Was trägt zum Zusammenhalt in der Gesellschaft bei und welche Rolle können christliche Grundwerte dabei haben? Wie lassen sich Menschen wieder für den Glauben begeistern? Was braucht es für eine erfolgreiche Evangelisierung? Wie steht es um den Islam? Über diese und weitere Fragen sprach Bischof Stefan Oster mit Susanne Berke und Andreas von Delhaes-Guenther von Politicus, dem Magazin „für Politik und Gesellschaft“ der Hanns-Seidel-Stiftung.
Das Interview kann in voller Länge hier nachgelesen werden:
Politicus: Herr Oster, Sie sind seit 2014 Bischof, also schon seit 10 Jahren. Der Zusammenhalt nicht nur in unserem Land steht auf wackligen Füßen, die politische Mitte und das ehrenamtliche Engagement schrumpft, die Zahl lautstarker Gruppen steigt, der Tonfall ist rauer, gerade auch durch Social Media. Wo sind die christlichen Grundwerte wie Nächstenliebe, Verantwortung und Vergebung hingekommen?
Bischof Oster: Also ich glaube tatsächlich, dass auch die Entkonfessionalisierung, also der Verlust des religiösen Glaubens und des religiösen Bewusstseins, eine ganz starke Rolle spielt bei den Phänomenen, die Sie aufzählen. Sie kennen das berühmte Wort von Ernst Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann.“ Wenn der Staat diese Werte und Haltungen aber nicht garantieren kann und dann Institutionen wie unsere, die diese mit hervorbringen, wegbrechen, dann geht auch etwas vom gesellschaftlichen Zusammenhalt verloren. Und Sie haben es selber gesagt, die digitale Revolution trägt aus meiner Sicht einen erheblichen Teil dazu bei, weil die Algorithmen der neuen Medien auf schnelle Klicks zielen, auf Kommerz, auf Emotionalisierung und Polarisierung. Dadurch bleibt echte Streitkultur auf der Strecke.
„Eine zentrale Aufgabe für die Zukunft wird es sein, neue Räume von Begegnung und Glaubenskommunikation zu erschließen“, das sind Ihre Worte. Muss die Kirche präsenter sein auf den Social Media? Sie selbst hatten heuer mit Ihrem Osterwitz ja einen viralen Hit.
Also, wir müssen überall hingehen, wo Menschen zusammenkommen. Papst Franziskus spricht immer vom digitalen Kontinent. Deswegen glaube ich, ist es wichtig, dass wir auf diesem digitalen Kontinent gegenwärtig sind. Nur, bloß gegenwärtig zu sein, ist das eine. Aber es auch können und gut dabei sein, ist das andere. Die Leute kommen ja nicht auf unsere Seiten, nur weil sie da sind. Die richtig großen Fragen sind daher: Wie geht heute gute Glaubenskommunikation und was sind die Inhalte, die wir da möglichst lebensrelevant vermitteln? Es ist nicht selbstverständlich, dass das funktioniert.
Beiden Kirchen laufen die Gläubigen in Scharen weg, Priester fehlen überall, Kirchen werden entwidmet. 2023 sind allein in Bayern 106.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Das ist zwar weniger als im Jahr davor, aber wenn das in dem Tempo weitergeht, wäre es existenzbedrohend. Worin sehen Sie die Ursachen dafür? Was sind die Gefahren und was könnten die Lösungen sein?
Das ist eine komplexe Frage. Wir befinden uns in einer jahrzehntelangen, vielleicht sogar jahrhundertelangen Entwicklung herkommend von einem stark volkskirchlich geprägten katholischen Milieu, das im 19. Jahrhundert womöglich am stärksten ausgeprägt war. Heute ist die Situation ganz anders, aber trotzdem führen wir in Glauben und Kirche immer noch so ein, als wären wir in den vermeintlich guten, alten Zeiten. Daher: Wir sind nicht allzu gut darin, in der Breite des Gottesvolkes auf Fragen von heute zu reagieren. Also ich nenne jetzt mal neben dem Klassiker Sexualmoral auch das Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube oder das Verhältnis von Religion und Gewalt. Wie ist es mit Kriegen, die religiös motiviert sind?
