Bild: Susanne Schmidt

Marianische Option und die Zukunft der Kirche

„Joseph Ratzingers Vision der Kirche und ihre Relevanz für die Herausforderungen der Gegenwart“ – das ist das Thema der internationalen Conference of the Joseph Ratzinger/Pope Benedikt XVI Foundation 2022, die vom 21. bis 22. Oktober 2022 an der Franciscan University von Steubenville im Bundesstaat Ohio stattfindet. Bischof Dr. Stefan Oster SDB wurde eingeladen, dort einen Vortrag zu halten, der sich dem theologisch-ekklesiologischen Erbe Ratzingers widmet. Der Vortrag der Konferenz kann hier in englischer Sprache – Ratzinger Conference – the Marian Option – und im Folgenden in deutscher Sprache nachgelesen werden: 

1. Joseph Ratzinger, Maria und die Kirche

Joseph Ratzinger hat in seinem kleinen mariologischen Traktat „Die Tochter Zion“[1] einen Sinneswandel bei ihm selbst im Blick auf die Deutung der Weisheitstexte im Alten Testament eingeräumt. Jahrelang sei er zusammen mit der liturgischen Bewegung der Meinung gewesen, diese Texte dürften allein christologisch verstanden werden. Nun sei ihm – sicher unter dem Einfluss von Hans Urs von Balthasar – immer deutlicher geworden, dass „sie in Wirklichkeit das Spezifische der Weisheitstexte verkennt.“  Zwar sei richtig, dass die Christologie wesentliche Elemente der Weisheitsidee in sich aufgenommen habe. Andererseits aber lasse sich auch nicht alles in die Christologie integrieren. Nicht nur, dass „Weisheit“ sowohl im Griechischen wie im Hebräischen feminin sei, was im Sprachbewusstsein der Antike „kein leeres grammatikalisches Phänomen“ sei. Vielmehr stehe auch „Sophia“ „als Femininum auf jener Seite der Wirklichkeit, die durch die Frau, durch das Weibliche schlechthin dargestellt ist. Sie bedeutet die Antwort, die aus dem göttlichen Ruf der Schöpfung und der Erwählung hervorkommt. Sie drückt eben dies aus, dass es die reine Antwort gibt und dass in ihr Gottes Liebe ihre unwiderrufliche Wohnstatt findet.“[2]

In einer Betrachtung über die „Stellung von Mariologie und Marienfrömmigkeit im Ganzen von Glaube und Theologie“[3] spricht Ratzinger davon, dass vom Blick auf Maria die Kirche personalisiert werde, d.h. als Person gesehen werden könnte und nicht zuerst als Struktur. Zweitens sei das „Marianische“ zugleich „inkarnierend“, das heißt in Maria gebe es eine Einheit zwischen dem konkreten leiblichen, geistigen und gläubigen Leben einer Person und ihrer Gottesbeziehung. Zudem stehe in Maria die Kirche für die Eigenständigkeit der Schöpfung im Gegenüber zum Schöpfer. In Maria werden Einheit und Unterschiedenheit von Leib Christi und Braut Gottes konkret sichtbar. Und weil Maria Urbild von Kirche ist, dann lassen sich diese Attribute auch auf die Kirche hin beziehen: Kirche ist zuerst weiblich. Sie ist zugleich personal zu verstehender Leib Christi und sie ist Braut Christi. Kirche ist die dem Kommen des Wortes Antwortende. In der Kirche inkarniert sich je neu und sakramental Gottes Wort.

Solche starken Attribute, die Maria insgesamt als „Kirche im Ursprung“[4] zugeschrieben werden, lassen nun aber immer wieder auch fragend zurück. Warum dann spielt die Mariologie in den nachkonziliaren Ekklesiologien nahezu durchgehend eine untergeordnete Rolle? Warum sagt Joseph Ratzinger sogar selbst, dass der „Sieg der ekklesiozentrischen Mariologie“ beim Konzil im Nachgang sogar zu einem „Kollaps der Mariologie überhaupt“[5] geführt habe. Eigentümlicherweise gilt dies nun aber auch für die beiden großen Bände der gesammelten Schriften Joseph Ratzingers zur Ekklesiologie selbst.[6] Auch in diesen beiden geht es nur sehr am Rand um die Mariologie. Die wesentlichen mariologischen Texte Ratzingers sind nämlich in dem Sammelband zu „Schöpfungslehre – Anthropologie – Mariologie“[7] zusammengetragen und nicht in die Bände zur Ekklesiologie. Das mag eine Entscheidung der Herausgeber gewesen sein, ist damit aber letztlich auch bezeichnend für nachkonziliare Ekklesiologien im deutschen Sprachraum: Mariologie spielt darin eine sehr untergeordnete Rolle, sofern sie überhaupt berücksichtigt wird. Sie bleibt damit aber auch im akademischen theologischen Diskurs weitgehend außen vor – und reduziert sich zumindest im deutschen Sprachraum überwiegend auf private Frömmigkeitsformen im Gottesvolk. Dabei ist Joseph Ratzinger in seinen eigenen theologischen Überlegungen und Texten zur Mariologie – wie gesehen – immer wieder und schon lange auf dem Weg dahin, diese Marienvergessenheit zu überwinden.

Ich möchte im Folgenden zeigen, wie wir aus der Erfahrung einer personal entfalteten Ontologie Maria nicht nur im Sinne subjektiver Frömmigkeit, sondern auch im objektiven Sinn eines ontologischen „Vorweg“ als unsere Mutter und als Mutter der Kirche verstehen können – und nach meiner Ansicht auch müssen. Und warum das gerade heute unter dem Paradigma der Freiheit wichtig sein kann. Die soll mit der Bereitstellung einiger denkerischer „Tools“ aus einer Ontologie der Liebe in Verbindung mit dem dialogischen Personalismus geschehen.

2. Sein als Liebe

Wir glauben, dass alles Geschaffene aus Gottes absichtsloser Liebe hervorgeht. Die Welt gibt es nur, weil Gott liebt – und nicht, weil er sie braucht. Auch den Fortbestand der Welt in Zeit und Geschichte  erklärt der Glaube mit der grundlosen Liebe Gottes: Er hält sie im Sein.

