Urworte: Maria oder eine Kirche, die Jesus liebt

Im Freiburger HERDER Verlag ist das Buch „Urworte des Evangeliums – Für einen neuen Anfang in der Katholischen Kirche“ erschienen. In der Überzeugung der Autoren brauche es nichts dringender als geistliche Erneuerung. Daher haben sich gläubige Menschen zusammengetan – junge und alte, renommierte und ganz einfache, dazu auch Ordensfrauen und Priester – und in einen kleinen Buch über einen  faszinierenden Stil eines neuen kirchlichen Umgangs nachgedacht. Dieser ist getragen durch das Evangelium und Nachfolge, Gebet und den Heiligen Geist, Jüngerschaft und Reform – und vor allem: die Schönheit der katholischen Kirche. Das Buch gibt es im Passauer Domladen zu kaufen.

Der Beitrag von Bischof Stefan kann hier nachgelesen werden.

„Sind wir noch eine Kirche, die imstande ist, die Herzen zu erwärmen?“, – so hatte Papst Franziskus im Jahr 2013 die brasilianischen Bischöfe gefragt. Dass der Papst zuerst und immer wieder auf die „Herzen“ zu sprechen kommt, ist wesentlich. „Herz“ ist selbst ein Urwort der Schrift, das die ganzheitliche Mitte des Menschen meint. Und mit diesem Wort zielt Franziskus auf die spirituelle Dimension, auf die geistliche Tiefe der Überlieferung und des Glaubens – und auf die Innerlichkeit jedes Menschen, die offen ist, für das Geheimnis der Gegenwart Gottes in ihr. Das Herz ist letztlich diejenige „Instanz“ des Menschen, von der auch nachhaltige Veränderungen eines Menschen ausgehen. Jeder weiß, wenn einer nicht von innen her motiviert ist, etwas dauerhaft zu tun, sondern nur durch äußeren Druck, rationale Überlegungen, systemische Ursachenbekämpfung oder ähnliches, dann hält das in der Regel nicht lange vor. Am Ende kann es sogar krank machen.

Dasselbe gilt für die Kirche. Kirche, das sind wir Gläubigen – zusammen mit allen, die schon vor uns mit uns unterwegs waren und sind, zusammen mit Engeln und Heiligen und mit dem lebendigen Gott, der in unserer Mitte wohnt. Der Weg der Kirche durch die Geschichte zeigt: Veränderungen zum Guten, zur authentischen Erneuerung kommen immer eher von innen als von außen. Sie kommen aus dem Herzen der Kirche, aus der Gestalt heiliger Männer und Frauen, die Jesus mehr als alles andere geliebt haben und lieben. Und die strukturellen Korrekturen, die Erneuerung von Machtverhältnissen, das neue Sagen-können des Glaubens kommen dann mit diesen, kommen im Gefolge tieferer Einsicht und größerer Liebe zu Gott und den Menschen. Ich bin daher überzeugt: Wenn hier über ein ganzes Buch hinweg leidenschaftlich nach den Urworten aus dem Evangelium gesucht wird, aus denen sich eine verunsicherte Kirche kraftvoll regenerieren kann, dann werden wir nicht zuerst Prinzipien oder Ideen erforschen, auch nicht zuerst Strukturen. Auch wenn es wahr ist, dass Strukturen, denen der innere Sinn abhanden gekommen ist, krank werden und als Krankheitssymptom auf die Krise aufmerksam machen. Und dennoch werden auch dann Heilungsaussichten erst von der Rückkehr zur IHM deutlich werden. Zu dem, der in der Kirche da ist – und dem wir persönlich begegnen können.