In einer modernen Gesellschaft mit einem über Jahrhunderte eingeübten volkskirchlichen Wirken tun wir uns also schwer, vor allem in der Fläche, die Fragen der Menschen so zu beantworten, dass sie spüren, der Glaube hat existenzielle Relevanz und er hilft mir bei den wichtigsten Fragen. Wenn Christentum in dieser Gesellschaft bei dem zunehmenden Säkularisierungsdruck überleben will, dann muss der Glaube bei den Menschen stärker in die Tiefe gehen. Das heißt, wir müssen den Menschen helfen sprachfähig zu werden in dem, was sie glauben, warum sie glauben, wem sie glauben.
Aber ganz oft hört Glaubensbildung und Glaubensausbildung bei der Firmung auf, das heißt zumeist schon bei den Kindern. Und es gelingt uns viel zu wenig, das weiterzuführen und den Glauben erwachsen werden zu lassen. Nennen Sie mir z.B. ein Format, wo Erwachsenenkatechese funktioniert, wo Sie als Erwachsene gerne hingehen würden? Sogenannte Alpha-Kurse sind so eine Möglichkeit, aber auch das ist eher spärlich angeboten.
Der Sonntagsgottesdienst?
Der Sonntagsgottesdienst ist nicht automatisch katechetisch, er ist zunächst einmal Eucharistie. Wir danken Gott dafür, dass wir mit ihm verbunden leben dürfen. Wir feiern ihn, wir hören das Evangelium, wir kriegen eine Auslegung des Evangeliums. Ja, das ist ein katechetischer Aspekt. Eucharistie ist jedoch nicht automatisch dafür da, jedenfalls nicht zuerst. Und wenn wir den Altersschnitt in der Eucharistie anschauen, dann sehen wir, dass wir schon zwei bis drei Generationen nicht mehr erreichen. Und Kinder werden ja auch im Glauben zuerst von den Eltern geprägt.
In Passau lag die Zahl der Kirchenaustritte unter den Katholiken nur bei 1,5 Prozent, das ist weniger als in allen anderen Bistümern Bayerns. Denken Sie, dass Sie mehr richtigmachen?
Ich glaube nicht, dass diese Quote von der kirchenpolitischen Haltung des Bischofs abhängt. Zumindest nur in sehr geringem Maße. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass wir zum Beispiel das ländlichste Bistum überhaupt sind in Bayern. Passau, meine Stadt, ist eine Kleinstadt mit etwas mehr als 50.000 Einwohnern, ansonsten haben wir Land, Kleinstädte, Märkte oder Dörfer. Die Abwanderungsbewegungen im Katholizismus sind in städtischen Strukturen deutlich stärker als im ländlichen Raum.
Ich nenne Ihnen aber andere Zahlen, die mich bestürzen. Die Zahl der Gottesdienstbesucher der katholischen Kirche ist bei gut fünf Prozent bundesweit angekommen. Das sind bei 20 Millionen Katholiken rund eine Million Gläubige – mit ständig wachsendem Altersdurchschnitt. Diese besuchen also die Messe oder leben also aus den Sakramenten.. Gleichzeitig arbeiten für diese Kirche auch über eine Million Menschen in Caritas, Kindergärten, Schulen etc. und beziehen Gehalt von ihr. Und diese beiden jeweiligen Millionen haben aber kaum noch miteinander zu tun. Das heißt: Der Bereich von Kirche, der als gesellschaftlich relevant wahrgenommen wird, braucht offenbar kaum mehr die Sakramente und damit auch kaum mehr Priester. Auf welche Gestalt von Kirche gehen wir also zu?
Wie kann ich die Gläubigen wieder zurückgewinnen oder neue hinzugewinnen? Wenn man auf den Islam schaut, der gerade auch übers Internet stark missioniert, das sieht man bei der christlichen Kirche nicht.
Ich weiß nicht, ob Sie meine Internetpräsenzen kennen. Ich mache schon den Versuch, Menschen auch hier zu erreichen. Freilich: So etwas wie „Bekehrung“ oder Wiederentdeckung des Glaubens wird aller Voraussicht nach so schnell keine Massenbewegung sein. Trotzdem: Wie gelingt denn heute Evangelisierung? Ich habe den schönen Satz gehört: „Ein Bettler sagt dem anderen Bettler, wo es das gute Brot gibt.“ Bin ich also so unterwegs, dass ich dem anderen etwas schenken möchte, was ich selbst als nährend, als tief, sinnvoll, frei machend empfangen habe?