Der Mensch ist das Geschöpf, auf das hin die ganze Schöpfung angelegt ist. Im Menschen kommt die sich entfaltende Schöpfung zu ihrer Zielgestalt: Der Mensch kann nämlich Gott erkennen und er kann sich selbst in Gott erkennen und kann deshalb von sich her und aus sich als Antwort das Lob Gottes leben und darbringen. Aber weil sich der Mensch aus seiner Lebensquelle innerlich entfernt hat – ist er ein ichbezogenes, erlösungsbedürftiges und dem Tod geweihtes Wesen geworden, das sich schwertut, Gottes Gegenwart zu erkennen. In der Bildersprache der Schrift heißt das: Wir haben das Paradies verlassen. Das Paradies ist das Reich der heilen Beziehungen der Menschen mit Gott, miteinander, mit sich selbst und mit den Mitgeschöpfen. Alles ist getragen von der grundlosen, zugewandten Vaterliebe des Schöpfers.

Um das zu verdeutlichen, stellen wir uns zwei Szenarien vor: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein kleines Kind in einem wunderschönen Garten im Haus Ihrer Eltern, die Sie lieben, die sich um Sie kümmern und die darauf achten, dass Ihnen nichts passiert. Auch wenn Sie draußen im Garten sind, wissen Sie im Inneren Ihres Herzens, dass Mama und Papa im angrenzenden Haus da sind. Sie sehen die Eltern gerade nicht, aber es ist ja der Garten der beiden. Er wird von ihnen kultiviert – und Sie dürfen als ihr Kind dort spielen. Der Garten ist gewissermaßen durchdrungen von der liebenden Anwesenheit von Mama und Papa. Sie spielen deshalb auch in aller Freiheit, Freude und Entdeckerlust – umgeben von der beschützenden Liebe Ihrer Eltern. Und in der wachen Aufmerksamkeit über alles, was Sie da erleben und erfahren.

Und nun stellen Sie sich denselben Garten vor, auch dasselbe Haus. Aber die Eltern sind schon lange weg. Irgendjemand hat Sie in den Garten gesetzt, damit Sie sich dort aufhalten können. Sie wissen nicht, wer und warum. Vermutlich ist es nicht so schwer, sich da hinein zu versetzen: Es ist dieselbe Umgebung, aber Ihre kindliche, emotionale Situation ist eine völlig andere. Sie sind unsicher. Sie haben vielleicht Angst. Sie wissen nichts mit sich anzufangen. Sie hoffen, bald wieder draußen zu sein. Die Wirklichkeit, in der Sie sich befinden, ist materiell und äußerlich dieselbe, aber von Ihrem inneren Zustand her und Ihrem Blick auf diese Welt ist es eine ganz andere. Sie sind auf der Hut, Sie sind in sich eingedreht, Sie haben Angst. Die Welt wirkt jetzt bedrohlich. Es ist wenig in Ihnen da von schöpferischer und spielerischer Freiheit. Im schlimmsten Fall haben Sie einfach das Gefühl überleben zu müssen. Denn Sie haben die wichtigsten Bezugspersonen nicht bei sich. Sie sind ein Waisenkind in dieser Welt. Sie ist kein Paradies mehr.

An diesem Bild können wir verstehen lernen, dass das Reich Gottes ein Reich der Freiheit, der Liebe und der Zuwendung Gottes zu seinen Kindern ist. Gottes Liebe durchdringt alles und gibt aller Wirklichkeit den Glanz seiner Anwesenheit. Die Menschen, die sich als seine Kinder wissen, können diesen Glanz in der Welt und in den Mitgeschöpfen erkennen. Das Reich verdunkelt sich und wird bedrohlich, wenn die Anwesenheit Gottes nicht mehr geglaubt und nicht mehr erfahren wird. Die Welt wird zum Kampfplatz des Überlebens im Gegeneinander, in der Egozentrik, in der Gier nach Macht und Anerkennung, nach Genuss und Reichtum. Und die Folge ist: Wenn Gott nicht mehr als anwesend geglaubt wird, muss das ersehnte Glück, die ersehnte Herzensruhe ausschließlich in dieser Welt gefunden werden – und ausschließlich mit Mitteln aus dieser begrenzten und endlichen Welt. Trotzdem spüren wir immer noch – auch im gefallenen Zustand – dass das ersehnte Glück irgendetwas mit Liebe zu tun haben muss. Denn der tiefste Grund der Existenz der Welt bleibt auch dann noch bestehen, wenn die Menschen gefallen sind und dabei auch die Welt mit sich gerissen haben. Auch die Welt ist todgeweiht, sagt Paulus (vgl. Röm 8,19-20). Und trotzdem bleibt der tiefste Grund für die Existenz der Welt immer noch grundlose Liebe. Und der suchende und fragende Mensch erlebt – oft genug verzweifelt – dass er selbst zu dieser Liebe kaum in der Lage ist.

Gott beantwortet diese verzweifelte Lage des Menschen, indem er immer und immer wieder seinen Bund anbietet. Er macht sich einzelnen Menschen und einem einzelnen Volk erfahrbar, schenkt ihnen die Erfahrung, dass er – trotz allem – der „Ich-bin-da“-Gott ist, der befreit, der durch die Geschichte mitgeht, der neue Identität stiftet, der sich als der Treue erweist und deshalb auch von seinem Volk Treue und Liebe erwartet und das Einhalten der Gebote, die Er ihnen gibt. Im Grunde sind das Offenbarungszelt in der Wüste und der Tempel in Jerusalem paradiesische Orte; Orte der Rückkehr hin zur Begegnung mit dem lebendigen Gott. Israel empfängt von dort Weisheit von und über seinen Gott, Versöhnung mit seinem Gott, Segen von seinem Gott. Wenn das Verhältnis zu Gott in der rechten Ordnung ist, in einer Ordnung, die vor allem im rechten Kult der Verehrung und im rechten sittlichen Tun besteht, dann fließt der Segen, dann schenkt Gott Schutz und Fruchtbarkeit für sein Volk.

Die Texte des Alten Bundes erzählen aber zugleich die Geschichte, wie das Volk immer wieder von Gott und seinem Bund abfällt – und wie daraufhin die Katastrophen über das Volk hereinbrechen. Daher wartet Israel mit seinen Propheten auf den Messias, von dem erwartet und gesagt wird, dass er die Feinde Israels besiegen, das Volk einen und den rechten Kult wieder herstellen würde. Zugleich wird ein neuer Bund angekündigt, den Gott mit dem Volk schließen will – und der den Menschen in Herz geschrieben sei. Ganz offenbar ist es immer von neuem ein Hauptproblem, dass die Gottesverehrung und „das Gesetz“ den Menschen so häufig nur äußerlich bleiben. Wo, so ist die Frage, wo sind die aufrechten Juden, die als „heiliger Rest“ Gott tatsächlich mit ganzem Herzen über alles lieben – und den Nächsten wie sich selbst?

