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Musik und Gebet. Oder: Wer singt, betet doppelt!

Musik spricht tiefe Schichten in uns an. Was wir davon für unser Gebet lernen können. Ansprache von Bischof Stefan Oster zum 90-jährigen Jubiläum des Dreiflüsse-Sängerkreises 2014.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, liebe Mitglieder des Dreiflüsse-Sängerkreises,
Sie alle kennen den Satz des heiligen Augustinus: Wer singt betet doppelt! Der Satz wird freilich manchmal ein wenig schnell und platt verwendet, so als ob jeder Gesang schon Gebet und noch dazu besonders intensives, weil doppeltes Gebet wäre. Sie wissen, dass es nicht so ist. Wir alle, die wir im Gottesdienst singen oder es wenigstens versuchen, tun das auch nur mehr oder weniger gut, wir alle wissen, dass wir mehr oder weniger mit dem Herzen dabei sind.

Und selbst ein in musikalisch-technischer Hinsicht einwandfrei gesungenes und gespieltes Lied, das einen geistlichen Text hat, ist deshalb noch lange nicht Gebet. Dasselbe gilt übrigens auch für die Worte, die wir im Gottesdienst sprechen und mitsprechen. Nicht immer, wenn wir was Frommes sagen, beten wir schon, nur weil die Wörter etwas Frommes bedeuten.

Musik spricht uns tief an

Sie ahnen es schon: Wir müssen irgendwie dahinter stehen, hinter dem was wir beten und wie wir beten. Oder besser noch: Wir müssten drinstehen.
Und jetzt erst, wenn wir in unseren Versuchen zu beten wirklich auch getragen sind von einem inneren Glaubensvollzug, wenn wir also mitgehen können, bei dem, was wir sagen, dann wird das Sprechen von Gebetsformulierungen zum echten, zu meinem Gebet. Und nun kommt das mit der Musik hinzu.

Wir wissen alle, dass die Musik in unserem Innenleben Bereiche ansprechen oder zum Ausdruck bringen kann, die das reine Wort nicht anspricht. Die Musik und der Gesang vermögen emotionale Schichten in uns in Schwingung zu bringen, sie können Erinnerungen hervorbringen, Atmosphäre erzeugen, sie können erhaben und groß, froh oder traurig oder auch billig und kitschig sein. Und wir haben auch hier den Eindruck, sie können auch ehrlich und unehrlich sein.

Gebet, von Musik getragen

Und jetzt erst kommen wir in die Nähe dessen, was Augustinus meint, wenn er gesagt hat: Wer singt betet doppelt. Wenn also unser Gebet ehrlich ist, wenn es Gott meint und vom Glauben getragen ist – und wenn wir es dann auch noch gewissermaßen von Musik tragen lassen, dann nimmt uns die Musik, der Gesang in Dimensionen hinein, die eben noch viel mehr zum Ausdruck bringen, als wenn wir nur sprechen. Freilich, manches wird man auch nicht singen können. Und wir haben anderes auch lieber gut gesprochen als schlecht gesungen, aber insgesamt können wir diesen Satz von hier nun bestätigen: Wer singt betet doppelt.

Ein weiteres Phänomen: Die Musik und der Gesang anderer können uns helfen, selbst hinein zu kommen, in die ehrlichere, tiefere Gebetsdimension. Wer hat das nicht schon erlebt, dass er sich von der Stimmung eines Liedes hat mitnehmen lassen. So eine Stimmung kann sich ausbreiten und in uns einfließen, so dass wir bewegt werden von der Atmosphäre, vom Rhythmus, von den Stimmen und Stimmungen und uns innerlich und manchmal auch äußerlich selbst bewegen lassen. Musik kann also hineinführen in echte Gebetshaltung und Gebetsvollzug, wenn wir vorher innerlich eher draußen waren.

Hören und betroffen werden

Liebe Schwestern und Brüder, es gibt sowohl im gesprochenen wie im gesungenen Wort wirklich Kraft, und von der hat Paulus in der zweiten Lesung an die Thessalonicher gesprochen. „Obwohl ihr in großer Bedrängnis wart, habt ihr das Wort mit der Freude aufgenommen, die der Heilige Geist gibt,“ sagt er da. Ist das eine Erfahrung, die unserem Glaubensleben entspricht? Dass wir ein Wort des Glaubens hören und davon wirklich betroffen werden, dass es in uns eingeht und Glauben weckt; so dass sich ein solches Wort in uns einpflanzt?