Und ja, ich halte das für möglich. Ich glaube, dass es möglich ist, über die vielen unterschiedlichen Bilder von Jesus hinaus, die Menschen im Kopf und oft auch im Herzen haben, tiefer zum authentischen Jesus zu finden. Zu dem, dem wir persönlich begegnen können und von dem wir glauben, dass er uns persönlich begegnen will. Und um das vorweg gleich klar zu sagen: Jede unsere Begegnungen mit dem Herrn ist vermittelt, durch Bilder, durch die Schrift, durch die Liturgie, durch unser leibhaftes Beten, durch Begegnung mit anderen Gläubigen und durch noch viel mehr. Als Menschen, die leibhaftig in Raum und Zeit leben, werden wir immer nur vermittelt zu

dem kommen, der sich in radikalster Weise auf diese raumzeitliche Welt eingelassen hat. Im Grunde ist es so mit jeder Person, der wir ehrlich begegnen. Es ist möglich, einer Person von Herz zu Herz, also in tieferer Unmittelbarkeit zu begegnen als etwa mit Menschen, mit denen wir nur „Kontakt haben“. Und dennoch ist auch die unmittelbarste Begegnung von Herz zu Herz, von Person zu Person immer noch leiblich, raumzeitlich vermittelt.

Freundschaft mit dem Herrn – wirklich?

Wir sehen im Blick auf Jesus, dass Christen aller Zeiten die Erfahrung gemacht haben, dass es möglich ist, in eine persönliche Freundschaftsbeziehung mit dem Herrn zu finden und darin zu wachsen. Solche Menschen erleben, dass sie in größere Freiheit finden, dass sie Vergebung ihrer Sünden annehmen können, dass sie liebesfähiger werden und dass ihr Leben von da an voller Sinn und voller Freude geworden ist. Freilich geht so eine freundschaftliche Beziehung mit dem Herrn durch Höhen und Tiefen eines Lebens hindurch, durch Vertrauen und Versagen, durch Fallen und Wiederaufstehen – aber eben mit diesem Herzstück ihres Glaubens: Er geht mit mir – und mit uns! Jesus selbst sagt im Evangelium, dass die Beziehung zu Ihm die wichtigste unseres Lebens ist. Von ihr her kommen alle unsere anderen Beziehungen in die rechte Ordnung. Und Papst Franziskus sagt uns fortwährend: „Die Freude des Evangeliums kommt zuerst aus der Begegnung mit Ihm.“ Die Frage an jeden und jede von uns ist daher: Wie kann das gelingen? Wie kann ich da hineinfinden? Wie kann ich lernen, in dieser Beziehung zu leben? Um in dieser Frage einer Antwort näherzukommen, ist es überaus hilfreich, von Maria zu sprechen.

 

Zunächst scheint mir wichtig zu realisieren, dass Jesus nicht einfach der gute Freund ist, den wir uns gerne vorstellen im Sinne eines guten Kumpels, mit dem ich gerne den Abend mit gutem Gespräch in der Kneipe verbringe. Natürlich, das kann auch eine Seite sein, aber sie ist niemals die Wesentliche an seinem Kommen. Und Jesus ist auch nicht der, der dem Klischee eines „ganz Netten“ entspricht, der mit den buchstäblichen Jesuslatschen durch Israel läuft, alle gern hat und den Kindern über den Kopf streichelt. Auch hier wieder: Das sind womöglich Seiten an ihm, aber niemals wäre er darauf zu reduzieren. Jesus ist zuallererst ein Retter. Er ist nach dem Zeugnis der Schrift gekommen, um die Menschen mit Gott zu versöhnen; er ist gekommen um sie aus ihrer Verfallenheit an Sünde, Tod und Teufel herauszulieben, ihnen zu vergeben und sie in das Reich des Vaters nach Hause zu führen. Er ist gekommen, um sie neu zu Kindern des Vaters, zu Familienmitgliedern Gottes zu machen. Und dazu dürfen wir wahrnehmen: Er ist für diejenigen, denen er begegnet, ein „Erdbeben“. Immer wieder im Evangelium wird geschildert, wie die Menschen angesichts seines Sprechens und seines Wirkens, besonders seiner Wunder, entsetzt sind, erschrocken sind, ihn kaum aushalten können, vor ihm niederfallen oder ihn eben loswerden wollen, so sehr, dass sie ihn am Ende grausam töten. Zugleich ist er maßlos demütig, hingegeben – liebend, heilend, aufrichtend – bis zum freiwilligen Tod durch die schlimmste Foltermethode, die die Antike zur Verfügung hatte: die Kreuzigung. Er kommt vom Vater vor aller Zeit, ist vom Tod auferstanden und heimgekehrt zum Vater. Er hat uns seinen Geist gegeben, damit wir ihm nachfolgen, es ihm gleichtun – und er wird wiederkommen als Weltenrichter, der zugleich einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft.

