Abtreibung: Etwas wird nicht Jemand

Zum Thema Abtreibung. Der Redebeitrag von Bischof Stefan Oster beim „Marsch für das Leben“ am 21. September 2019 in Berlin.

Liebe Freundinnen und Freunde des Lebens,
stellen Sie sich vor, Sie selbst sehen eine Ultraschallaufnahme vom Innenleben Ihrer eigenen Mutter – zu der Zeit als sie mit Ihnen schwanger war. Sie sehen also auf dem Bild sich selbst als Embryo. Und stellen Sie sich vor, Sie zeigen die Aufnahme einem anderen Menschen.

Ist es dann nicht völlig selbstverständlich, dass Sie auf den Embryo zeigen und zu Ihrem Gesprächspartner sagen: „Das bin ich“? Und zwar genauso wie Sie auf ein Kinder- oder Jugendfoto von sich zeigen und ebenso sagen würden: „Das bin ich“? Das heißt auch: Im Normalfall würde doch kaum jemand von uns mit Blick auf den Embryo sagen: „Das ist ein menschliches Gewebe oder so etwas, aus dem dann später einmal Ich geworden bin.“

Abtreibung: Etwas wird nicht jemand

Das heißt, die allermeisten von uns haben ein natürliches Empfinden dafür, dass es für unser eigenes Leben immer schon eine menschliche Identität gibt, von Anfang an. Wir waren nicht irgendwann einmal „etwas“ und werden dann „jemand“, sondern wir sind von Anfang an „jemand“. Wir gehören von Anfang an zur Gattung Menschenwesen und sind damit Personen.

Die Embryonenforschung sagt uns tatsächlich auch, dass das Wachstum des Embryos ein kontinuierliches Wachstum ist, ein bruchloses Wachstum ist – weil die befruchtete Eizelle von Anfang an ein ganz selbstständiger Organismus ist, ein sich innerhalb des Organismus der Mutter entwickelnder eigener, neuer Organismus ist. Und nirgendwo ließe sich biologisch festmachen, wann der Übergang erfolgt von etwas zu jemand.

Person von Anfang an

Aus meiner Sicht bedeutet das: Als Angehörige des Menschengeschlechts sind wir immer schon jemand, sind wir Personen von Anfang an, unabhängig von unseren Eigenschaften und Zuständen. Jedes Wesen der Gattung Mensch ist Person – und hat damit Anspruch auf die Anerkennung seiner Personwürde – und ist unbedingt schützenswert. Auch jedes ungeborene Kind.

Und wir bleiben auch Personen, bis wir den letzten Atemzug machen – auch als Menschen im Koma und auch als Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Und wir sind vor allem auch dann Personen, wenn wir nicht gesellschaftlichen Normen entsprechen. Menschen mit Behinderung, Menschen mit nicht eindeutiger Geschlechtszugehörigkeit, Menschen aller Ethnien, aller Religionen, aller geschlechtlichen Orientierungen und andere mehr: Alle sind Personen – und alle haben ein Recht auf Anerkennung ihrer Würde, auf Schutz, auf Begleitung, auf Integration.

Gegen Abtreibung: Mir liegt das Leben am Herzen

Liebe Freundinnen und Freunde des Lebens,
ich gehe heute bei diesem Marsch mit, weil mir das Leben insgesamt und besonders auch das junge Leben am Herzen liegt. Ich halte es als Christ für einen ungeheuerlichen Skandal, dass bei uns, in einem der reichsten Länder der Welt, im Jahr über 100 000 Abtreibungen durchgeführt werden. Das heißt, am Tag werden durchschnittlich knapp 300 ungeborene Kinder getötet, das wären zehn ganze zukünftige Schulklassen – am Tag!

Das ist eine ungeheure Zahl. Aber über den Tod von knapp 300 ungeborenen Kindern am Tag spricht kaum jemand. Abtreibung ist weltweit die häufigste gewaltsame Todesursache, denn nach Angaben der Vereinten Nationen werden weltweit jedes Jahr über 50 Millionen ungeborene Kinder abgetrieben. Es sterben dabei also weltweit jedes Jahr mehr Menschen als in Kriegen, durch Seuchen oder Naturkatastrophen.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Und ein letzter Gedanke, weil dieser Marsch auch gerne politisch instrumentalisiert wird, von links und rechts. Von linker Seite betont man sehr gerne und zurecht, dass es sogenannte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht geben darf. Also Vorbehalte gegen Menschen, nur, weil sie zum Beispiel Ausländer sind oder Flüchtlinge oder Behinderte oder Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung. Das ist richtig, das darf es nicht geben. Alle sind Menschen und haben deshalb unveräußerliche Würde, gleich zu welcher Menschengruppe sie gehören.

Und daher möchte ich eher in Richtung der politischen Linken sagen: Die am tödlichsten bedrohte Gruppe von Menschen in unserer Gesellschaft ist heute das ungeborene Kind mit Behinderung. Rund 90 Prozent der ungeborenen Kinder mit der Diagnose Down-Syndrom in unserem Land werden abgetrieben. Und ich meine, man kann es drehen und wenden wie man will, ein Pränataltest auf Trisomie 21 als Kassenleistung wird diese Quote noch einmal erhöhen. Wo bleibt der Protest gegen diese furchtbare gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?

Abtreibung darf nicht instrumentalisiert werden

Umgekehrt wünsche ich mir, dass dieser Marsch auch nicht von der politischen Rechten instrumentalisiert ist. Das heißt aus meiner Sicht: Wer für den Schutz des Lebens von Anfang bis zum Ende ist, der muss konsequent auch für den Schutz der anderen Marginalisierten sein, zum Beispiel der Armen, der Menschen auf der Flucht, der Menschen, die im Mittelmehr zu ertrinken drohen. Es gibt keine konsequente Einstellung zur Menschenwürde, die die einen Schwachen schützen und die anderen Schwachen weghaben will.

Schließlich möchte ich noch sagen, dass wir als Kirche an der Seite der Frauen stehen, die in psychischer oder materieller Not sind, vor allem an der Seite derer, die ungewollt schwanger sind. Wir sind jedenfalls bereit zu helfen und zu unterstützen, so gut wir können. Kommen Sie zu uns.

Und so danke ich allen, die hier heute mitgehen und sich für das Leben einsetzen, für das Leben aller Menschen, von Anfang bis zum Ende, unabhängig von Zustand, Eigenschaften oder irgendeiner Gruppenzugehörigkeit.

Gottes Segen Ihnen allen.