Da Sie das Internet ansprechen: Ich habe schon das Gefühl, dass das auch dort gelingen kann. Und trotzdem ist das Entscheidende beim Thema Evangelisierung die Begegnung von Person zu Person. Dafür sind wir da. Dafür, dass die Welt mit Christus in Verbindung kommt. Aber wenn ich selbst ehrlich zurückschaue: Ich war Ministrant und engagiert bis zu meinem Abitur in einer normal geprägten und auch gut laufenden volkskirchlichen Struktur. Was ich damals jedoch nie gehört habe, ist Folgendes: Die persönliche Beziehung zu Christus ist die wichtigste Beziehung deines Lebens! Denn das, was wir vom Evangelium her mit „Rettung“ oder „Heil“ oder Himmel bezeichnen, hängt von der Qualität der Beziehung zu dieser Gestalt ab. Der Kern des Evangeliums ist diese Beziehung. Und Menschen da hinein zu führen, bedeutet, ihnen zu helfen, im Glauben zu leben. Das wäre der Kern von „Mission“.
Mit den Hunderttausenden Migranten kommen in erster Linie Muslime nach Europa, was zu immer größeren Konflikten führt. Seit der Regensburger Rede von Papst Benedikt hat man aus der Kirche eigentlich kein kritisches Wort mehr zum Islam gehört. Oder sehen Sie das anders?
Zum militanten Islam höre ich oft genug Kritik und äußere sie auch selbst. Aber an einzelnen Menschen, die ihren Glauben leben, habe ich nicht das Recht, pauschal Kritik zu üben. Und ich kenne genug Muslime, die natürlich überhaupt nicht in einen Topf geworfen werden wollen mit den Islamisten.
Aber aus theologischer Sicht kann man doch den Islam kritisieren, sein Verhältnis zu anderen Religionen, zu Frauen, zur Gewalt, zu Freiheit und Menschenrechten?
Natürlich kann man Fragen stellen. Aber doch auch nicht einfach von oben herab, ohne den Versuch zu machen zu verstehen. Ich glaube, wir müssen viel mehr den Dialog suchen und Gemeinsamkeiten zeigen, die es in allen Religionen gibt. Das ist übrigens auch der Weg von Papst Franziskus. Und nicht hingehen und von vorneherein sagen: Wir sind die Besseren.
Darum geht es ja nicht, sondern darum, die eigenen Stärken nach vorne zu stellen. Warum macht die Kirche das so selten?
Ja, das müssten wir tun. Ich versuche es auch. Eine entscheidende Frage ist dabei für mich die Frage nach der Gewalt. Denn die Radikalität der Gewaltlosigkeit Jesu ist aus meiner Sicht schon ein qualitativer Unterschied im Verhältnis zu anderen Religionen. Wir sind zwar natürlich dafür, dass der Staat bestimmte ordnende Gewalt hat, aber wir als Christen sind selbst nicht befugt, physische Gewalt auszuüben im Namen unseres Glaubens. Das, glaube ich, ist etwas, was uns, bzw. vor allem Christus unterscheidet. Er ist prinzipiell gewaltlos – bis in die Hinnahme der Kreuzigung. Und wenn ich recht sehe, ist das in den meisten anderen Glaubensgemeinschaften, etwa im Islam, so nicht gegeben. Mohammed selbst hat auch Kriege geführt.
Wenn wir über gesellschaftlichen Zusammenhalt reden, muss man ja feststellen, dass die Migration seit 2015 unsere Gesellschaft förmlich zerrissen hat. Haben wir hier die Nächstenliebe überdehnt? Der heilige Martin hat seinen Mantel ja auch nur geteilt, die andere Hälfte hat er behalten. Der barmherzige Samariter hat nur gegeben, was notwendig war. Und es heißt auch „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Die Eigenliebe sollte also nicht vergessen werden.
Ja, auch das ist schwierig. Was bedeutet Eigenliebe? Es bedeutet ja nicht einfach Egoismus. Es bedeutet eher authentische Selbstannahme. Wirklich liebesfähig sein kann ja nur, wer im tiefen Sinn zu sich selber ja gesagt hat. Nur der kann sich auch im richtig verstandenen Sinn auch wirklich geben, wirklich selbstlos sein. Daher: Es geht nicht um eine Art Abwägung zwischen Eigenliebe und Altruismus. Es geht grundsätzlich darum zu lernen, anders zu lieben, so wie Christus. Dann erst kommt das Verhältnis von Selbstliebe und Nächstenliebe ins rechte Lot.