 

3. Erlösung: Gott kommt als Gabe in der Einheit von Fülle und Nichts

Gott will also selbst in die Welt kommen – und er kann es nicht anders denn als Wahrheit und als Liebe. Das heißt: Er braucht einen Ort der Ankunft, der sich ihm so tiefgreifend antwortend öffnet, dass er darin als er selbst kommen kann. Und wenn wir uns nun fragen, wie er als er selbst kommt, dann findet sich die christliche Antwort in der Gestalt des Erlösers, die durch und durch geprägt ist von sich entäußernder Liebe, in der sich Gott zugleich als der Wahre, der Wahrhaftige und der Herrliche offenbart. Die irdische Anfangsgestalt dieser sich entäußernden Liebe wird ein Kind sein, ein Baby, das bei seiner Geburt noch kein Wort sagen kann – und das wir zugleich am Fest dieser Geburt als das Ewige Wort Gottes, den ewigen Logos bekennen und feiern. Die irdische Endgestalt der sich entäußernden Liebe ist die gekreuzigte Liebe. Es ist der nackte, gefolterte, entstellte, getötete Jesus. Hingabe bis in die absolute Erniedrigung am Kreuz. Und Johannes stellt uns diese hässliche Gestalt der Erniedrigung trotzdem als Erhöhung vor, die zugleich Ausdruck der Schönheit, der Herrlichkeit der Liebe Gottes ist. Ebenso im Blick auf das Wort, auf den ewigen Logs, der Christus in Person ist: In dem Augenblick, in dem er sterbend am Kreuz verstummt, sagt er mit seinem ganzen Leben alles, was er zu sagen hat. Das äußerste Liebeswort spricht sich aus, indem es aus Liebe stirbt und nichts mehr sagt.

Das heißt, uns begegnet hier ein Sich-zeigen der Liebe, in der ihre Armut von ihrem Reichtum nicht getrennt ist. Ihre Niedrigkeit, ihre Entäußerung ist von ihrer Größe nicht unterschieden, ihre Fülle nicht von ihrem Nichts. Vielmehr müssen wir sagen, dass die Gestalt der Armut gerade der Reichtum der Liebe ist; die Hässlichkeit des Kreuzes ist die Herrlichkeit der Liebe. Ihre schöpferische Macht zeigt sich als radikale Ohnmacht und sie ist es auch zutiefst

Nun fragen wir uns: Wie und wo betrifft diese Einsicht mich selbst, mein Leben, meinen Glauben? Die Antwort ist: In jeder Heiligen Messe wirst du aufgefordert, auf das Angebot der Liebe Gottes in dieser unfassbaren Einheit von Fülle und Nichts eine Antwort zu geben. Der eucharistische Jesus schenkt sich dir in der Gestalt absoluter Armut: Ein kleines Stück Brot, das noch nicht einmal geeignet wäre auch nur ein Minimum an leiblichem Hunger zu stillen, ist zugleich das Brot des Lebens; das Brot, das ewiges Leben schenkt. In diesem Stück Nichts schenkt sich dir derjenige, in dem aller Reichtum des Universums geschaffen wurde. Das heißt, immer wenn wir Quelle und Höhepunkt allen christlichen Lebens feiern, sind wir aufgefordert, unsere Antwort auf das Geschenk dieser Gabe zu geben. Denn Gott schenkt sich uns in Christus als Gabe.

Und hier zeigt sich uns sogleich ein großes Problem: Wir sind Sünder! Und der Zustand unseres Sünder-seins ist quasi dadurch definiert, dass wir unfähig sind, auf dieses Geschenk in der angemessenen Weise zu antworten. Also so, dass diese Gabe in uns wirksam werden kann, dass sie sich in uns auswirken kann. Sünder-sein bedeutet, dass wir in unserem Denken und Handeln nicht anders können, als Macht und Ohnmacht, Reichtum und Armut, Fülle und Nichts der Liebe voneinander zu trennen. Wir wollen lieben und den anderen genießen – ohne zu leiden und mitzuleiden. Wir suchen den Besitz der Fülle ohne die Armut des Empfangens. Wir wollen Genuss am Anderen ohne uns verwundbar zu machen. Wir dosieren unsere Öffnung und unseren Einsatz so, dass unser aufgeblasenes Ego nicht gefährdet oder verunsichert wird. Wir wollen Gaben empfangen, ohne uns dafür arm und leer machen zu lassen. Und jeder, der schon einmal tiefer darüber nachgedacht hat, was es bedeutet, eine Gabe zu empfangen, der weiß auch darum, dass es eine Art Bandbreite der möglichen Reaktionen gibt – zwischen zwei Extremen.

Stellen Sie sich also vor, Sie sind eingeladen, etwas sehr, sehr Kostbares, etwas sehr Großes als Geschenk zu empfangen. Am einen Ende der Skala Ihres Herzens ist die Gier: Sie erkennen das Große und wollen es sogleich an sich reißen, sich einverleiben, es zu Ihrem Besitz, Ihrem Reichtum hinzufügen. Sie meinen vielleicht sogar, Sie verdienen es. Denken Sie an die Figur des Gollum in der Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“, wie er den Ring der Macht an sich reißt und dabei mit weit aufgerissenen Augen ruft: „Mein Schatz“! Diese Art der Gier kennt vermutlich jeder von uns in sich, der mit einer großen Gabe konfrontiert wird. Das Problem dabei ist natürlich: Die Gier löst die Gabe vom Ursprung, vom Geber. Der Geber kommt in der Gabe nicht mehr vor. Der Gierige bleibt im An-sich-reißen der Gabe der Herr der Lage. Er macht aus der Gabe einen bloßen Gegenstand, den er sich einverleibt. Aber die Gabe verändert die Gier und den Gierigen nicht, im Gegenteil. Womöglich wird die Gier nur noch größer und giert nach immer mehr.

Die gegensätzliche Reaktion zur Gier, gewissermaßen am anderen Ende der Skala, der Möglichkeiten eine Gabe zu empfangen, ist die Zurückweisung. Die Zurückweisung realisiert die Kostbarkeit der Gabe, aber sie realisiert zugleich, dass sie sich womöglich abhängig macht vom Geber. Der Sünder kennt ja im Grunde nur ein Geben wie ein ökonomisches Tauschgeschäft: „Do, ut des“. Ich gebe, damit du mir wieder etwas gibst. Oder: Ich empfange etwas Großes – und der Geber erwartet folglich etwas Großes von mir. Daher ruft die Zurückweisung: „Ich kann das unmöglich annehmen! Das ist viel zu groß für mich.“ Oder: „Das ist mir viel zu viel!“ Und sie gibt sich demütig und unwürdig. Tatsächlich aber ahnt sie: „Wenn ich diese Gabe wirklich an mich heranließe und mit der Gabe womöglich auch den Geber, dann könnte ich nicht mehr ich selbst bleiben.“ Daher ist ihre Geste letztlich Pseudodemut, die sich nicht auf den Geber einlassen will und kann.

