Es ist Zeit aufzustehen vom Schlaf (Röm 13,11). Der Hirtenbrief von Bischof Stefan Oster zum 1. Adventssonntag 2016.
Liebe Schwestern und Brüder,
es ist Zeit, aufzustehen vom Schlaf! So lautet die eindringliche Mahnung, die der Apostel Paulus in der heutigen Lesung an die Christen in Rom schickt. Es ist Zeit aufzustehen vom Schlaf. Paulus lebt in einer sehr tiefen, inneren Verbundenheit mit Christus. Und es ist ein Kennzeichen von Menschen wie Paulus quer durch die Geschichte, dass sie ihre jeweils eigene Zeit als brüchig, als oberflächlich, als gefährdet sehen.
Es ist Zeit aufzustehen vom Schlaf
Als eingelullt in den Schlaf. Und zwar i m Vergleich zu dem, was sie selbst innerlich erfahren, wovon sie innerlich ergriffen sind, was ihnen das Echte, das Wirkliche, das ganz Wahre ist: die Nähe zu Christus. Und Paulus sieht wie auch Jesus selbst im Evangelium die Gefahr, dass wir Menschen innerlich taub und blind werden für seine Gegenwart, dass wir keinen Sensus mehr dafür haben, dass er nahe ist, dass er uns innerlich verwandeln will, jeden Tag und zu jeder Stunde. Es ist Zeit aufzustehen, sagt Paulus. Und Jesus sagt im Evangelium: Seid wachsam, haltet euch bereit. Ihr wisst nicht, zu welcher Stunde der Menschensohn kommt.
Raus aus dem Schlaf: Bin ich bereit?
Liebe Schwestern und Brüder, am liebsten möchte ich Ihnen und auch mir selbst und uns allen ebenso zurufen: Es ist Zeit, aufzustehen vom Schlaf. Jesus kommt, Jesus ist nahe. Bin ich bereit? Ist mein Herz offen für den, der in Herrlichkeit kommen will, der voller Liebe, voller Wahrheit, voller Licht und Kraft wiederkommen will?
Und der jetzt schon jeden Tag in unser Herz einziehen will, damit wir ihn dann auch wirklich von Herz zu Herz erkennen, wenn wir ihm einst von Angesicht zu Angesicht begegnen? Oder sind wir nicht auch häufig in einem Zustand, in dem wir uns im Grunde womöglich ängstigen müssten, wenn er käme – weil wir ihn so lange vergessen haben?
Kenne ich Jesus?
Sie wissen, dass wir uns in unserem Bistum mit dem großen Thema beschäftigen: Wie können wir einander helfen, neu in den Glauben zu finden, ihn neu zu vertiefen? Was bedeutet es, „neu zu evangelisieren“? Wie geht das, Menschen von heute, mit ihren Fragen von heute, unseren Glauben so zu erschließen, dass sie berührt werden? So, dass sie spüren, hier ist wirklich eine Quelle des Lebens, der Heilung, der Tiefe, der Schönheit und der Wahrheit?
Ich bin überzeugt, dass wir die Antworten auf solche Fragen vor allem dann finden, wenn wir uns selbst auch neu fragen: Kenne ich Jesus? Interessiere ich mich wirklich für Ihn? Glaube ich wirklich, dass er mein Leben im Hier und Jetzt berühren und verwandeln kann? Hat er es schon berührt? Bin ich zum Beispiel schon einmal im Herzen von dem wirklich bewegt worden, was wir an Ostern feiern, nämlich dass Jesus lebt?! Und glaube ich, dass er auch in seiner Kirche lebt, in der Feier der Sakramente? Und glaube ich auch, dass er auch in mir lebt und mich befähigen will, so zu werden wie er, so zu lieben und zu vertrauen wie er?
Das wichtigste Gebot von allen
Liebe Schwestern und Brüder, es ist wirklich möglich, Jesus zu lieben. Und Jesus sagt uns im Evangelium sehr deutlich, dass wir es auch versuchen sollen. Und er sagt uns sogar, dass ihn zu lieben das allerwichtigste Gebot von allen ist. Denn unsere Fähigkeit, den Mitmenschen, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, oder auch den Armen, den Marginalisierten, diese Fähigkeit kommt von Ihm, von unserer Beziehung zu Ihm, vom Bleiben bei Ihm.