Zur Frage der Grenzen: Im Grunde sind wir schon lange mitten in einem Aushandlungsprozess darüber, wieviel die Gesellschaft tragen kann. Ich bin der Meinung, dass wir als Christen schon etwas tragen können und sollen. Papst Franziskus ist da ja sehr deutlich, dass Menschen auf der Flucht Aufnahme, Integration, Beratung und Förderung brauchen. Daher ist es zuerst eine politische Aufgabe, gesellschaftlich auszuhandeln oder verstehen zu lernen, welches Maß an Aufnahme von Flüchtlingen möglich ist. Aber wir Christen sollten einfach grundsätzlich bereit sein, Heimatlosen beizustehen.
Kann das Christentum überhaupt noch dafür sorgen, dass die Menschen zusammenhalten?
Wenn wir den Glauben leben, dann sind wir mit die ersten, die den Zusammenhalt stärken. Aber was heißt es nun, den Glauben zu leben? Es gab immer Gestalten in der Kirche, die das Ganze in einer größeren Tiefe und Authentizität verkörpert und die dann gewissermaßen in die Breite ausgestrahlt haben. Denken Sie an Franziskus von Assisi oder Ignatius von Loyola, die in ihrer Zeit starke Erneuerungsbewegungen angestoßen haben. Wir hoffen also, dass wenigstens eine bestimmte Zahl von Menschen ihren Glauben aus der Tiefe lebt – und wir hoffen, dass das dann viele mitnimmt, die diese Tiefe vielleicht nicht erreichen.
Freilich frage ich mich gleichzeitig, ob das Evangelium in der Tiefe verstanden auch massentauglich wäre – wenn Sie etwa an die Aussage Jesu denken, man solle sein Leben um seinetwillen verlieren, dann würde man es gewinnen!? Trotzdem: Wir haben schon den Anspruch möglichst alle mitzunehmen. Aber wenn die Tiefe verloren geht, auch bei den Wenigen, dann hat der Glaube auf lange Sicht gar keine Kraft mehr, eine Gesellschaft zu durchdringen oder zu prägen.
Viele Unionswähler haben immer öfter den Eindruck, dass sich beide Kirchen in Parteizentralen der Grünen verwandelt haben. Betrachtet man aber deren Programm, etwa zur Abtreibung, zur Verbannung alles Christlichen aus dem öffentlichen Raum, aber auch zur Kirchensteuer, haben sich die Kirchen dann nicht die falschen Freunde ausgesucht?
Es besteht in dieser Gesellschaft medial, kulturell und akademisch tatsächlich schnell die Befürchtung, man könnte ins „rechte Lager“ gerechnet oder als „konservativ“ bezeichnet werden. Auch wir als Kirche merken, wie in der gesellschaftlichen Debatte die Stimmung zu bestimmten Themen medial angeheizt wird. Wir tun uns dann auch tatsächlich schwer, unser christliches Menschenbild von Entwicklungen wie den Debatten um Abtreibung, assistiertem Suizid, Reproduktionsmedizin oder der freien „Wahl“ des Geschlechts klar abzugrenzen. Ich glaube aber, dass gerade in diesen Feldern Klarheit wichtig ist – weil ich die Debatte um das Menschenbild für überaus zentral halte.
Das heißt, die Kirche hat Angst, ins rechte Lager gerückt zu werden?
Ja, wenn wir auch zum Beispiel die ganze Debatte um Familienpolitik oder um die Genderfragen anschauen, da ist gerade in der emotionalisierten Internetdebatte der Reflex, schnell zum rechten Lager eingeordnet zu werden oder zu bestimmten Beschimpfungen ganz schnell da. Ich kenne das aus Reaktionen zu meinen eigenen Kommentaren im Netz. Die Befürchtung, derart eingeordnet zu werden, die ist glaube ich schon größer als die Befürchtung, zu weit nach links zu rücken – in einer medial stärker links oder grün dominierten Debattenkultur.
Da sind Sie eigentlich im selben Boot wie die Union, die hat ein ähnliches Problem. Es führt aber doch zu einer unwahrscheinlichen Selbstbeschränkung, wenn man nicht mehr sagen darf, was richtig ist und was man schon seit Jahrzehnten sagt, nur weil es die AfD jetzt auch sagt.
