Exzellenz, ist das Abendland dabei unterzugehen?
Im Moment sehe ich Gefährdungen vor allem für unser katholisches Menschenbild, das das Abendland mitgeprägt hat. Die Würde des Menschen kommt zwar noch zur Sprache, aber dass der Mensch in dieser Würde, die er unverlierbar hat, zugleich ein erlösungsbedürftiger Sünder ist, der seiner Würde in dem Maß gerecht wird, in dem er aus dem erlösenden Glauben lebt – das geht meistens unter. Dann haben wir ein amputiertes Menschenbild, ein bloß scheinbar christliches Menschenbild.
Man wird dieses christliche Menschenbild wohl nur dann wiederherstellen können, wenn man nicht bloß einem Kulturchristentum anhängt, sondern den Glauben wiedergewinnt. Ist das aber für die Gesellschaft im Ganzen nicht utopisch?
Die Frage ist, ist der Glaube, wie ihn zum Beispiel Paulus formuliert, überhaupt noch massentauglich? Eigentlich schon, weil dieser Glaube die ganze Menschheit meint; Christus ist für alle gestorben. Aber wir sehen auch, wie jeder unter unterschiedlichen Bedingungen lebt. Wenn wir sagen, der Glaube muss wiederhergestellt werden, dann heißt das doch im Grunde: Hoffentlich gibt es ein paar heilige Männer und Frauen, die als individuelle Wesen so tief aus dem Evangelium leben, dass sie viele andere mitnehmen. Gott erwählt Einzelne und die Erwählung der Einzelnen richtet sich dann immer an die vielen. Die Kirche will immer die vielen mitnehmen.
Das scheinen nicht alle in der Kirche so zu sehen. Es gibt sogar Bischofskollegen von Ihnen, die meinen, wir müssten heute nicht mehr missionieren, da die Menschen auch ohne Gott glücklich sein könnten. Wie tief ist die Krise der Kirche heute?
Ich glaube nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben wir stärker als vorher vom Heilsuniversalismus gesprochen. Ja, Christus ist für alle gestorben, für die ganze Welt. Der Heilsuniversalismus ist aber subkutan zu einer Art Heilsautomatismus geworden. Da sind wir versucht zu meinen: „Wenn der Herrgott alle gernhat, dann bin ich doch ein guter Christ. Ich habe ja keinen umgebracht.“ Das Bewusstsein mitzuhelfen, dass Menschen gerettet werden, das haben wir weitgehend verloren und das macht auch etwas von der aktuellen Krise aus. Gott liebt alle Menschen, und zwar bedingungslos.
Das sagen wir auch immer wieder. Aber das Gott die Rettung von der Qualität unserer Antwort auf die bedingungslose Liebe abhängig macht, das sagen wir kaum noch dazu und es fällt uns auch schwer, das dazu zu sagen. Zur Rettung gehört auch Umkehr, die Vergebung der Sünden und die Bereitschaft, die Vergebung anzunehmen. Dass dieser kritische Punkt in Vergessenheit geraten ist, hängt auch mit der Wohlstandserfahrung zusammen: „Wovon soll ich denn erlöst werden und zu was? Es geht mir doch gut.“ Hinzukommt die Überflutung der menschlichen Herzen und Köpfe mit elektronischem Entertainment. Weil wir uns so lange an der Oberfläche digitaler Medien aufhalten, kommen wir nicht mehr in die Konfrontation mit der eigenen Tiefe.
In den USA gibt es eine Renaissance der Apologetik auf einem sehr hohen philosophischen und theologischen Niveau. Ich denke da etwa an die Arbeit von Bischof Robert Barron. Ist so etwas auch bei uns denkbar?
Ja und ein bisschen versuche ich es selbst in diese Richtung. Aber ich habe den Eindruck, dass die strukturellen Bedingungen der Kirche in Deutschland die Situation schwerer machen als zum Beispiel in Amerika. Wir haben im Grunde heute mehr Menschen, die von der Kirche ihr Geld bekommen und damit ihren Lebensunterhalt verdienen als Menschen, die aus den Sakramenten leben. Deswegen treffen auch die Versuche, das Thema Evangelisierung anzugehen, eher auf Widerstände von innen als von außen. Außerdem haben die meisten Menschen bei uns nicht vermittelt bekommen, den Glauben zu kommunizieren – und zwar nicht nur in banalen, netten Formen, in einer Art Humanismus der Nettigkeit, sondern auf existenzielle Weise. Ich will nicht einfach die Mitmenschlichkeit denunzieren, aber der Glaube muss wieder zur Ressource werden, um wirklich in die tiefere Freiheit zu finden, in die größere Gelassenheit, in die Fähigkeit zu vergeben, mit dem anderen mitzuleiden, mitzukämpfen.
Wie kann Neuevangelisierung denn konkret gelingen?