Nun: Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen befinden wir uns als Sünder, wir alle, wenn wir dem Angebot der Gabe Gottes ausgesetzt sind. Und zwischen beiden Extremen liegt dann auch noch die Möglichkeit der Banalisierung der Gabe durch den Unglauben: Wenn etwas so gering daherkommt wie ein kleines Stück Brot, dann kann es doch gar nicht so groß sein und vielleicht auch gar nicht von Gott kommen.

Wie also, so fragen wir uns, wie kann Gott als Gabe der Liebe in die Welt kommen, in der unfassbaren Einheit von Fülle und Nichts – wenn die Welt aus Sündern besteht, die ja gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass sie unfähig sind, diese Gabe so anzunehmen, dass Gott in ihnen wirklich gegenwärtig wird? Und zwar ohne, dass die Gabe dabei entweder gierig entstellt oder zurückgewiesen oder ungläubig banalisiert wird? Die Antwort, die Gott in der Heilsgeschichte gibt: Er erschafft sich in Maria eine Antwortende, eine Empfängerin der Gabe, die ursprünglich so heil ist, dass sie mit ihrer ganzen Existenz ein Ja, ein „fiat“ sagen kann, das so authentisch ist, dass Gott tatsächlich in ihr und durch sie zur Welt kommen kann. Und dass dann durch ihren Sohn und mit ihr an seiner Seite ein Weg beginnen kann, auf dem er die Menschen als neue Gottesfamilie sammelt, sie immer mehr befähigt ihr eigenes, existenzielles Ja zu ihm zu sagen – und sie so nach Hause führt, ins Reich des Vaters. Maria ist damit in einem ursprünglichen, ich will auch sagen und es gleich noch besser erklären, in einem ontologischen Sinn „Kirche im Ursprung“. Sie ist es als konkrete Person und damit „personalisiert“ sie Kirche mit dem Wort Joseph Ratzingers vom Anfang. Sie ist konkretester Ort der Inkarnation – und damit im tiefstmöglichen Sinn die Verwirklichung des biblischen Bildes von der „Wohnung Gottes unter den Menschen“ (Offb 21,3). Sie ist zudem einerseits konkrete Bildnerin und Geberin des menschlichen Leibes Christi – und durch ihr „fiat“ zugleich Mutter des mystischen Leibes Christi. Und sie ist schließlich freies Gegenüber zu Gott als Tochter des Vaters, Braut des Geistes und Mutter des Gottessohnes. Und wenn Jesus im Abendmahlssaal und auf Golgotha den endgültigen, den neuen Bund mit den Seinen vollzieht und vollendet, dann war er in ihr als der Ersterlösten schon im Voraus vollzogen. In ihr ist die „neue Schöpfung“ (Gal 6,15) schon da, ehe wir alle eingeladen sind, es durch die „neue Geburt“ (vgl. 1 Petr 1,23 und Joh 3,3) ebenfalls zu werden. In diesem Sinn ist sie die befreite Freiheit, die uns allen voraus ist – und die uns zeigt, wozu wir berufen sind.

Vielleicht fragen nun einige von Ihnen:  Warum wirkt Gott diese Ersterlösung nicht einfach in allen von uns? Warum bekommt nur dieses junge Mädchen aus Palästina dieses Privileg des Befreitseins von Sünde – und wir alle nicht? Wenn Gott doch alle erlösen will? Zunächst muss man dazu sagen: Dieses Privileg ist mit kaum begreifbaren Kosten verbunden. „Dir wird ein Schwert durch die Seele gehen“, prophezeit der alte Simeon im Lukasevangelium (Lk 2,35). Wenn sie tatsächlich nach unserem Glauben frei von Sünde ist, hat sie das liebesfähigste Herz, das je ein Geschöpf nach dem Sündenfall hatte. Sie hat es zuerst und vor allem für ihren Sohn Jesus. Man stelle sich daher ihr liebendes und gläubiges Mitgehen durch seine Lebens- und Leidensgeschichte vor – bis sie schließlich unter dem Kreuz des qualvoll Leidenden und Getöteten steht. Und hier kann man sich die abgründige Frage stellen: Wie mag es ihr am Karfreitag und Karsamstag gegangen sein. Welchen Tod ist sie, die Liebende schlechthin, in ihrer Seele gestorben? Und hat sie auch am Karsamstag immer noch geglaubt, mitten im tiefsten Schmerz? In jedem Fall stimmt es: Ihr ist ein Schwert durch die Seele gegangen! Sie ist darin gewissermaßen die Antwortgestalt von der Einheit von Armut und Reichtum, von Fülle und Nichts. Ihre Liebe ist so reich, dass sie sich so verwunden lassen kann.

Ein zweiter Aspekt: Die Erwählungen Gottes beginnen in der Geschichte stets mit Einzelpersonen als Bundespartnern, die dann jeweils Bedeutung erlangen für die Vielen: In der Erwählung von Noah für seine Familie, in Abraham, Isaak und Jakob für ein Volk aus Bruderstämmen, in Mose für ein Volk im verheißenen Land, in David für eine königliche Nation. In Jesus kommt Gott selbst in sein Volk – und er kommt durch eine Frau aus seinem Volk. In seinem Handeln an ihr und in ihrer Antwort an ihn vollzieht sich endgültige Versöhnung zwischen Gott und seiner erneuerten Schöpfung. Im Kolosserbrief lesen wir über ihn, er sei der „Erstgeborene der ganzen Schöpfung“. Im Blick auf seine Mutter dürfen wir diese Stelle auch in dem Sinn lesen, dass er zugleich der Erstgeborene der durch ihn erneuerten Schöpfung ist; auf dass die vielen durch Christus Erlösten, denen er als Erstgeborener ein Bruder ist (vgl. Röm 8,29), aus dieser Verbindung ebenfalls neu geboren werden.

