Susanne Schmidt / pbp

Arm vor Gott! – Requiem für Papst em. Benedikt XVI. in Passau

Die Predigt beim Requiem von Papst em. Benedikt XVI. im Passauer Dom (am 7.1.2023) zum Nachhören und Downloaden und unten zum Nachlesen.

Schrifttexte: 1. Lesung Sir 2,1-9, 2. Lesung Röm 8,31b-35.37-39, Evangelium Mt 11, 25-30

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

die berühmteste Rede, die von Jesus in der Heiligen Schrift überliefert wird, ist die Bergpredigt. Und deren erster Satz wiederum ist überaus programmatisch, er ist ein Schlüsselsatz. Dieser erste Satz aus dem Mund Jesu in dieser Rede lautet: „Selig, die arm sind vor Gott, den ihnen gehört das Himmelreich.“ Die Älteren unter Ihnen wissen vielleicht, dass es in früheren Übersetzungen hieß: „Selig, die arm sind im Geist.“ Denn tatsächlich steht das im Griechischen auch wörtlich so da: „Selig sind die Armen im Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Und natürlich hat man hier in neueren Texten frei, aber zutreffend übersetzt: „arm vor Gott“, weil das wörtliche Verständnis von „arm im Geist“ allzu schnell missverstanden werden könnte im Sinn von: Nur die Dummen kommen in den Himmel.

Ein brillanter Kopf

Nun kann man von unserem verstorbenen Papst Benedikt XVI viel sagen und es wird ja immer schon über ihn unfassbar viel geurteilt, kommentiert, resümiert. Aber in einem sind sich alle Kommentatoren einig, ob sie Benedikt nun gut fanden oder nicht: Einig sind sie darin, dass er ein überaus gescheiter, hochgebildeter, brillanter intellektueller Kopf war. Einer, der einem den Glauben, die Kirche, die Welt, die Gesellschaft, die Geschichte, die Kultur so erklären konnte, dass man neue Einblicke bekommen hat; dass man neu und tiefer verstanden hat, dass man Zusammenhänge sehen konnte, die einem davor nie aufgefallen waren. Das heißt, man könnte über ihn alles möglich sagen, aber nicht, dass er – wie man es vordergründig auslegen würde ­- arm war im Geist. Vielmehr war er unglaublich reich und für andere bereichernd, die sich auf die Begegnung mit ihm und seinem Denken eingelassen haben.

Am Verhältnis zu Jesus entscheidet sich alles

Wir müssen also tiefer graben, um zu verstehen, welche Form geistiger Armut gemeint sein könnte, wenn es sich nicht einfach um die schlichte Alternative von gescheit oder dumm handeln kann. Die neuere Übersetzung, die statt „arm im Geist“ nun „arm vor Gott“ sagt, gibt einen wesentlichen Hinweis. Schauen wir auf das Evangelium, dass wir für dieses Requiem ausgewählt und eben gehört haben. Zunächst der Kontext dazu bei Matthäus: Vor der Stelle, die uns eben vorgetragen wurde, macht Jesus im Matthäus-Evangelium einzelnen Städten Vorwürfe, nämlich Chorazin, Betsaida und Kafarnaum. In Kafarnaum hatte er gewohnt, die anderen beiden waren sehr benachbart und in diesen Städten hatte er offensichtlich Wunder gewirkt, also vor allem Menschen geheilt und Dämonen ausgetrieben. Aber ganz offenbar haben sich die Menschen in den Städten nicht bekehrt, geschweige denn jeweils die ganze Stadt. Und Jesus kündigt den Orten Schlimmes für das Endgericht an. Der Herr macht hier einmal mehr deutlich: Im Glauben geht es um etwas. Denn wenn Jesus der ist, den uns der Glaube zeigt, nämlich der ewige Logos, das Wort des Vaters, der Sinn von allem, in dem alles geschaffen ist– wenn das so ist, dann ist es nicht gleichgültig, wie wir uns zu ihm verhalten. Vielmehr sagt die Schrift hier und an vielen Orten, dass sich letztlich sogar das Schicksal der Welt und jedes einzelnen Menschen am Verhältnis zu ihm, zu Jesus, entscheidet.