Das (!) ist der Jesus, der Gottmensch, dem wir uns nähern sollen, der uns einlädt, ihn zu lieben, der uns zusammen mit seinen Jüngern „Freunde“ genannt hat (Joh 15,15), der uns durch Tod, Auferstehung und Geistsendung seinerseits schon unfassbar nahegekommen ist. Wie aber kommen wir ihm von uns her näher? Und wie kann seine Mutter dazu hilfreich sein? Denn davon bin ich überzeugt: Ihre Sendung in der Heilsgeschichte ist zuerst und vor allem die, uns den Sohn nahezubringen, mit ihr den Sohn lieben zu lernen, ihn zu verstehen, uns im Glauben an ihn zu stärken. Von ihr sind zwei universal geltende Sätze des Glaubens überliefert „Mir geschehe nach deinem Wort“ (Lk 1,38) – das ist ihr „fiat“, das Urwort des christlichen Glaubens. Und: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5) – ein Urwort für das Leben eines Jüngers, einer Jüngerin.

Sie steht an der Stelle des gesamten Menschengeschlechts – für uns

Thomas von Aquin sagt, als er die Stelle des Lukasevangeliums betrachtet, in der der Engel Gabriel die Geburt des Erlösers aus ihr ankündigt, Maria stehe hier sozusagen „an der Stelle des gesamten Menschengeschlechts“.  Man könnte ergänzen: Im Grunde sagt sie hier ihr „fiat“ nicht nur anstelle aller Menschen, sondern sogar an der Stelle der gesamten Schöpfung. Denn die biblische Heilsgeschichte erzählt im Grunde von vorne bis hinten, wie sich Gott darum müht, die gefallene Menschheit und die mit dem Menschen gefallene Schöpfung (vgl. Röm 8,19-22) wieder mit sich zu versöhnen, wieder nach Hause zu holen.  Er ist der Gott, der beständig darum bemüht ist, unter den Menschen zu wohnen. Das Offenbarungszelt in der Wüste, der Tempel in Jerusalem sind die Wohnorte Gottes. Gott ist in der Mitte Israels da. Israel lebt zutiefst aus dieser Identität: Wir sind das Volk, in dessen Mitte Gott selbst wohnt. Aber zugleich sagt Paulus – schon im Anschluss an die alttestamentliche Überlieferung – dass Gott „nicht in Tempeln wohnt, die von Menschenhand gemacht sind“ (Apg 17,24; vgl. 1 Kön 8,27). Gott ist vielmehr ein Du – und will zwar inmitten seines Volkes, aber eben zuerst in den Herzen der Menschen wohnen. Und Maria ist die Person, die im tiefstmöglichen Sinn der Heilsgeschichte wahrhaft erster „Wohnort Gottes unter den Menschen“ (Offb 21,3) wird. Sie ist im tiefsten Sinn Tempel – der Ort der eigentlichen Versöhnung Gottes mit der Menschheit. Sie ist damit schon in Person die erneuerte, heile Welt, heile Schöpfung. In ihr ist Jesus als er selbst ganz da. In ihr gibt es keine schlechte Vereinnahmung von Jesus, keine Bilder, die sie sich von ihm macht und die mehr mit ihr als mit Jesus zu tun haben. Sie ist im tiefsten Sinn die Hörende, die Jüngerin des Herrn, die ihm alleine dient.

Die meisten von uns kennen nun folgende Erfahrung: In der Nähe eines oder mehrerer guter Menschen, werden wir, wenn wir uns auf deren Nähe einlassen und uns öffnen, selbst bessere Menschen. Wenn gute Eltern etwa ihre Kinder mit den Kindern anderer Familien spielen lassen, dann ist es ihnen völlig selbstverständlich wichtig, dass ihre Kinder in guten Familien spielen, in denen ein guter Geist herrscht – und nicht beispielsweise in Gaunerfamilien. Denn wie von selbst geht von einer Gemeinschaft ein Einfluss aus – Kinder lernen voneinander und von anderen von Herz zu Herz. Vermutlich haben nicht wenige von uns auch schon spüren dürfen, wie sie ein guter Mensch, der sie liebt, wie von selbst zu einem besseren Menschen gemacht hat. Die Liebe, sagen die Alten, macht den Liebenden dem Geliebten ähnlicher. Und umgekehrt kann es ähnlich funktionieren: Auch die Nachahmung schlechter Eigenschaften ereignet sich Mensch zu Mensch.

