Heile Welt – Zerbrochene Welt – Über Missbrauch in unserer Kirche

Predigt anlässlich des Gebets für die Betroffenen von sexuellem Missbrauch am 21. November im Passauer Dom

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

wenn ein Kind in diese Welt hineingeboren wird, ist das erste, was ihm begegnet ein Du, ein älteres Du. Im Normalfall und am innigsten ist dieses Du repräsentiert durch das Gesicht der Mutter. Die Mutter ist die erste umfassende Wirklichkeitserfahrung für ein Kind. Die Mutter ist ein sorgendes Gegenüber, eine Wirklichkeit, der sich das Kind wie selbstverständlich immer schon überlässt, ja überlassen muss.  Eine Wirklichkeit, der sich das Kind anvertraut, im selbstverständlichen Urvertrauen, von dem Florian Weber uns gesprochen hat.  Und im Verhältnis zu diesem sorgenden Gegenüber entdeckt das Kind auch die Welt über die Mutter hinaus. Auch die anderen Menschen, den Vater, die Geschwister, die Großeltern und andere mehr. Aber alles, was dem Kind begegnet, ist zunächst immer auch irgendwie in dieses Bezugsfeld hineingestellt. Das eigene Bett, die Kleidung, die Spielsachen, das Zimmer, die Wohnung – alles ist bereitgestellt und irgendwie auch durchdrungen von der Anwesenheit der Mutter, der Eltern, der Familie. Auch die umgebende Welt und die Dinge sind gewissermaßen sorgend für das Kind da; sie erzählen von der sorgenden Anwesenheit von Mama und Papa. Was ich sagen will: Ursprüngliche Wirklichkeitserfahrung in einer einigermaßen normalen Kindheit ist immer zutiefst von der Anwesenheit von Personen bestimmt, von älteren Dus. Und deshalb ist umgekehrt für ein kleines Kind, das zu Bewusstsein kommt, auch die Welt und ihre Gegenstände ganz oft belebt. Die Spielsachen haben Namen und in vielen Dingen begegnen Kinder der Wirklichkeit oft als wäre sie personal. Der Teddybär, das Spielzeugauto. Auch Gegenstände können dann personale Eigenschaften annehmen: Die Holzkiste, an der sich das Kind stößt, ist böse. Die Puppe ist lieb oder traurig. All das sind Hinweise, dass ein kleines Kind gar nicht anders kann als sich einer Wirklichkeit voller Vertrauen überlassen, die ein personales Gesicht hat, die insgesamt fürsorgend ist, die es gut meint. Und diese Welt außen rum wird dem kleinen Kind auch so gedeutet und bedeutet. Jeder normale Mensch deutet seinem Kind diese Welt auch als wahr, als gut, als schön. „Wie gut die Nudeln schmecken, wie lieb der Wauwau ist, wie schön die Blume ist und wie gut sie riecht.“ Und jeder normale erwachsene Mensch versucht die Erfahrung der Lüge, des Bösen, des Schmerzes, der Enttäuschung vom Kind fernzuhalten oder es wenigstens so dosiert damit zu konfrontieren, dass das das Kind selber nach und nach lernt, damit umzugehen. Aber im Ursprung ist die Welt des kleinen Kindes im einigermaßen normalen Verlauf eine heile Welt, ein kleines Paradies, in dem für alles Notwendige und mehr gesorgt ist – durch die Anwesenheit der älteren Dus. Deshalb ist die Frage nach dem Vertrauen für ein Kind im Grunde gar keine Frage, weil es keine Alternative dazu hat. Es ist in diese Welt gekommen, als ein Wesen, das sich dieser Welt im völlig selbstverständlichen Urvertrauen überlässt. Und aus diesem Urvertrauen und dem sorgenden Gegenüber empfängt das Kind auch sich selbst – und den Zuspruch: Es ist gut und wahr und schön, dass Du da bist, dass es Dich gibt.