Er will, dass wir Ihm ähnlicher werden. Und ich glaube ernsthaft, liebe Schwestern und Brüder, dass unsere Fähigkeit, auch anderen Menschen in den Glauben hinein zu helfen, von unserer Beziehung zu Jesus abhängt. Wovon dein Herz voll ist, davon spricht dein Mund, sagt er uns. Und alles, was Ihr Herz einmal erobert hat, lässt Sie anders handeln, als vor dieser Eroberung. Merkt man an unserem Handeln, dass Jesus Christus unser Herz erobert hat? Tragen wir seinen Namen zurecht, wenn wir uns Christen nennen?
Christsein als Beziehung
Mir ist sehr bewusst, dass diese Fragen herausfordernd sind für uns alle. Auch für mich selbst natürlich. Und natürlich ist eine Beziehung mit Christus auch ein Weg, ein Prozess, ein Wachsen und Reifen, nicht selten durch Höhen und Tiefen. Man hat sie nie einfach fix und fertig. So oft fühlt man sich einfach nur als Anfänger darin.
Aber meine Frage an uns ist: Haben wir uns überhaupt schon auf den Weg gemacht? Haben wir verstanden, wie wichtig diese Beziehung ist für unser Leben, für unser Heil? Oder glauben wir nicht allzu oft: Christsein bedeutet, niemandem was tun und sich bemühen, einigermaßen nett zu sein!? Das wäre ein großes Missverständnis, denn Christsein bedeutet zuerst eine Beziehung, eine Beziehung, die verwandelt.
Neue Evangelisierung
Neue Evangelisierung heißt deshalb zum Beispiel: Alleine und in Gemeinschaft neu beten lernen. Suchen Sie sich Menschen, mit denen Sie sich regelmäßig treffen, um miteinander zu beten; um gemeinsam in der Schrift zu lesen – und sich gegenseitig zu erzählen, welche Rolle Jesus in Ihrem Leben spielt. Und wenn Sie meinen, Sie haben da noch nichts zu erzählen, dann lassen Sie sich von den Erzählungen der anderen bestärken.
So lernen Sie selbst, auch sensibler zu werden, für Jesu Gegenwart in Ihrem Leben. Liebe Schwestern, liebe Brüder, Jesus sucht nach Menschen, die leidenschaftlich mit Ihm und für Ihn leben, egal wo und in welchem Lebensalter. Er sucht nach Menschen, die sprachfähig werden, die erzählen können von ihrem Glauben und ihrem Leben mit dem Herrn. Die Kirche braucht daher Einzelne, aber auch Gruppen und Gemeinschaften, die dies einüben – und die deshalb auch anderen Menschen ins Wort helfen können – um neu von unserem Glauben zu erzählen.
Advent: Aufstehen aus dem Schlaf
Was meinen Sie, liebe Schwestern und Brüder, ist es nicht Zeit aufzustehen? Und wie Paulus sagt, uns von dem Schlaf zu erheben? Von einem Schlaf, der uns einreden will, der Glaube sei ein Selbstläufer? Von der Trägheit, die uns verführen will, alles andere für wichtiger zu nehmen als die wichtigste Beziehung unseres Lebens! Ist es nicht Zeit, sich neu Jesus zuzuwenden und ihn zu bitten, sich uns zu erkennen zu geben?
Die vor uns liegende Adventszeit bietet gute Gelegenheit dazu! Wir bereiten uns auf sein Kommen vor. Wir feiern das größte Ereignis der Weltgeschichte. Und wir Christen haben das Privileg, glauben zu dürfen, dass es wahr ist und wahr bleibt, und dass es auch heute geschieht! In uns und unter uns! Glauben wir es? Oder bleiben wir lieber liegen?
Ich bin dafür, dass wir wach werden und uns neu berühren lassen von einer Liebe, die wirklich mich persönlich meint, die mich kennt, die mir zu Herzen gehen will und die ewig ist. Ich wünsche Ihnen sehr, liebe Schwestern und Brüder, dass Sie in dieser Adventszeit tatsächlich neu berührt werden davon. Und ich bin von Herzen dankbar für jeden, der mithilft, auch andere zu diesem Geheimnis hinzuführen. Gott segne Sie alle.