Als katholische Christen suchen wir daher immer wieder die Nähe zu Heiligen. Zumeist als Fürsprecher, aber tatsächlich aus einem tieferen Grund: Wir glauben, dass heilige Frauen und Männer ganz bei Gott sind – und gerade deshalb zugleich ganz in unserer Nähe sein können. Heilige sind Menschen, die die wichtigsten Gebote Jesu gelebt haben: Gott mit ganzem Herzen und aller Kraft zu lieben – und den Nächsten wie sich selbst. Wir gehen daher bisweilen pilgernd zu Orten, an denen Heilige begraben sind – in der gläubigen Ahnung, sie haben an diesem konkreten Ort gelebt, sind ihm immer noch verbunden. Und durch die innere Nähe zu diesen Heiligen hoffe ich auch auf deren Nähe zu mir – und so komme ich zugleich leichter mit ihrer Hilfe in die liebende Nähe zum dreifaltigen Gott. Die Heiligen sind ja schon vollendet hineingenommen in die unendliche Liebeskommunikation, in die Liebeseinheit der göttlichen Personen.

 

Und wenn die Mutter des Herrn nun die denkbar intensivste Nähe zu Jesus und mit ihm zum Vater im Hl. Geist hatte, die je ein Geschöpf haben konnte, dann ist es nicht verwunderlich, wenn die allergrößte Zahl der großen katholischen Pilgerstätten weltweit solche sind, die zu Verehrungsorten Mariens führen. Häufig sind solche Orte gar Erscheinungsorte von ihr – und machen dadurch deutlich, dass dieser konkrete Ort besonders geeignet ist, auch in dieser raumzeitlichen Welt mir ihr in Verbindung zu sein. Und um mit ihr und an ihrer Seite dem näherzukommen, nach dem wir uns sehnen.

Zudem: Alle, ausnahmslos alle Menschen, sind Kinder einer Mutter – und wenn es ein einigermaßen gutes Aufwachsen in der Nähe der Mutter gab, dann durften die meisten von uns mütterliche Liebe verstehen lernen und uns von ihr berühren lassen: die Mutter liebt ihr kleines Kind, sie liebt es als heranwachsenden Jugendlichen, sie liebt es als erwachsenen Menschen und sie liebt es immer noch, wenn sie erlebt, dass ihr Kind – wie sie selbst – inzwischen ein älterer Mensch geworden ist. Das Sich-einfühlen in das Sehen, Empfinden und Lieben der Mutter, lässt uns wie von selbst mitspüren, wie die Mutter des Herrn ihren Sohn geliebt hat. Mehr noch: Sie hat ihn als leibliche und zugleich als sündenlose Mutter mehr geliebt als je ein Mensch zuvor und danach. Das heißt: das Kommen zu ihr, das Gehen „in die Kirche“, die sie ja selbst im tiefsten Sinn als Person (als Wohnort Gottes) ist, erleichtert unser Kommen zu ihm. Denn seit ihrer Empfängnis gab und gibt es keine Zeit, keinen Ort, keinen Zustand mehr, in dem sie nicht in tiefster liebender Verbindung und Nähe mit ihrem Sohn gewesen wäre. Maria lieben lernen, bedeutet die Kirche lieben lernen – und in ihr und mit ihr den Sohn mehr lieben lernen.