 

4. Neue Geburt

Nun möchte ich versuchen, Sie verstehen zu lassen, wie das denkbar und wie es erfahrbar ist. Wenn ich vorher sagte, die Schrift erzählt von Gottes Erwählungen von Einzelpersonen, die dann für die Vielen relevant werden, so sprechen wir dabei auch von „korporativen Persönlichkeiten“. Abraham ist auch „Vater der Menge“ und ist im Alten Bund prominentestes Beispiel für eine Person, aus der zunächst „dem Fleisch nach“ zahllose Nachkommen hervorgehen, die sich auf ihre leibliche Abstammung auf ihn berufen – als wesentliches Kennzeichen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sich dann insgesamt als Verheißungsträgerin versteht. Paulus deutet die Vaterschaft Abrahams dann neu: Aufgrund seines Glaubens ist er der Verheißungsträger und „Vater des Glaubens“: „Also gehören alle, die glauben, zu dem glaubenden Abraham und werden wie er gesegnet.“ (Gal 3,9). Neue Geburt, mithin Aufnahme in die Gottesfamilie, vollzieht sich nun nicht mehr „dem Fleisch nach“ (vgl. Röm 9,5), sondern aus Glauben, und zwar für alle, die Jesus „aufnehmen“. Das sind dann nach dem Johannes-Evangelium all jene, „die die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ (Joh 1,13). Die erste und damit ursprünglichste dieser Aufnehmenden ist Maria. Ihr „fiat“ ereignet sich nicht aus der Zustimmung zu einer leiblichen Vereinigung, sondern aus Glauben. Wir verehren sie in diesem Sinn auch als „Mutter unseres Glaubens“[8].

Als Ordensmann und Mitglied der Salesianer Don Boscos möchte ich Ihnen verdeutlichen, wie eine solche Mütterlichkeit tatsächlich auch in einem personal-ontologischen Sinn verstanden werden kann. Ich gehe dazu zunächst von geistlichen Gemeinschaftserfahrungen aus. Die großen Gründergestalten unserer Orden haben jeweils eine eigene Sendung, ein Charisma. Ihre charismatische Gestalt wächst aus der Intensität ihrer Zustimmung zu ihrer Berufung durch Gott. Wenn wir ihre Biographien oder ihre Texte lesen, dann spüren wir, wie sie „mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft“ auf den Anruf Gottes geantwortet haben, wie sie ihr „fiat“ gesagt und ihr ganzes Leben als ein solches „fiat“ vollzogen haben.  Und offensichtlich bekommen solche Gründergestalten durch ihr Leben mit Gott eine solche innere Weite und Tiefe und einen Radius der wirkmächtigen Ausstrahlung, dass andere Menschen in ihre Nähe gezogen werden. Das Beispiel meines Ordensvaters Don Bosco mag das verdeutlichen: In seiner ersten Gründung in Turin hat er so prägend gewirkt, dass die vielen Jugendlichen, die in sein Oratorium kamen, wie selbstverständlich „zu Don Bosco“ gingen. Das heißt: Sie gingen nicht in die Einrichtung für Jugendliche xy im Stadtteil Valdocco, sie gingen vielmehr an einen Ort, der von Don Boscos Anwesenheit, von seiner Liebe und Väterlichkeit geprägt und atmosphärisch durchdrungen war. Selbst dann noch, wenn er gerade nicht da war. Er konnte jedem die Erfahrung schenken, dass er es wirklich gut mit ihm meinte – und dass es deshalb auch Gott gut mit ihnen meinte. Sie spürten, dass Don Bosco aus einer tiefen Verbundenheit mit Christus gelebt hat. Diese Erfahrung hat nicht wenige von ihnen dazu geführt, dass sie ihr Leben ebenfalls in den Dienst der Sendung Don Boscos stellen wollten. Man kann sagen: Das große „fiat“, das Don Bosco gesagt und gelebt hat, hat nun auch in ihnen ihr eigenes „fiat“ mit erweckt. Durch Don Boscos Dienst sind sie sensibel geworden für den Anruf Gottes in ihrem eigenen Leben. Und so konnten Sie ihr eigenes Leben auf denselben Grund stellen, auf den hin Don Boscos „fiat“ für sie durchsichtig geworden war.

Das wundersame Wirken der Gnade einer solchen großen Sendung wie bei Don Bosco bewirkt nun mehreres. Zunächst lernen Menschen „im Geist Don Boscos“ zu leben. Allerdings lehrt die geistliche Erfahrung, dass so ein Leben nicht einfach bewirkt, dass ein Mensch eine Art Kopie Don Boscos wird, sondern vielmehr wird er tiefer er selbst – und damit auch ganz unterschieden von der Gründergestalt. Trotzdem spüren Brüder der Gemeinschaft: Wir sind ganz unterschiedlich, aber wir leben aus demselben Geist. Es ist der heilige Geist, der aber in Don Boscos Leben einen besonderen Charakter, einen besonderen Stil des Lebens und eine Vielfalt von unterschiedlichen Eigenschaften in Menschen hervorgebracht hat. Salesianer erkennen einander – und das wundersame ist eben auch dies: Sie erkennen einander auch durch verschiedene Kulturen hindurch und über verschiedene Generationen hinaus. Manchmal, wenn ich Briefe oder Mails von Mitbrüdern aus dem Ausland bekommen, vor allem aus dem südeuropäischen Ausland, dann beenden Sie Ihre Zeilen mit „in Don Bosco, Dein Mitbruder Soundso“ – also ähnlich wie viele von uns schreiben: „In Christus, Dein Soundso“. Mich interessiert hier dieses Wörtchen „in“ – und ich würde es so deuten: Die Herzensweite und die Wirkung Don Boscos schafft eine Atmosphäre der Gemeinsamkeit, „in“ die man eintreten kann, oder „in“ der man ein Mensch ist, der dazugehört. Ähnlich wie wir davon sprechen, was sich „in“ unserer Familie ereignet oder „in“ unserer Freundschaft. Gelingende Beziehungen leben in und aus einem spezifischen Geist, der prägend ist und tragfähig ist und Herzen bildet und verändert. Wir leben also in und aus der Sendung und dem großen Herzen Don Boscos und seines „fiat“. Und in dem Maß, in dem ich mich selbst wieder dafür öffne, ermöglichen auch ich, dass diese „In-Erfahrung“ auch durch mein Wirken weitergeht und wieder neu erfahrbar wird für andere.