Ich muss dabei an manches Wort denken, das mich schon wirklich berührt oder auch getroffen hat. Ein Wort, ein Satz, ein Liedtext, der in der Regel, nicht immer aber in der Regel, von Menschen kam, die etwas verstanden hatten, die etwas innerlich berührt, gesehen haben; von Menschen, die eine Erfahrung berichtet haben, die sie mit dem lebendigen Gott hatten. Paulus ist tief davon durchdrungen, dass sein Wort so dicht aus seiner Erfahrung lebt, dass er sagen kann, seine Verkündigung ist das Wort Gottes selbst, und es ist nicht nur sein eigenes, des Paulus Menschenwort.

Ja, es ist wahr

Und tatsächlich: die Kirche hat das, was Paulus aufgeschrieben hat in seinen Briefen, zur heiligen Schrift erklärt. So sehr sind diese Worte inspiriert, voll Geist, dass sie Kraft haben, den Glauben zu wecken und zu vertiefen. Aber wir wissen alle, es ist ein wenig ähnlich wie eben beim Gebet und beim Lied: Wir könnten die Paulus-Briefe hundertmal lesen und es tut sich gar nichts in uns; oft verstehen wir sie auch gar nicht.

Aber dann kommt jemand, der hat sich da hineinvertieft, der hat versucht, die Texte mit dem Geist zu lesen, in dem sie geschrieben stehen, er eignet sie sich an, erspürt etwas in seinem eigenen Leben von dieser Erfahrung, er fängt an zu sprechen und auf einmal erwachen diese Texte zum Leben – und man spürt. Ja, sie sind wahr – und vielleicht spürt man auch: ja, da steckt Kraft drin, es sind Worte voll Substanz, die uns helfen zu leben.

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben

Aber wie geht das, liebe Schwestern und Brüder, wie kommen wir da hinein? Gibt es die Möglichkeit, dass sich uns diese Texte der Schrift selbst erschließen, so dass wir anfangen sie zu beten und manchmal vielleicht auch zu singen – wie die Psalmen, wie andere Hymnen und Lieder in der Bibel.

Den Weg aller Wege zeigt uns Jesus im Evangelium: Im Grunde lässt sich das, was die Juden das Gesetz nennen, die Weisung Gottes, in zwei sehr wesentliche Gebote zusammenfassen: Das erste und wichtigste: Du sollt den Herrn, deinen Gott, lieben, mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste. Das zweite, ebenso wichtige: Du sollst Deinen Nächsten lieben, wie Dich selbst.

Die Latte liegt hoch

Liebe Schwestern und Brüder, ist es nicht so, dass das im Grunde jeder weiß und jeder kennt? Aber ist es nicht auch so, dass die Latte beim Maß der Gottesliebe gefühlt viel zu hoch zu liegen scheint? Nämlich mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft – so dass wir mehr oder weniger resignieren bei diesem Gebot und uns vielleicht gar damit begnügen, dass wir sagen: wenn wir einigermaßen nett zu unserem Nachbarn sind, dann sind wir schon gute Christen?

Aber wenn wir das heutige Evangelium genauer lesen, dann ahnen wir, dass das ziemlicher Selbstbetrug ist. Wir ahnen, dass wir überhaupt nicht gut darin sind, Gott mit ganzem Herzen zu lieben und den Nächsten auch noch wie uns selbst. Und das, liebe Schwestern und Brüder, hängt meistens damit zusammen, dass wir Gott im Grunde kaum kennen. Wie sollen wir etwas oder jemanden lieben, den wir nicht kennen?

Ihn kennenlernen

Nun, wir könnten versuchen, ihn kennen zu lernen. Sicher haben Sie schon die Erfahrung gemacht, dass Sie einen Menschen zum Beispiel schon lange flüchtig kennen und dann gibt es einmal die Gelegenheit zu einer intensiven Begegnung und plötzlich leuchtet ihnen in diesem Menschen eine schöne, edle, tiefe Seele entgegen mit ganz ungeahnten Seiten. Und sie fangen an, diese Person gern zu haben, einfach weil Sie sie näher kennen.

Also: Ja, man kann auch Gott näher kennenlernen. Wie? Sie haben ein großes Buch, in dem hat er hineinschreiben lassen, wie er ist und wer er ist.
Er ist wie Jesus. Er ist Jesus! Ich zähle nur in knapper Skizze ein paar Dinge auf, die mir beim Lesen und Beten der Schrift an Jesus aufgefallen sind. Erstens: Unfassbare Demut. Wie geht er, der Gott ist und zutiefst vertraut mit Gott Vater lebt, wie geht er auf die Allerentferntesten, die Niedrigsten, die Ausgestoßenen, die Kranken zu? Mit welcher Aufmerksamkeit, mit welcher Bereitschaft zu hören, den Glauben zu erspüren.