Mit der Mutter und ihrem Herzen auf den Sohn schauen

Wie geht es, den Sohn lieben lernen? Wir schauen auf sie, auf die Antwortende schlechthin, und gehen mit ihr zum Sohn – fragend, denkend, mitfühlend! Sie ist die eigentliche, die mütterliche Gestalt der Kirche, in der und bei der der Sohn in der Welt daheim ist. Sie empfängt den Höchsten, und gebiert ihn im niedrigsten Ort, einem Viehstall. Ihr ist derjenige verheißen, der auf dem Thron Davids sitzen wird, mit einer Herrschaft, die kein Ende hat, – und sie erlebt, wie er sofort nach der Geburt von Mord bedroht wird und sie flüchten muss. Er macht sich auf, um öffentlich aufzutreten – und sie erlebt, wie viel Ablehnung sogar aus der eigenen Verwandtschaft gegen ihn kommt. Sie bleibt bei ihm, dem Gefolterten und Getöteten, unter dem Kreuz – obgleich damit alle Verheißungen des Engels vor seiner Geburt zunichte scheinen. Sie betet mit den Jüngern um den verheißenen Geist – und ist selbst schon völlig erfüllt von diesem Geist. In ihrer Nähe werden die Jünger zu besseren Menschen! Will heißen zu tieferen Geistempfängern. Sie ist in allem diejenige, die bei ihrem ersten und für alle Welt und Zeit grundlegenden „fiat“ bleibt – und glaubt. Sie ist in gewisser Weise dieses „fiat“ in Person, denn sie ist ja Kirche in Person, sie ist die Mutter der Kirche und sie ist die Mutter derjenigen, die an Jesus glauben und „am Zeugnis für ihn festhalten“ (Offb 12,17)

Gott schaut auf unser Herz – und sie ist das geschaffene, antwortende, betende, bis ans Ende der Zeit schlagende Herz der Kirche. Mit ihr als Gestalt der Vermittlung finden wir in die je tiefere Unmittelbarkeit zum Herrn. Wir dürfen uns jederzeit, wenn wir „in die Kirche gehen“ von der inneren Vorstellung begleiten lassen: Wir sind gerade in ihrem „Wohnzimmer“ – und sie legt uns bei jeder Kommunion den neugeborenen Jesus in die Arme und ans Herz. Und zugleich damit auch den geopferten und gekreuzigten Jesus. Und sie betet mit uns dankbar den Auferstandenen an.

Die Schrift jedenfalls ist überaus klar darüber, dass die Qualität der Beziehung zum Sohn das wesentlichste Kriterium ist für die Rettung, für das Heil, für das Hineinfinden ins Reich des Vaters: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37). „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 10,39). „Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht“ (1 Kor 16,22). „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen.“

Oben habe ich gesagt, dass Maria im Glauben die erste der „heilen Welt“ ist, der erneuerten, ungebrochenen Schöpfung – in der der Schöpfer selbst ganz da ist. Deshalb wird Welt überall dort heiler, wo Gott an ihm selbst verehrt wird. In unserem eigenen Gottesverhältnis ist es doch allzu oft allzu anders: Wir verehren in Gott nicht selten eine Projektion oder einen Erfüllungsgehilfen unserer eigenen Wünsche und Sehnsüchte oder unserer eigenen eingebildeten Größe. Wir verehren und suchen in uns fast immer einen Gott ohne Kreuz, weil – bewusst oder unbewusst – das Ernstnehmen Seines Kreuzes auch das Ernstnehmen unseres eigenen Kreuzes bedeuten würde. Unsere innere Welt ist nicht so heil, wie wir es vielleicht wünschten. Und deshalb ist es für den sich entäußernden Gott nicht einfach möglich, in uns so anzukommen, wie Er sich in Christus offenbart hat.