Ich erzähle diese Dinge aber mit dem Blick auf Maria – unter mehrfacher Rücksicht. Zunächst kann ich sagen: Mein eigener Versuch, ein „fiat“ zu meiner Berufung als Salesianer zu sagen, steht in gewiss Weise tatsächlich „in“ dem „fiat“, das ich durch die Begegnung mit anderen gläubigen Menschen, besonders mit Salesianern erlebt habe – durch ihre Herzensweite und ihren Glauben, durch ihre Durchsichtigkeit auf Jesus und durch ihr eigenes Geprägt-sein von Don Bosco. Tatsächlich kann man sagen: Jeder von uns Salesianern steht in einer eigenen Weise „im“ fiat Don Boscos, in seiner Sendung, in seiner großherzigen Antwort auf den Anruf Jesu. Don Bosco ist in diesem Sinn ein Mit-Zeuger meiner Berufung durch Gott – und deshalb ein Vater – und Vater unseres Ordens. Andere Menschen, vor allem andere Salesianer sind es auch, sind mir auch väterliche Mit-Zeuger meiner Berufung. Aber wir sind uns vermutlich weitgehend einig darin, dass Don Bosco für diese Art Christsein zu leben, wie wir es als Salesianer tun, der ursprüngliche Zeuger, der Vater ist. Paulus schreibt in diesem Sinn an die Korinther: „Hättet ihr nämlich auch ungezählte Erzieher in Christus, so doch nicht viele Väter. Denn in Christus Jesus bin ich durch das Evangelium euer Vater geworden.“ (1 Kor 4,15) Das tiefste, am weitesten ausgreifende und durchdringende „fiat“ kam für mein Salesianer-Leben von Don Bosco; die Radikalität seiner Antwort auf den Anruf Gottes hat mit seinem Lebensstil und seiner Sendung vor allem zu jungen Menschen seine Zeugungskraft auf diese Weise durchdringend gemacht – durch Zeiten und Generationen hindurch.

Wir sehen aber an dieser Deutung auch: Eine Glaubensgestalt der Kirche, eine spezifische Sendung geht aus einer oder mehreren anderen hervor – und zwar bei jedem und jeder von uns. Wir sagen eher oberflächlich: „Wir geben den Glauben weiter“. Aber tatsächlich bedeutet den Glauben und eine bestimmte Glaubensgestalt durch einen anderen lernen, einen Prägungs- und Zeugungsvorgang, der uns je mehr zu neuen Menschen macht, zu neu Geborenen. Freilich jeweils auch mit unserer eigenen Fähigkeit und unserem eigenen Wollen, eine tiefe Antwort darauf zu geben.

Von hier nun einen Schritt weiter: Wenn ein „fiat“ aus anderen „fiat“ mit hervorgeht, dann können wir uns fragen: Gibt es ein ursprüngliches „fiat“, ein ursprüngliches „Ja“ zu Gott, aus dem alle anderen Berufungen und Sendungen in der Kirche hervorgehen? Und die Antwort muss konsequenterweise sein: Es ist das „fiat“ von Maria. Alle, alle Christinnen und Christen, die mit ihrem Leben eine authentische Antwort auf das lebendige, gekreuzigte und auferstandene Wort Gottes geben, geben es auch aus diesem ursprünglichen „fiat“, dass Maria gesagt und mit ihrem ganzen Leben gelebt hat. Und weil sie – wie wir glauben – in den Himmel aufgenommen ist, sagt sie es mit allen, die an Jesus glauben, immer neu. Sie ist deshalb in einem bestimmten Sinn die Kirche oder auch die Mutter all derer, die Kirche sind. Aus ihrem „fiat“ wird letztlich jedes weitere „fiat“ mit-geboren. Und daher ist es auch keine spirituelle Merkwürdigkeit, dass im Grunde alle großen Ordensgründerinnen und -gründer zugleich große Verehrerinnen und Verehrer der Mutter Gottes waren und sind. Aus ihr erfolgt Neugeburt, aus ihr, die unter dem Kreuz steht, in dem Augenblick, da Jesus seine Lebenshingabe vollzieht und sie als „Frau“ anspricht: Die sich entäußernde Hingabe Jesu schenkt sich derjenigen, deren „fiat“ auch unter dem Kreuz offen auf ihn hin bleibt. Und so entstehen aus dieser Fruchtbarkeit des Kreuzes und ihrer Annahme neue Familienverhältnisse. Der „Jünger, den Jesus liebte“, wird „neu geboren“, wird jetzt ihr Sohn: „Frau, siehe dein Sohn“ – „Siehe deine Mutter“ (Joh 19,26f)

 

5. Die Sozialgestalt von Kirche

Stellen Sie sich nun noch einmal vor, Sie sind Familienvater oder -mutter und haben ein kleineres Kind, das allmählich auch außer Haus geht, um mit anderen Kindern in anderen Familien zu spielen. Mit großer Sicherheit ist es Ihnen am liebsten, wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Kind in einer anderen Familie spielt, in der ein guter Geist herrscht; in der die Eltern mit den Kindern liebevoll umgehen und diesen Umgang auch ihren Kindern beibringen. Und Sie hätten es umgekehrt nicht gern, wenn das Kind in einer Gaunerfamilie spielen würde, in der es erfährt, wie man einander austrickst, in der vielleicht Jähzorn herrscht und Gewalt, in der das Kind Haltungen und eine Sprache lernt, die es im schlechten Sinn beeinflussen könnten. Das Kind könnte dort in eine innere Disposition geführt werden, die es weniger offen macht für das Gute, Wahre und Schöne – und die anfälliger macht für Verführung zum Schlechten, zur Lüge, zum schnellen Vergnügen auf Kosten anderer oder anderes mehr. Warum wäre das Kind dazu leicht beeinflussbar? Weil es gerne mit anderen spielt, weil es gerne angenommen sein will, weil es ein offenes Herz hat und weil es dann lernt, dass die anderen Kinder wie von selbst die schlechten Verhaltensweisen offenbar gut finden. An diesem kleinen Beispiel sehen wir: Es gibt Gemeinschaften, in denen ein guter Geist herrscht und solche, in denen ein schlechter Geist dominiert. Wenn wir in diesem Sinn von Geist sprechen, geht es immer um ein Beziehungsgeschehen, eine Atmosphäre zwischen den Menschen, die aber natürlich ihren Ursprung in einzelnen Menschen hat und darin, wie sich Menschen aufeinander und damit auf den Geist des anderen einlassen. Auf diese Weise erzeugen Menschen miteinander auch einen gemeinsamen Geist, eine gemeinsame Atmosphäre; das Ganze einer solchen Gemeinschaft ist atmosphärisch gesprochen mehr als die Summe seiner Teile. Und so wird es in allen menschlichen Gemeinschaftsformen dieser Welt gemeinsamer Geist erzeugt, und zwar überall als „gemischte Atmosphären“ geben; Atmosphären, die von unterschiedlichen Haltungen, Gefühlen und Motiven geprägt sind. Wir Salesianer Don Boscos bemühen uns, in unseren Häusern für die jungen Menschen und füreinander einen „salesianischen Geist“ zu leben. Und wir hoffen dann, dass dieser Geist, dann nicht nur unser eigener ist, sondern dass durch uns der Geist Gottes mitwirkt an der Erzeugung einer geistvollen, salesianischen Atmosphäre für die Vielen.