Zerstörung der ursprünglichen Erfahrung von Wirklichkeit

Und von hier, liebe Schwestern und Brüder, verstehen wir vielleicht, wie verstörend und zerstörend es ist, wenn ein Kind, ein junger Mensch, eine Erfahrung wie den sexuellen Missbrauch machen muss. Denn dann kommt dem Kind aus der Welt des älteren Du eine Erfahrung entgegen, die unter dem Schein einer Zuwendung, die das Vertrauen des Kindes benutzt, das Zerstörerische entgegen, das dramatisch Überfordernde, das Irritierende, das Benutzt- und Gebrauchtwerden. Ohne dass es der junge Mensch versteht, dass er sich distanzieren kann, dass er daran wachsen könnte. Die Urerfahrung einer guten Wirklichkeit, die durch das ältere Du eröffnet und normalerweise auch immer neu bestätigt wird, diese Urerfahrung wird auf dramatische Weise verletzt und nicht selten total zerstört. Der junge Mensch macht die Erfahrung, dass es nicht mehr einfach nur gut ist, dass er da ist. Vielmehr spürt er, dass er etwas an sich hat, das den anderen zu Handlungen provoziert, die das Kind im günstigen Fall nicht einordnen kann; die aber im normalen Fall aber in eine radikale Verunsicherung des eigenen Daseins führt und in eine radikale Verunsicherung in der Frage, was eigentlich wirklich ist und wahr – und wer es selbst ist und wer die anderen sind. Die möglichen Folgen daraus sind oft dramatisch: Die Ablehnung der eigenen Leiblichkeit, der eigenen Geschlechtlichkeit. Vertrauensverlust in die Welt und die Menschen, Unfähigkeit sich auf verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen einzulassen, Verlust der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Leben und das anderer Menschen, Berufsunfähigkeit, tiefste psychische oder physische Störungen, Albträume, Angststörungen, Depressionen, Dissoziationen, Selbstverletzungen, Suizidversuche und tatsächliche Selbsttötungen. Die schwerwiegenden Folgen auch nur einer einzigen solchen Erfahrung haften den Betroffenen oft jahrzehntelang, oft ein Leben lang an.

Welche Wirklichkeit glauben wir?

Wir alle wissen nun, liebe Schwestern und Brüder, dass das Phänomen sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft ein Massenphänomen ist. Es ist zum Beispiel sehr wahrscheinlich, dass Sie – wenn Sie in einer kleinen Gruppe mit nur drei, vier Menschen zusammenstehen, einer davon ein Betroffener ist. Aber was macht dann das Thema für uns als Kirche so gravierend? Wenn es bei uns passiert? Zumal dann, wenn Priester die Täter sind oder waren? Es hängt natürlich mit dem Inhalt unserer Glaubensüberzeugung zusammen. Denn eigentlich sind wir als Kirche berufen zu verdeutlichen, dass es das Paradies tatsächlich gibt – und dass wir da hinein gehören, hinein gerufen sind als Kinder Gottes. Es ist das Reich der heilen, der tiefen, der liebenden, der vertrauensvollen Beziehungen. Wir alle wissen, dass Jesus davon spricht, dass wir wieder wie Kinder werden sollen. Warum? Weil in einer normalen Kindheit, wie ich sie eingangs verdeutlicht habe, tatsächlich so etwas wie eine kleine Paradieseserfahrung aufscheint. Eltern haben ja gerade am Anfang diese Rolle, die sie für ein Kind zu Allversorgern macht, sie sind für ein Kind quasi mit liebender Allmacht ausgestattet und sie sind Garanten für die Wahrheit, die Güte, die Schönheit. Eltern spielen also  – bei aller menschlichen Begrenztheit – schon so etwas wie die Rolle Gottes für ein Kind. Und tatsächlich wachsen wir als Menschen, die erwachsen werden, heraus aus diesem kleinen Kinderparadies. Nach und nach lernen wir, dass es in dieser Welt tatsächlich auch Lüge gibt; und Gewalt und Krieg und Not und Tod. Und dass diese Welt keine heile Welt mehr ist. Und so beginnen wir als Jugendliche, als Erwachsene oft genug zu zweifeln, ob unsere zauberhafte Kinderwelt nicht doch einfach nur naiv war. Dabei steckt doch in fast jedem von uns bleibend die Erinnerung an eine ursprüngliche Güte, an ein Staunenkönnen, an eine Unmittelbarkeit des Erlebens, an kindliche Freude und Energie und Begeisterungsfähigkeit. Denken wir zum Beispiel an unsere Sehnsucht, Weihnachten noch einmal wie ein Kind erleben zu dürfen. Wo ist das hin gekommen bei uns Erwachsenen? Warum gelingt es uns kaum mehr?