Und wenn wir das spüren – und aus eigener Kraft nicht einfach eine Lösung dafür haben, dann gehen wir zu ihr. Bisweilen gehen wir auch wallfahrend, betend zu Orten, in denen die Mutter des Herrn besonders verehrt wird. Und wir nehmen dafür etwas in Kauf, das uns hoffentlich ein wenig „objektiver“ macht im Umgang mit Gott, selbst-loser, weniger ichhaft. Wir hoffen dabei, dass der Herr schon mit uns geht, dass er in unserem Gebet schon da ist, dass er uns hilft im Gehen mehr Hingabe zu lernen. Und wir kommen dann an, an dem Ort, wo sie in besonderer Weise „wohnt“ und wo sie selbst „Wohnung Gottes“ ist. Wir dürfen in der Freude der Ankunft etwas spüren von ihrem und seinem Wohlwollen. Es fühlt sich gut an – auch dann, wenn er uns unterwegs hat leiden lassen, am schlechten Wetter, an den geplagten Füßen, an der Müdigkeit des Körpers. Wir kommen an und spüren: Hier ist heile Welt – zumindest heiler als wir sie im durchschnittlichen Alltag erfahren. Wir gehen zu ihr und zu ihm und mit ihr und mit ihm, wie wir durch unser Leben gehen. Bis wir in der „heilen Welt“ ganz ankommen, bis für uns Ostersonntag wird, gehen wir auch durch die alltäglichen Montage und durch die kreuzbeladenen Freitage unseres Lebens. Aber weil sie mitgeht und er schon geheimnisvoll anwesend ist, wird das Leben im Glauben ein fortwährendes Zugehen auf die neue Schöpfung, zu der auch jeder von uns gehören wird.

Und tatsächlich: Maria ist schon der Anfang der neuen Schöpfung. Sie ist jetzt schon die heile, geheilte und geheiligte Welt. Und so, wie wir oft in der Nähe von liebevollen, guten Menschen – wenn wir uns auf ihre Nähe einlassen – bessere Menschen werden, so hoffen und beten wir, dass wir durch die Nähe zu Maria, in die tiefere Nähe zu Jesus und zum Vater finden. Wir hoffen und beten, dass der Heilige Geist uns ein wenig heiler machen kann in unserer Seele. Wir gehen an Wallfahrtsorten womöglich beichten, vielleicht weil wir es schon so lange nicht mehr gemacht haben und weil uns auf dem Weg zum Wallfahrtsort aufgegangen ist, wie gut es wäre, einfach mal wieder alles auszusprechen, was im eigenen Leben dem Liebesangebot Gottes widersprochen hat. Wir lassen uns als Wallfahrer also innerlich zurechtrücken, wir öffnen unser Herz fürs Bekenntnis, wir spüren, wie es innerlich weiter wird, wie mehr Liebe in uns einfließen kann. Und immer wieder, hoffentlich, merken wir, wie es eigentlich die Liebe selbst ist, die uns Heil und Heilung schenkt. Wir hoffen mehr die zu werden, die wir eigentlich sein können: Liebende Menschen, deren Berufung als Christen es ist, Gott als Liebe zur Welt zu bringen – wie sie.

Mein eigener Weg: Vom Kopf ins Herz

Ich darf an dieser Stelle erzählen, dass ich selbst einen Weg von Athen nach Jerusalem, vom Kopf ins Herz – in mein Herz und das Herz aller Dinge – zurückgelegt habe. Mir ging zuerst über das Denken auf, dass die Gestalt Jesu Christi der Schlüssel zu allem ist. Ich habe philosophisch und theologisch über diese Figur nachgedacht und zunächst intellektuell erkannt, dass er die freieste Gestalt war, die je auf dieser Erde gelebt hat. Der wahrhaftigste und liebesfähigste Mensch, den die Welt je gesehen hat. Und ich durfte zugleich verstehen: Er ist der Logos, das Wort, das sich radikal verschenkt – und sie, Maria, ist die tiefstmögliche Antwort und Annahme dieser göttlichen Hingabe in Person. Und als Christen und Christinnen ist keiner von uns Jesus selbst, wir sind alle Antwortende auf das Wort – und lernen mit ihr hoffentlich immer besser und nach und nach mit Leib und Seele, Kopf und Herz antwortende Menschen zu werden. Aber natürlich: Ich bin es auch in aller Begrenztheit. Ich bleibe ein Sünder, mit manchem Abgrund und all den Durchschnittlichkeiten in mir, die ich selbst kenne – und mit den Dingen, die mir noch gar nicht bewusst sind. Aber ich kann festhalten: Als die Bewegung vom Kopf ins Herz ging, war die entscheidende Entdeckung, dass ich dafür „die Kirche“ brauche mit allem, was sie zu schenken hat. Und die noch tiefere Entdeckung war, dass diese Kirche im innersten Herzen eine lebendige Person ist. Mein Ordensvater Don Bosco, der sie als „Hilfe der Christen“ verehrt hat, hat am Ende seines unfassbar fruchtbaren Lebens gesagt: „Sie hat alles gemacht!“. Und ich meine das innerlich nachvollziehen zu können: Wenn ich – in aller Begrenztheit – Jesus lieben gelernt habe – dann war sie entscheidend daran beteiligt. Eben: von Herz zu Herz.