Autorität, Klarheit, Strenge und Liebe

Zweitens: Unfassbare Majestät: Wie oft sind Menschen erschrocken, entsetzt, erschüttert vor so viel offensichtlich selbstverständlicher Autorität. „Nie hat ein Mensch so geredet“, sagen sie. Oder als Petrus dieser inneren Helligkeit Jesu ansichtig wird, fällt er nieder und ruft: „Herr, geh weg von mir, ich bin ein Sünder.“

Drittens: Ungeheure Klarheit und Strenge, wenn es um den Kampf gegen Bosheit, Heuchelei und Sünde geht. Denken Sie an seinen Zornesausbruch im Tempel oder an seine Wutreden gegen manche Pharisäer: „Ihr Heuchler, Ihr seid übermalte Gräber!“ Sinngemäß: „Ihr redet immerfort von Gott und habt doch keinen blassen Schimmer von ihm.“

Viertens: Unfassbare Liebe. Seinen Weg zu den Folterqualen des Kreuzes geht er in völliger Freiheit, weil er vertraut, dass er das in der Kraft des Geistes kann: Für den Menschen buchstäblich durch die Hölle gehen, um ihm den Himmel wieder aufzusperren.

„Ich und der Vater sind eins“

Und schließlich: Wie er betet zum Vater! So, dass er sagen kann und die Jünger spüren es: „Ich und der Vater sind eins.“
Liebe Schwestern und Brüder, das sind nur ein paar der wichtigen Züge, die uns beim Betrachten unseres Herrn aufgehen. Ich will nur sagen: Wenn Sie einmal von dieser Gestalt angezogen und berührt worden sind, dann fangen Sie wie von selbst an, Ihn gern zu haben.

Und das ist der Weg. Je näher Sie ihm kommen, desto mehr werden Sie Verständnis dafür aufbringen, dass es Menschen gibt, die sagen: „Ja, Herr, Dich mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft lieben, das ist es. Ist doch klar, wen sollte ich denn sonst lieben. Du bist der Herr, der Weg, das Leben. Der einzige, der in einem absoluten Sinn liebenswert ist.“

Musik der Wörter

Und wenn sich etwas von dem in unseren Herzen ereignet, Schwestern und Brüder, dann werden auch unsere Wörter, wenn wir von ihm sprechen, voller und gewichtiger, dann tragen sie etwas vom Geist dessen in sich, der der Hauptautor dieses Buches ist. Dann können sie berühren und Zeugungskraft haben in den Herzen der Menschen.

Und dann fangen wir allmählich auch an, den anderen Menschen wirklich zu sehen mit den Augen des Herrn – und uns selbst ebenfalls. Dann beginnen wir zu ahnen, dass wir aus der Kraft Jesu, aus seiner Gegenwart tatsächlich lernen können, den anderen und uns selbst gleichermaßen zu lieben. Aber eine solche Nächstenliebe ist viel mehr als nur ein wenig nett sein, sie kommt aus Gott, aus der Beziehung zum Christus, den wir lieben.

Gesandt zum Anderen

Er sendet uns dann zum Anderen und zwar so, dass der andere dann viel mehr ist als nur ein Mittel zur Befriedigung meiner Bedürfnisse. Denn dann fange ich an, im anderen Menschen den Herrn selbst zu erkennen, weil er in seinen Geschöpfen ja quasi seinen Stempel, sein Wasserzeichen hinterlassen hat.

Sie sind ihm ähnlich und bleiben es auch, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht gar nicht mehr nach ihm aussehen. Aber die Liebe, die aus Gott kommt, die kann diese Ähnlichkeit wieder berühren und gewissermaßen sogar im Anderen entdecken und mit hervor lieben.

Er ist jede Musik wert

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, liebe Mitglieder des Dreiflüsse Sängerkreises, so sind wir von der Frage nach dem echten Gesang in der Liturgie hindurch gestoßen zum Kern dessen, was, oder viel besser wen wir hier feiern, bitten, anbeten – und von wem wir uns beschenken lassen. Einmal erkannt spüren wir, dass er der Liebenswerte schlechthin ist. Der, der jeden Gesang wert ist.

Und ich danke Ihnen allen, die Sie vom Dreiflüsse Sängerkreis so oft schon Gottesdienste und andere kirchliche Feiern umrahmt haben zu Seiner Ehre. Und ich bitte Sie, suchen Sie immer neu und persönlich auch die Nähe zu dem, den Sie da besingen. Das macht Ihr Beten und Singen tief und gehaltvoll. Und die Menschen spüren es: Er ist unser Leben. Amen.