Missbrauch als diabolischer Angriff

Und genau hier hinein spricht unser Glaube und sagt uns: Doch die Welt ist in ihrem Innersten gut und schön und wahr. Das Böse, die Lüge, das Leid wird keinen Bestand haben. Gott ist ein Vater, der alles in Händen hält und für uns sorgen wird. Christus hat sogar den Tod besiegt und den Zugang zur Welt des Paradieses wieder eröffnet, zur Welt der heilen Beziehungen. Und auch zu heilenden Erfahrungen in deiner inneren Welt. Glaube an diesen Vater, vertrau ihm. Es wird alles gut. Liebe Schwestern und Brüder, das wäre eigentlich unsere Einladung als Kirche: Hinein in die Welt der heilen Beziehungen. Aber eben deshalb, liebe Schwestern und Brüder, ist unsere Fallhöhe als Kirche so hoch. Deswegen ist gerade Missbrauch bei uns so dämonisch. Missbrauch verursacht gewissermaßen im Herzen der Menschen den Zerbruch, den Bruch der Fähigkeit, an eine heile Welt zu glauben, an heile, verlässliche Beziehungen, auch an eine geheilte Beziehung zu mir selbst. Missbrauch ist ein diabolischer Angriff auf das Innerste unseres Evangeliums, auf das Herz der Betroffenen und das Herz der Kirche und ihres eigentlichen Anliegens. Es führt geradewegs zu diesem Zustand, den Frau Dr. Pichlmeier so eindringlich geschildert hat in ihrem Psalm-Variation: Zu Abspaltung, zum Selbstverschluss, zum Gang in die eigene dunkle Höhle, weil die Welt da draußen noch viel dunkler erscheint.

Neu Kirche werden

Vielleicht haben Sie den Zeitungsartikel gelesen, der vor kurzem in der Passauer Neuen Presse erschienen ist: Ein betroffener berichtet davon, was ihm vor rund 60 Jahren als Elf-, Zwölfjährigem passiert ist. Und er berichtet auch davon, wie er genug hatte von der Kirche und ihrem schönen Gerede vom Evangelium. Wie verständlich ist es, wenn sich so ein Mensch abwendet. Und nicht wenige der Betroffenen wollen die Kirche am liebsten zerstören, weil sie sie nur mehr als geld- und geltungssüchtiges Lügengebäude sehen können. Und was für ein Wunder ist es, dass dieser Mann nach vielen Jahren und vielen guten Erfahrungen mit gläubigen Menschen, mit guten Priestern, doch wieder hinfinden konnte. Und dass er jetzt kein Interesse daran hat, die Kirche zu zerstören – vielmehr will er ihr helfen, will er uns mithelfen, dass wir eine Kirche leben und bauen und hoffentlich mit Gottes Hilfe bauen können, in der jede Form von Missbrauch so gut wie möglich verhindert wird.

Wir, liebe Schwestern und Brüder, wir müssten die sein, die Menschen helfen, Gott im leisen Säuseln wahrzunehmen, in der zärtlichen Sprache seiner Liebe. Und wir müssten die sein, die Menschen ermutigen aus ihrem Boot der falschen Sicherheiten auszusteigen und auf Jesus zuzugehen, auch wenn die Welt uns außen rum signalisiert: Da gehst Du unter! Wir müssten die sein, die voller Gottvertrauen leben und deshalb andere ins heilende Gottvertrauen führen können. Viele von uns sind tatsächlich so. Aber nicht wenige andere von uns haben das Gottvertrauen in den Menschen geradewegs zerstört. Herr, erbarme dich unser.