oft wünschen oder vorstellen. Denn Jesus kommt tatsächlich zu uns. Aber er kommt, indem er sich selbst ohnmächtig macht. Er kommt in den Dreck und Staub der Welt, und er kommt auch in die gebrochenen und verwundeten Herzen von uns Menschen. Er kommt als der Mitleidende und als der, der jeden und jede von uns heiler machen will – von innen her.
Denn wer von uns wollte schon von sich sagen, dass er immer ein heiles Herz hat? Ein Herz ohne Groll, ohne Neid, ohne Ängste, ohne Komplexe, ohne Verwundungen, ohne die Neigung zum Getratsche, ohne Verachtung anderer, ohne Stolz, ohne Gier, ohne kleine oder größere Süchte, ohne Eigenschaften, die er selbst nicht mag? Und Jesus hat genau dieses Herz auch damals schon in denen gefunden, die besonders berufen waren, ihn zu erkennen: Die Schriftgelehrten, die Hohenpriester, die Pharisäer, die Gesetzeslehrer. Es war auch damals schon so und ist auch heute noch so.
Ein Mensch der Kirche zu sein, sei es ein Priester oder sei es ein Mensch im Haupt- oder Ehrenamt in der Kirche, bedeutet noch nicht, dass er automatisch heiler wäre. Denn es gibt keinen von uns, der der Erlösung nicht bedürfte. Und dieses innere Heiler-werden geht auch nicht automatisch, zum Beispiel weil man halt getauft oder gefirmt ist. Und auch nicht, weil man zum Priester geweiht ist. Einen überzeugten Glauben und die Veränderung des eigenen Herzens kann man nicht einfach machen. Sie ereignen sich, wenn wir uns ehrlich und treu für Gott öffnen, wenn wir uns danach sehnen, mit unserem Leben wirklich auf seine erlösende Liebe zu antworten – demütig und ehrlich. .
Gaudete!
Und genau deshalb glaube ich, liebe Schwestern und Brüder, dass es für jeden von uns möglich ist, so auf Weihnachten zuzugehen, wie es dem heutigen Gaudete-Sonntag entspricht. Ja, es gibt eine Freude, die mitten in der Wüste aufgeht, mitten in der Dunkelheit, mitten in der Gefangenschaft unseres eigenen Herzens. Wer sich dem Geheimnis des Gottessohnes sehnsüchtig und demütig so nähert, der wird erkennen dürfen, dass auch diese, unsere Zeit auch wieder eine ist, wie viele Zeiten zuvor. Nämlich für nicht wenige eine dunkle Zeit: Aber der rettende Gott kommt genau in die Dunkelheit der Nacht, die dadurch zur Weihnacht werden kann.
Ich möchte noch einen wichtigen, abschließenden Gedanken dazulegen: Die Aufarbeitungsstudie zeigt, dass seit mehr als zwanzig Jahren, angefangen bei Bischof Wilhelm Schraml, sehr vieles besser geworden ist: Vieles haben wir im Bistum verändert und vieles implementiert. Betroffene werden gehört. Wir gehen auch mit ihnen durch Begleitung und Hilfsangebote. Wir schauen auch viel genauer hin. Vertuschung ist heute nahezu unmöglich. Unserer Prävention ist intensiv ausgebaut worden – und vieles mehr.
Unsere Kirche ist in dieser Hinsicht seit Anfang der 2000er Jahre bis heute nach und nach ein für Kinder und Jugendliche viel sicherer Ort geworden als davor. Die Zahlen von Beschuldigungen sind sehr deutlich zurück gegangen. Und die aller-, allermeisten unserer Priester und auch unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Haupt- und Ehrenamt sind aufrichtige Gläubige, die sich ehrlich um die Ausbreitung des Evangeliums mühen. Statt eines Generalverdachtes brauchen wir jetzt deshalb vor allem Sensibilität für verwundbare Menschen.
Wir brauchen aber auch gegenseitige Stärkung im Glauben. Auch diese Aufarbeitungsstudie ist ja Teil eines Erneuerungsprozesses. Sie soll uns helfen, die Wahrheit besser zu verstehen und anzunehmen. Sie gibt uns die Möglichkeit zum Lernen und Heiler-werden. Deshalb: Lassen Sie uns mit Jesus zusammen demütiger werden und Ihm wahrhaftig entgegen gehen. Dann wird er uns von innen her ein Licht schenken, eine Freude, die uns nicht zu nehmen ist. Eine Freude, die wir dann auch weitergeben können! Dann ist Gaudete – denn er ist nahe. Er kommt an Weihnachten und er kommt immer und immer wieder als das Licht der Welt. Diese Erfahrung wünsche ich uns allen! Amen.
Bischof Dr. Stefan Oster SDB
Hier finden Sie den zugehörigen Artikel auf der Website des Bistums.
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