Er war im Herzen ein Empfangender

Und nun, in der Folge dieser Weherufe über die drei Städte, schließt sich jetzt im Matthäus-Evangelium unmittelbar das an, was wir eben gehört haben. Jesus preist den Vater, den Herrn von Himmel und Erde, dafür, dass er „all das den Kleinen und Unmündigen offenbart, den Weisen und Klugen aber verborgen“ hat. Und er fährt fort, „niemand kennt den Sohn nur der Vater und niemand kennt den Vater nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.“ Den Vater kennen und den Sohn kennen, das ist nach einem anderen Wort aus dem Johannes-Evangeliums im Grunde identisch mit dem ewigen Leben. Und mit Kennen und Erkennen meint die Schrift oft so viel mehr als nur die Aneignung von Wissen über etwas, so viel mehr als bloßes Bescheidwissen. Erkennen schließt im biblischen Kontext meistens die Dimensionen von Liebe und Vertrauen mit ein. Es schließt einen Glauben ein, der weil er offen vertraut, einen inneren Zugang zum Geheimnis Gottes bekommt. So wie Menschen, die einander mit offenen Herzen begegnen, einander tiefer verstehen lernen, als wenn sie nur äußere Daten übereinander wüssten. Und an dieser Stelle, liebe Schwestern und Brüder, sind wir wieder bei der Armut vor Gott oder der Armut im Geist – und bei Papst Benedikt. Ich habe ihn als einen Mann erleben dürfen, bei dem aus meiner Sicht nie sein Wissen und seine Intelligenz das waren, was ihn am meisten ausgezeichnet hat. Ich habe ihn vielmehr erlebt als einen Mann, für den Jesus die erste Realität seines Lebens war. Jesus war ihm Lehrer und Meister; von Jesus hat er aus der Schrift empfangen. In Jesus hat er die Mitte der Weltgeschichte gesehen und zugleich die Zukunft von allem. Von ihm her und auf ihn hin hat er gelebt. Und wenn wir den Eindruck hatten, Joseph Ratzinger konnte tief und sehr gelehrt über den Glauben und die Theologie sprechen, dann stimmt das natürlich. Aber im Sprechen darüber hat er selbst immer auf die Quelle verwiesen, von der er im Grunde alles empfangen hat. Vom lebendigen Gott, aus seiner Beziehung zu Christus im Hl. Geist. Papst Benedikt war in all seiner Gelehrtheit ein Beter, einer, der vor seinem Gott auf die Knie gegangen ist. Er hätte nie gesagt, dass er seine große Gelehrsamkeit aus sich selbst hatte; er war ein Empfangender; aber ganz offenbar einer, der mit herausragenden Gaben beschenkt war – um mit dem, was er empfangen hatte, auch umzugehen, um es mitzuteilen, um es zu verschenken.

Arm vor Ihm

Das heißt für mich: Vor seinem Gott war er ein Armer – und dieser Gott hat ihn reich gemacht. Und in diesem Sinn war er auch „arm im Geist“ – weil er vertrauen konnte und wusste und lebte, dass man die im Leben alles entscheidenden Dinge nicht einfach aus sich selbst hat. Das sind Dinge, wie die Fähigkeit zu vertrauen, zu lieben, Freundschaft zu leben, vergeben zu können, dankbar zu sein auch in schweren Zeiten – alles so etwas hatte er nicht aus sich selbst. Alles das hat er nur von Gott erwartet und empfangen. Arm vor Ihm.