Das Problem ist aber: der Satan ist ebenfalls reiner Geist und tarnt sich, so der Apostel Paulus, als Engel des Lichts. Das heißt: Sehr häufig erscheint eine vom schlechten Geist verdorbene Gemeinschaft zunächst als gut, als anziehend, als leuchtend. Man lässt sich einnehmen, man lässt sich – wie wir sagen – in den Bann ziehen. Und wird im schlechten Fall Gefangener im Bann einer verdorbenen Gemeinschaft.

Wenn es nun – geistlich gesprochen – nur ein einziges Geschöpf gegeben hat, das so heil war, dass es durch und durch, leiblich, seelisch und geistig von Gottes Gegenwart durchdrungen war, dann ist es Maria. In ihr und durch sie hat der Geist den atmosphärischen Raum für die Heilige Familie eröffnet, der zugleich der Geist Jesu war. In ihrem Atemraum ist Jesus als Kind zu sich selbst gekommen – und hat, wie die Schrift sagt – „an Weisheit zugenommen“ (Lk 2,51) und „Gottes Gnade ruhte auf ihm“ (Lk 2, 40). Wenn Er selbst der Gottmensch war, „erfüllt vom Heiligen Geist“ (Lk 4,1)  und sie die Braut des Geistes selbst, die „überschattet vom Heiligen Geist“ (Lk 1,35) dem Kommen Gottes weder leiblich, noch seelisch, noch geistig einen Widerstand entgegen gesetzt hat, so dass sie Gottesgebärerin genannt wird, dann ist die Atmosphäre „zwischen“ ihnen, also das, was Martin Buber „das Zwischen“ nennt, schon Anbruch des Reiches Gottes. Ihr radikales „fiat“ zu allem, was sie mit Jesus erlebt, durchträgt bis zum Ende, ermöglicht seine bleibende Gegenwart in ihrem Herzen und umgekehrt. Aus dem tiefen Zueinander der beiden, entsteht ein geistiges Zwischen, eine geistige Atmosphäre, die schon in dieser Weltzeit Gegenwart des Reiches Gottes ist. In ihr, in ihm und im Zueinander der beiden ist Reich Gottes konkret da. Und der „Jünger, den Jesus liebte“ (Joh 1926), der wird unter dem Kreuz, hineingenommen in das „Zwischen“ der beiden, er findet in die „neue Familie“ – und wird aus ihr „getauft“ und darin „neu geboren“. Das Kreuz ist hier der Ort, an dem auch das „fiat“ der Mutter ihre letzte Bewährungsprobe hat. Auch jetzt ist sie noch dabei und sagt immer noch ihr „mir geschehe nach deinem Wort“ mit ihrer ganzen Existenz, mit der sie die Folter des Gekreuzigten mit ausleidet. Und er selbst, das Wort selbst, der Erlöser am Kreuz, sagt im selben Augenblick mit seiner Liebeshingabe alles; seine freiwillige Hingabe in den Tod ist seine schöpferische, liebende, letztgültige Zusage an die Seinen, dass er bei ihnen sein will, was auch immer die Welt ihm antun wird – in der Kraft des Geistes. „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30). In Maria ist durch die äußerste Leidenszeit hindurch die Verbundenheit mit ihm lebendig geblieben. Ihre Verbundenheit, der Geist zwischen ihnen ist nicht mehr trennbar. Sie ist damit schon ganz hinein genommen ist den dreifaltigen Liebesaustausch. Der Glaube bestätigt auch ihr „Vollbracht-sein“ durch die Überzeugung, dass sie mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen ist.

Wenn aus dieser Verbindung unter dem Kreuz derjenige „neu geboren“ wird, den „Jesus liebte“, dann gilt dies für den Jünger gewissermaßen von innen nach außen. Es ist ein Geburtsvorgang aus Glauben. Er ist bis unter das Kreuz gläubig mitgegangen und deshalb mit hinein genommen in das Verhältnis von Sohn und Mutter, die hier zur Mutter der Kirche wird. Der Glaube wird sein ganzes Leben durchstimmen. Er ist der Sohn der Mutter, Bruder des Herrn und Kind des Vaters. Er wird bereit sein, mit seinem ganzen Leben zu bezeugen, wer und was das neue Leben in ihm ist. Joseph Ratzinger hatte über Maria gesagt, durch sie sei Kirche personalisiert, was ich hoffentlich zeigen konnte. Aber das Marianische stehe, so Ratzinger, auch für „das Inkarnatorische“. Wir könnten nach dem Bisherigen sagen: Wer gläubig in das „Zwischen“ eintritt und sich davon ergreifen und berühren lässt, wer glaubt, dass er „in“ Maria lernt, sein eigenes „fiat“ zu sprechen, der wird es immer mehr mit seinem ganzen Leben lernen. In dem wird der ewige Logos weniger ein bloßer „conceptus“, ein bloßer Begriff oder Gedanke, sondern eine lebendige „conceptio“, eine Empfängnis in Fleisch und Blut. Er wird tiefer er selbst und zugleich immer tiefer Mutter, Bruder, Schwester des Erstgeborenen selbst (vgl. Mk 3,35). Er wird selbst einer, der Christus als Liebe zur Welt bringt. Und drittens, sagt Joseph Ratzinger, steht das Marianische für die Selbständigkeit der Schöpfung im Gegenüber zum Schöpfer. Denn in Maria sagt die Schöpfung ein freies Ja zu ihrem Schöpfer. In ihr ist Kirche nicht nur Leib Christi – im Sinn von untrennbarer Einheit mit ihm. In ihr ist sie auch Braut Christi – im Sinn eines freien, selbständigen Gegenüber. In ihr wird also zutiefst deutlich, dass die Liebe des Herrn die Kirche und in ihr die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung radikal durchwirken will. Er will der Todgeweihten neues Leben geben; er will, dass sein Leben in ihren Adern fließt – und insofern ist sie „sein Leib“. Aber gerade das Geheimnis der Liebe macht deutlich: Das „eins in der Liebe Christi“ führt ebenso tief in das eigene, selbständige Selbstsein. Gott, der Künstler, erschafft uns neu, indem er uns in seiner Kirche aus seiner Liebe neu gebiert – aber Künstler schaffen aus derselben Liebe immer Unikate. Teilhabe mit Maria am Liebesgeheimnis der Dreifaltigkeit bedeutet: Einswerden in Christus und gerade darin je tiefer ich selbst werden – als ganzer Mensch mit Leib und Seele.