Das stimmt. Wir haben das Beispiel beim Marsch für das Leben, wo ganz massiv von bestimmter Seite Druck ausgeübt wird, dass man da nicht mehr teilnehmen soll, weil auch AfD-Anhänger da sind, aber tatsächlich ist es unser genuines Anliegen. Die allermeisten, die da mitgehen, sind überzeugte und vor allem friedvolle Christen. Ich habe den Eindruck, dass es gekapert und dann medial instrumentalisiert wird – von ganz rechts wie von ganz links.
Wie viel „C“ sehen Sie noch in der CSU?
Ganz gute Frage, die ich da und dort auch mal mit Abgeordneten diskutiere. Was bedeutet dieses „C“? Ich kenne einige, die in der CSU ein Amt haben, die echt treu sind und auch Interesse haben, ihre Glaubensthemen oder die Werte, die aus dem Glauben kommen, hoch zu halten. Gott sei Dank. Wenn ich dann allerdings im Gespräch auf den Kern des Evangeliums komme, nämlich auf Christus und die rettende und notwendige, gelebte Beziehung zu ihm, dann meine ich zu sehen, dass das für die meisten zu viel ist. Bestimmte „Werte“ und die Berufung auf die Menschenwürde ist dann oft das, was vom „C“ bleibt. Immerhin etwas, aber tatsächlich bleibt die Frage offen, inwiefern die Berufung auf das „C“ zugleich eine Berufung auf das Evangelium sein soll oder kann.
Und wie viel „C“ gehört in die Politik?
Das ist eine schwierige Frage. Wissen Sie, die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren in der Regel Christenmenschen, aktive Gläubige. Und ich glaube, am Anfang dieser Republik, im Rückblick auf die Katastrophe der Nazizeit nach dem Krieg war das irgendwie das Normale bei sehr Vielen. Damals waren übrigens die Kirchen weitgehend voll, es war also selbstverständlich möglich, ein guter Bürger des Staates und gleichzeitig ein guter Christ zu sein.
Ein Beispiel: Wir haben kürzlich Franz Beckenbauer zu Grabe getragen. Und der hatte Anfang der 60er-Jahre als 18jähriger sein erstes uneheliches Kind gezeugt. Und die Gesellschaft hat damals ernsthaft darüber diskutiert, ob jemand, der sich sittlich so verfehlt hat, Nationalspieler sein darf. Heute wäre so eine Frage doch total absurd. Aber das Beispiel macht deutlich, wie damals auch christliche Vorstellungen von dem, was z.B. eine gute Familie ist, zugleich die Gesellschaft durchdrungen haben. Es war also selbstverständlich möglich, ein „guter Katholik“ und ein „guter Staatsbürger“ dieses Landes zu sein. Wie ist es heute? Der Staat, die Gesellschaft, haben sich in vielen Themen weit geöffnet und liberalisiert.
Die meisten Christen gehen da auch irgendwie mit – aber die Lehre der Kirche bleibt doch ziemlich konstant. Das heißt: Irgendwann fragen sich viele Menschen, ob sie nun liberale Bürger der Gesellschaft oder vermeintlich „stockkonservative“ Katholiken sein wollen. Weil beides nicht mehr so einfach geht wie damals. Und auf einmal fragen sie sich – besonders auch Politiker: Wo gehöre ich jetzt eigentlich dazu? Zudem: Sie müssen gewählt werden, da liegt es doch wie von selbst nahe, in Glaubensfragen immer mehr Abstriche zu machen. Und genau das erleben wir allenthalben und seit Jahrzehnten. Daher kommt dann auch unser Ringen um den Gehalt des „C“ bei den Unionsparteien.
Und was sagen Sie zu Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden?
Ich begrüße das grundsätzlich, aber auch differenziert. Ich glaube, dass die jetzigen liberalen Demokratien des Westens vom Menschenbild her im Grunde ihren Ursprung der jüdisch-christlichen Überlieferung verdanken. Und dass wir jetzt dabei sind, diese Wurzeln abzusägen. Aber diese Wurzeln haben aus meiner Sicht zutiefst etwas mit dem Kreuz zu tun. Das Kreuz macht also sichtbar, woher wir kommen. Deswegen zollt man dem auch Respekt etwa in der Präambel unserer Verfassung. Dort ist ja immer noch die „Verantwortung vor Gott“ festgehalten.