Er kennt den Hauptautor der Bibel

Und wenn Sie fragen, was das Predigen und Theologietreiben von Joseph Ratzinger von vielen anderen unterschieden hat, dann waren die Hauptqualitäten, die man vordergründig schnell bemerken konnte, seine intellektuelle Brillanz, seine ungeheure und detaillierte Kenntnis der Theologiegeschichte, die Schönheit seiner Sprache, die Fähigkeit komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen und anderes mehr. Wer aber tiefer hingehört hat, gläubig und mit dem Herzen, der wird gespürt haben, dass hier nicht einfach brillante, aber abgehobene Theologie geboten wird. Er wird gespürt haben: Der Mann kennt den, von dem er da spricht. Der kennt auch aus seinem Inneren den Hauptautor der Bibel. Er ist tief mit ihm vertraut. Und wenn die Gestalt seiner Theologie eine Mitte hatte, von der aus sie geeint war, wenn es eine Art vielgestaltige, aber zugleich symphonische Rede war, dann hatte das seinen Grund in eben diesem Vertrauensverhältnis. Wundert es uns dann noch, liebe Schwestern und Brüder, dass die letzten Worte von Papst Benedikt auf dieser Welt, kurz vor dem Todeseintritt, diese waren: Herr, ich liebe dich!? Es ist dieser Herr Jesus, der im Johannes-Evangelium vor seinem eigenen Abschied zu den Jüngern gesagt hatte: „Ich habe euch Freunde genannt.“ Es ist derselbe, der zu ihnen vorher schon gesagt hatte: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“ Es ist derselbe, der sie in seine Nachfolge eingeladen und ihnen dabei nicht verschwiegen hatte, dass es dabei auch um das Kreuz gehen würde. Ich bin überzeugt, liebe Schwestern und Brüder, dass Joseph Ratzinger von seiner Jugend an in diese Freundschaft mit dem Herrn immer tiefer hineingewachsen ist – und dass er jetzt in ihr seine Erfüllung finden darf.

Er war treu in den Prüfungen

Als dieser Freund des Herrn war Papst Benedikt auch treu – gerade in der Prüfung. In der ersten Lesung aus dem Alten Testament war zu hören: „Wenn du dem Herrn dienen willst, dann mach dich auf Prüfung gefasst.“ Und Papst Benedikt wurde geprüft, sein ganzes Leben lang – immer wieder.  Aber wie besonders schwer setzte ihm vor allem die Missbrauchskrise der Kirche zu. Das Jahr 2010 hatte er als Papst weltweit zum „Jahr des Priesters“ für die Kirche ausgerufen – um diesen besonderen Dienst der Kirche ins Licht zu stellen und Berufungen zu fördern. Und gerade in diesem Jahr wurden die Erkenntnisse über den Missbrauch an Kindern und Jugendlichen zu einer Art Tsunami für die Kirche ganz besonders in unserem Land. In den USA oder in Irland war das Ausmaß der Katastrophe schon zuvor bekannt gewesen. Und die bittere Erkenntnis war und ist: Allzu lang hat die Kirche die Institution selbst geschützt und kaum einen Blick auf die Betroffenen gehabt. Und Papst Benedikt selbst war vor allem in seiner Zeit als Münchner Erzbischof von 1977 bis 1982 in höchster Verantwortung. Es war eine Zeit, in der das ganze System Kirche und auch er als Verantwortlicher noch weitgehend blind waren für die dramatischen Folgen, die Missbrauch für einen Menschen haben kann – und viel zu oft auch hat. Es war sicher eine auch eine intensive Prüfung für ihn als in den Erkenntnissen des Münchner Gutachtens vergangenes Jahr gezeigt wurde: Auch er war damals Verantwortlicher in einem System Kirche, das sich vor allem selbst schützen wollte. Es war natürlich auch eine Zeit, in der im Grunde wohl kaum ein Verantwortlicher wirklich erfasst hat und womöglich auch gar nicht in der Tiefe erfassen konnte, was da vor sich ging, vor allem bei Betroffenen. Und der emeritierte Papst hat dies im Nachhinein auch eingestanden und zutiefst bedauert. Aber wir dürfen auch sagen, dass er dann als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom als einer der ersten die dramatische und auch die weltweite Dimension des Themas erkannt und entscheidende Schritte der Veränderung, der Reinigung und der Erneuerung angegangen ist. Hunderte Priester wurden weltweit unter seiner Verantwortung aus dem Klerikerstand entlassen. Viele Male hat er dann übrigens auch als erster Papst Opfer von sexuellem Missbrauch getroffen. Und weil er inzwischen wusste, wie schwer so ein Verbrechen auf einem Menschen lastet, wie häufig unter Betroffenen auch der Suizid ist, hat er sie immer wieder auch als Überlebende angesprochen – nicht nur als Betroffene – und sich um sie gekümmert. Zu diesen Prüfungen wegen des Missbrauchs kamen dann auch noch andere Prüfungen während seines Pontifikates hinzu, einige Beispiele: Etwa die zunehmende Ablehnung des großen Theologen in der eigenen Zunft besonders im eigenen Land. Dann war da seine mangelhafte Information im Umgang mit den Pius-Brüdern, denen er eine Tür zurück in die Gemeinschaft der Kirche ermöglichen wollte. Nur wusste er nicht, dass einer von deren Bischöfen ein Holocaust-Leugner war, was die Stimmung für ihn ihn bei Vielen zum Kippen gegen ihn gebracht hatte. Dann gab es auch noch den Diebstahl wichtiger interner Dokumente durch einen Angestellten in seinem Haushalt und deren Veröffentlichung. Und schließlich war dann auch noch die Erfahrung der abnehmenden Kraft für das große Amt mit zunehmenden Alter.