Gegeben am 1. Advent 2016
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Kommentare
Wenn du den Brief kriegst, ist wohl schon der Advent da, eine Zeit, die ich besonders liebe. Weißt Du, so eine Gefängniszelle, in der man wacht, hofft, dies und jenes –
letztendlich Nebensächliches – tut, und in der man ganz darauf angewiesen ist, dass die Tür der Befreiung von außen aufgetan wird, ist gar kein so schlechtes Bild für den Advent. Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) an seine Verlobte Maria von Wedemeyer.
Ja, es gibt diese Grundsehnsucht des Menschen nach dem Ende aller Beengtheit, eine Sehnsucht, die uns über die Gefängniszelle unseres Lebens hinausführt und damit letztendlich zu Gott führt. Es ist auch die Sehnsucht danach, dass Gott aus dem Rahmen des Ungewissen und Fernen heraustritt und uns persönlich begegnet; dass er angesichts bedrängender eigener Fragen wie auch angesichts der unübersehbaren Heillosigkeit in der Welt sein Schweigen bricht und zu uns spricht. Und diese Sehnsucht scheint in der Adventszeit besonders ausgeprägt zu sein.
Advent will aufrütteln. Wir sollen aufwachen aus all unseren Tagträumen, sollen unsere routinierten Gewissheiten, Sicherheiten und Erwartungen über Bord werfen und uns auf das Abenteuer einlassen, Gott bei uns eintreten zu lassen. Im Advent sollen sich Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Leere in unseren Herzen in eine neue Freude verwandeln. Die Adventszeit kann somit auch zur Schule einer tiefen und echten Begegnung mit anderen werden, getragen von Toleranz, gegenseitiger Wertschätzung und Rücksichtnahme. Ganz im Sinne des Dichters, der so formulierte:
„Im Advent, da nehma uns vor, san ma nimmer so gschert, wia de meist Zeit davor.“
Herzlichst
Dieter Mittermeier
„BIN ICH BEREIT?“
Wodurch erkenne ich, ob bereit bin oder nicht?
Nicht durch die einfache Frage, ob Jesu Christi Verheißung auch meiner Sehnsucht entspricht?
Tja, warum glaubt der Mensch? Und wonach sehnt er sich?
In ihrem Text “Der Wunsch, ganz zu sein” versucht die streitbare evangelische
Theologin und Philosophin Dorothee Sölle (1929-2003) Antworten zu geben:
Aber was ist eigentlich der Inhalt dieses religiösen Bedürfnisses? Wonach sehnen
sich Menschen? Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben. Das alte Wort der religiösen Sprache “Heil” drückt genau
dieses Ganzsein, Unzerstückt-sein, Nicht-kaputt-sein aus. Dass die kaputten Typen –
und wer rechnet sich nicht zuzeiten dazu? – den Wunsch haben, ganz zu sein, ist
nur verständlich. Es ist zugleich der Wunsch nach einem Leben ohne Berechnung
und ohne Angst, ohne äußere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne
Absicherung, vertrauen können, hoffen können, glauben können – alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und eben um
dieses Glück des Ganzseins geht es in der Religion.
Für Sölle ist Religion das Bedürfnis, Sinn zu erfahren und Sinn zu stiften. Es ist
der Versuch, nichts in der Welt als fremd, menschenfeindlich, schicksalhaft, sinnlos anzunehmen, sondern alles was begegnet, zu verwandeln, es einzubeziehen in die eigene menschliche Welt. Religion und Glaube ist nach Sölle eine Lebenshaltung,
die es uns ermöglicht, das Leben zu bejahen, Heimat und Identität zu finden, um erfüllt und heil leben zu können. Die Zukunft des Christentums liegt für Sölle in
Jesus Christus. Sie sagt: “Christus vertritt den abwesenden Gott, solange sich dieser nicht bei uns sehen lässt. Denn ohne Christus müssten wir dem Gott, der sich nicht zeigt und der uns verlassen hat, “kündigen”, wir hätten keinen Grund, weiter auf ihn zu warten. Doch weil Christus eine neue Art “dazusein” in die Welt gebracht hat,
darum kann Hoffnung nicht mehr aufgegeben werden – die Stellvertretung Christi
ist ihre transzendentale Ermöglichung…”
Also, warum glaubt der Mensch? Weil er verstehen will, weil er nach einer Antwort auf die Frage sucht, warum er auf der Welt ist.
Einen gesegneten Advent
Dieter Mittermeier