Es braucht heilige Männer und Frauen. Und wenn ich jetzt sage „es braucht“, dann lautet die eigentliche Frage: Bin ich bereit, Gott zu bitten, dass er mich heiligt? Wann war der Herr am fruchtbarsten? Am Kreuz. Ohne die Bereitschaft, das Kreuz mit Ihm zu tragen, mit Ihm in die Demut zu gehen, schaffen wir es nicht. Ich weiß noch genau, wie ich einmal mit meinem Lehrer Ferdinand Ulrich über den Psalm 51 gesprochen habe, den ich jeden Freitag in der Laudes bete: „Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“ Als ich ihm sagte, dass mich das berührt, antwortete er: „Stefan, sind Sie bereit, den Preis dafür zu zahlen?“ Daraus kommt die Erneuerung und ehrlich gesagt am Ende aus wenig anderem. Alles andere ist auch gut: Bücher schreiben, Videos produzieren und so weiter. Aber wenn man Jünger sein will, geht es nur über das Kreuz.
Früher hatte die Christenheit auch den Anspruch auf politische Gestaltung. Hat es sich die Kirche heute dagegen nicht in der politischen Gefälligkeit eingerichtet?
War das nicht immer so? Seitdem die Kirche die dominante Glaubensüberzeugung im Staatswesen gewesen ist, gab es immer die Versuchung, mit der Macht eine schlechte Allianz einzugehen. Aber nicht jede Allianz mit der Macht ist schlecht. Wir sind doch froh, wenn Politiker gläubig und katholisch sind und sich mit der Kirche verbunden fühlen. Aber ich glaube tatsächlich, dass unsere Kirche durch die wirtschaftliche Versorgung über das System spirituell ärmer geworden und dadurch insgesamt mit weniger geistlicher Kraft ausgestattet ist – auch gegen politische Überzeugungen, die mächtig daherkommen. Da sind wir sicherlich in mancher Weise eingeknickt oder haben dramatisch an Relevanz verloren.
Braucht es also ein Ende des deutschen Kirchensteuersystems?
Auf der einen Seite gibt es in mir die Stimme, die sagt: Wir brauchen ein neues System, damit die Kirche in die Tiefe kommt und neu daraus zu leben lernt. Auf der anderen Seite habe ich in meinem Bistum ein paar tausend großartige Mitarbeiter, die ihren Dienst tun und deren Existenz vom System abhängt. Vor einiger Zeit habe ich einen Bischof aus Venezuela getroffen. Als der gehört hat, dass ich aus Deutschland komme, ist er in Tränen ausgebrochen und hat gesagt: „Ohne Eure Hilfe könnten wir überhaupt nicht mehr existieren!“ Es gibt also viele Facetten dieses Systems. Dennoch: Mittelfristig wird eine deutliche Systemveränderung kommen.
Weltweit, aber auch in Europa, nimmt die Christenverfolgung zu. Bekannt ist etwa der Fall der ehemaligen finnischen Ministerin Päivi Räsänen, die wegen eines Bibelzitats auf Twitter nun schon mehrfach vor Gericht stand. Droht die Gefahr, dass wir nicht nur weniger werden, sondern uns auch auf neue Formen der Verfolgung in Europa einstellen müssen?
Wir sind auf dem Weg, marginalisiert zu werden. Und wenn wir als kleine Gruppe auch noch mit einem Menschenbild auftreten, das dem der herrschenden Meinung deutlich widerspricht, dann kann es sein, dass wir noch stärker benachteiligt werden. Andererseits kann ich mir auch das Gegenteil vorstellen. Angesichts der allgemeinen Verunsicherung und Destabilisierung könnte es nicht wenige geben, die sich zurückbesinnen und sagen: „Wir gehen dahin, wo wir glauben, dass die Wahrheit zu finden ist, nämlich bei Christus.“ Für eine gesellschaftliche Kehrtwende bräuchte dann aber auch der Faktor „Soziale Medien“ eine Neuaufstellung. Differenzierte Argumentation, das Ringen um das bessere Argument, sehe ich auf diesem Feld als kaum noch möglich an.
Sind die Sozialen Medien aber nicht auch eine ungeheure Chance, mit jedem auf der Welt kommunizieren und ihm die frohe Botschaft verkünden zu können? Ist der Rückzug aus den Sozialen Medien daher nicht sogar gefährlich?
Ich versuche ja selber, in den Sozialen Medien mit dem Evangelium präsent zu sein und erlebe auch, dass nicht wenige sich darauf einlassen. Und trotzdem sehe ich, dass es Blasenbildungen gibt und nicht automatisch wirklichen Dialog mit den anderen. Ich beschäftige mich stark mit der Frage nach der Personwerdung des Menschen. Das Personsein übersteigt die bloß natürliche Dimensionen des Menschseins. Der Mensch ist Person und soll es immer mehr werden. Wenn zu den bisherigen technologischen Entwicklungen auch noch die „Künstliche Intelligenz“ dazukommt, dann werden wir erleben, dass viele Schöpfungen – Texte, Lieder, Bilder, Filme – auftauchen, die völlig entpersonalisiert existieren, also ohne Rückgriff auf einen Urheber zu haben. Das Missbrauchspotential ist gewaltig.
Lesen Sie auch das Interview: Über soziale Medien und künstliche Intelligenz