Sein Rücktritt: Ein echter Schritt ins Heute

Und es waren nicht die kirchenpolitischen Krisen, sondern der letztgenannte Aspekt, die Einsicht der Abnahme seiner Kraft, die ihn 2013 zu einem Schritt bewegt hat, den er als erster Papst nach vielen hundert Jahren gegangen ist: Er ist von seinem Amt zurückgetreten. Und er hat damit einmal mehr deutlich gemacht, dass es ihm nicht um sich, sondern im guten Sinn wirklich um die Kirche geht und um ihren Auftrag in der Welt. Mit diesem persönlichen Schritt der Trennung von Amt und Person hat er – den viele für so wenig modern halten – einen für das Papsttum echten Schritt ins Heute getan. Und aus meiner bescheidenen Sicht hat er damit einmal mehr gezeigt, dass er wirklich ein Hörender ist – im intensiven Gespräch mit Gott und den Menschen und der Zeit. Seine Trennung vom Amt und sein Rückzug ins kleine klösterliche Anwesen im Vatikan hat ihn freilich von seinem Herrn nicht getrennt. Er war wohl die letzten zehn Jahre noch mehr ein Beter im Herzen der Kirche – und zugleich einer, der die Entwicklungen in Kirche und Welt überaus interessiert und wach verfolgt und begleitet hat.

Innerer Frieden und große Freiheit

Ich habe ihn – trotz aller Herausforderungen und Prüfungen – in mehreren Begegnungen immer als einen Mann erlebt, der sich selbst und damit vor allem seinem Herrn treu geblieben ist. Seine tiefe Frömmigkeit hat ihn vor Gott in die schlichte Geisteshaltung des Kindes geführt. Eine Haltung, die nicht nur alles von Gott erwartet, sondern die eben deshalb auch voller Frieden und innerer Freiheit war – auch inmitten von Krisen und Bedrängnissen. Und damit sind wir wieder beim Evangelium dieses Requiems. Am Ende des heutigen Textes hören wir Jesus sagen: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. …. mein Joch drückt nicht – und meine Last ist leicht“. Papst Benedikt hat mir gezeigt, dass das Evangelium auch in diesem Punkt wahr ist. Ich habe ihn stets im inneren Frieden angetroffen – im Bewusstsein, dass sein Richter nicht die Welt mit ihren Urteilen ist, sondern der, der ihn geschaffen, der ihn geliebt hat – und der allen, die ihn lieben, ein barmherziger und verzeihender Gott ist.

Danke für alles

Und auch das, was der Hl. Paulus in der zweiten Lesung von heute gesagt hat, hat sich bei Papst Benedikt als wahr erwiesen und wird sich als wahr erweisen. Paulus schreibt: „Ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Liebe Schwestern und Brüder, es müssen nicht unbedingt buchstäblich unsere eigenen letzten Worte sein. Aber wenn wir alle am Ende unseres Lebens – bevor wir die Augen zumachen – vom Herzen her gelernt haben, zu Jesus zu sagen: Herr, ich liebe Dich – dann haben wir die wichtigste Lektion gelernt, die uns Benedikt lehren wollte. Und für uns Christen ist es zugleich die wichtigste Lektion überhaupt, die ein Mensch lernen kann. Und zwar jeder Mensch, ob er nun intellektuell begabt ist oder nicht. Ein Armer vor Gott kann jeder werden. Und für dieses Vermächtnis sagen wir: Danke, Heiliger Vater, verehrter Papa emerito. Lebe in Frieden bei Deinem Herrn, in der Freundschaft mit ihm. Und bitte vergiss nicht, bei ihm besonders für Dein Heimatland zu beten, für Bayern, für die Kirche in Deinem Heimatland  – und für Dein Heimatbistum Passau. Danke für alles. Amen.