Damit schließt sich der Kreis zum Anfang: In Maria ist Kirche personalisiert; ihre Gegenwart, ihr fiat hilft auch anderen, Christus in sich „Fleisch und Blut“ werden zu lassen. Sie ist „inkarnierend“. Und sie ist die geschöpfliche Freiheit, die Braut im Gegenüber zum Bräutigam. Ihr „fiat“ ist aus der Gnade ermöglicht – und kommt gerade deshalb auch voll und ganz aus ihr selbst, aus ihrer Freiheit vor Gott.

 

6. Was heißt das für uns?

Ein in Amerika unter Katholiken populäres Buch von Rod Dreher heißt „Die Benedikt-Option“. Der Autor macht darin einen Vorschlag, wie sich Christen in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft gegenseitig stärken könnten. Ich würde in der Übernahme des Begriffs und im Anschluss an Joseph Ratzingers Denken meinen Vorschlag „die marianische Option“ nennen. Wo wir lernen zu glauben, dass Maria uns ein seinsmäßiges, personales Vorweg ist, in der und mit der wir lernen unser eigenes „fiat“ zu sprechen, da finden wir in eine Freiheit, die lebt aus einem „In-Christus-sein“ das zugleich ein „Gegenüber-zu-Christus“ ist. Oder in den biblischen Bildern: Wir gehören zum mystischen Leib Christi und sind zugleich Kinder der Braut Christi. Wir sind „neu geboren worden, nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen: aus Gottes Wort, das lebt und das bleibt“ (1 Pet 1,23) und zugleich sind wir freies, antwortende Gegenüber zu Christus. Er ist das Wort, wir geben in Maria die Ant-wort. Daran sehen wir auch, um welche Bestimmung von Freiheit es hier geht: Maria ist die geschaffene, neue Freiheit schlechthin. In ihr lebt Christus ganz – und sie ist gerade darin im tiefsten Sinn ganz sie selbst. Nur in der Liebe, die aus Christus kommt, lebt dieses Geheimnis einer Liebe, die zur Einheit drängt und gerade darin die Unterschiedenheit und das Selbstsein deutlich macht.

Zugleich werden darin auch die Versuchungen unserer Kirche deutlich: Konservativer katholischer Traditionalismus ist nicht selten versucht eine Uniformität einzufordern, die Selbstsein und Pluralität negieren will – und dann unfruchtbar wird. Liberales Christentum dagegen neigt nicht selten zur Anerkennung einer Pluralität, in der sich Menschen nicht mehr in den Liebesgehorsam gegenüber Christus und seiner Wahrheit einbinden lassen wollen – und tendiert deshalb letztlich zu einer unfruchtbaren Beliebigkeit.

Aber für uns müsste im Anschluss an Joseph Ratzinger gelten: In Maria – und ich möchte sagen: nur in ihr – lernen wir unser „fiat“ sprechen. Bei Paulus gibt es das in einer Variation, wenn er sagen kann: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Und dabei ist nach allem, was ich versucht habe zu sagen, dieses „nicht mehr ich“ nicht ein Verschwinden der Person oder der Persönlichkeit des Paulus. Vielmehr kommt durch die Gegenwart des Herrn in seinem Leben erst der neu geborene Paulus zum neuen Leben – in der ganzen Freiheit der Person, und in der Profilierung seiner leibseelischen Erscheinung, die uns aus seinen Texten so deutlich entgegenkommt.

Das heißt letztlich: Wenn es uns gelingt, durch unser eigenes Leben, unseren eigenen Glauben und in unserem Miteinander so für Christus durchscheinend zu werden wie Maria und in Maria, dann lassen wir eine Sozialgestalt von Kirche erwachsen, in der wir die Freiheit und Würde jeder einzelnen Person unbedingt anerkennen. Dieses Ja der Anerkennung muss immer zuerst kommen – ohne Vorbedingungen. Zugleich hoffen wir dann, dass jede Person, die mit uns geht, tief erkennt, dass sie selbst zu einem marianischen „fiat“ berufen ist – und damit zu einem Wohnort Christi in ihrem Inneren. Und ich bin sicher: Wenn ein Mensch existenziell in eine Antwort findet, die ihm diese Erfahrung von Neugeburt und damit auch einer neuen Identität schenkt, dann wird er auch wie von selbst in die daraus folgenden Fragen finden: Wie wirkt sich das aus in meinen ganz konkreten Lebensvollzügen? Wie in meinem Verhältnis zu mir selbst und zu meinem Leib? Wie zum anderen Menschen, zu meiner Familie, zur Schöpfung? So ein Christ wird auch wahrnehmen können, dass es in ihm den Ruf gibt, selbst „Tempel Gottes“ zu sein (1 Kor 3,17). Tempel eines Gottes, der absichtslose Liebe ist. Und um eine persönliche Nebenbemerkung zu machen: Womöglich werden wir erst von einem solchen Ausgangspunkt wieder in ein authentisches Gespräch werden finden können über all die komplexen Fragen unserer Zeit, insbesondere über die Lehre vom Menschen, etwa über Identität oder über das Verhältnis von Sex und Gender auf der Basis der Überlieferung der Kirche; aber zum Beispiel auch über die Herausforderungen, die uns heute im ökumenischen Gespräch begegnen.

Die Sozialgestalt der Kirche der Zukunft vor allem in liberalen Gesellschaften, wird deshalb vermutlich häufig aus kleinen, aus marianisch geprägten Gemeinschaften bestehen, in denen Menschen miteinander beten und die absichtslose Liebe einüben – zueinander und zu den Menschen am Rand. Sie werden lernen, miteinander in die Freiheit der Kinder Gottes hinein zu wachsen, sie werden lernen, nicht besitzergreifend und nicht manipulativ zu sein. Sie werden demütig jeden und jede achten – und sie werden die Sehnsucht haben, dass möglichst viele andere mit dem Geheimnis in Berührung kommen, aus dem sie selbst leben: Aus der Gegenwart Jesu und aus dem „fiat“ Mariens.

[1] Einsiedeln 21977

[2] Ebd., 24 (= JRGS 8, 410)

[3] JGRS 8, 462-476

[4] So der Titel eines gemeinsamen Buches von J. Ratzinger und H.U. v. Balthasar, erstmals Freiburg 1980.

[5] JRGS 5, 466

[6] Vgl. JRGS 8/1 und 8/2.

[7] = JRGS 5

[8] Papst Franziskus, Enzyklika Lumen fidei 60