So folge ich Papst Franziskus gerne, wenn er die Kirche an ihren Herzort führt, in die dichteste, herzliche Nähe zu Jesus, die erwartungsvolle Spannung im Pfingstsaal (Apg 1,14). Es war ihr Herz, das die kopflos geflohenen Jünger Jesu wieder zusammenführte in einen Raum, dessen schweigende konstante Mitte die Mutter war. Um Maria herum sind die Apostel im Gebet versammelt und sie wissen, dass etwas Unerhörtes passieren wird. Hören wir noch einmal den Papst, hören wir sein Komm-heim in den Ursprung von allem: „Sind wir noch eine Kirche, die fähig ist, nach Jerusalem zurückzuführen? Wieder nach Hause zu begleiten? In Jerusalem wohnen unsere Quellen: Schrift, Katechese, Sakramente, Gemeinschaft, Freundschaft des Herrn, Maria und die Apostel … Sind wir noch fähig, von diesen Quellen so zu erzählen, dass wir die Begeisterung für ihre Schönheit wiedererwecken?“ Das ist die faszinierende Ganzheitlichkeit, auf die Papst Franziskus den Blick lenkt: Zu, wissen, dass sich in der Kirche alles um Jesus drehen muss, dass von Jesus her alles verstanden werden kann, und dass dazu unser ganzes Herz marianisch geläutertes Herz gefragt ist.

Lange schon berührt mich auch ein Wort von Hans Urs von Balthasar, in dem das Abgründige einer herzlosen Kirche zum Vorschein kommt. Diese Herzlosigkeit hat damit zu tun, dass uns irgendwie Maria und das Marianische abhandengekommen ist, diese ruhige gelassene Nähe zum Herrn, dieses Aroma von Zärtlichkeit und Treue. Hans Urs von Balthasar sagt uns in diesem Sinn: „Ohne Mariologie droht das Christentum unter der Hand unmenschlich zu werden. Die Kirche wird funktionalistisch, seelenlos, ein hektischer Betrieb ohne Ruhepunkt, in lauter Verplanung hinein verfremdet. Und weil in dieser mann-männlichen Welt nur immer neue Ideologien einander ablösen, wird alles polemisch, kritisch, bitter, humorlos und schließlich langweilig, und die Menschen laufen in Massen aus einer solchen Kirche davon.“

Deshalb bin ich dankbar für dieses Buch, das Menschen aus Liebe zum Herrn, zur Kirche und aus Liebe zu den Menschen zusammengebracht hat. Wir schulden ihnen das Evangelium und seine Freude. Ich bin überzeugt: Wenn es uns gelingt, durch unser eigenes Leben, unseren eigenen Glauben und in unserem Miteinander so für Christus durchscheinend zu werden wie Maria und in Maria, dann lassen wir eine Sozialgestalt von Kirche erwachsen, in der wir die Freiheit und Würde jeder einzelnen Person unbedingt anerkennen. Denn es gibt in mir und dir und letztlich in jedem Menschen den Ruf, selbst „Tempel Gottes“ zu sein (1 Kor 3,17). Die Sozialgestalt der Kirche der Zukunft in liberalen Gesellschaften wie der unseren, wird vermutlich bald häufiger aus kleinen, aus marianisch geprägten Gemeinschaften bestehen, in denen Menschen miteinander beten und die absichtslose Liebe einüben – zueinander und zu den Menschen am Rand. Sie werden lernen, miteinander in die Freiheit der Kinder Gottes hineinzuwachsen, sie werden lernen, nicht besitzergreifend und nicht manipulativ zu sein. Sie werden demütig jeden und jede achten – und sie werden die Sehnsucht haben, dass möglichst viele andere mit dem Geheimnis in Berührung kommen, aus dem sie selbst leben: Aus der Gegenwart Jesu und aus dem „fiat“ Mariens.


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