„Mehr als alles hüte dein Herz“ – Der Christ und die technologische Revolution. Die Ansprache von Bischof Stefan Oster am Silvesterabend 2025.
Die Predigt hier zum Nachlesen:
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
eine der ersten Amtshandlungen unseres neuen Papstes Leo war in diesem Jahr die Erhebung des Heiligen John Henry Newman zum Kirchenlehrer. Newman war in der ersten Hälfte seines Lebens bereits ein berühmter Theologe und Geistlicher der anglikanischen Kirche. In einem intensiven Prozess der Bekehrung ist er dann unter großem Aufsehen, aber auch von vielen misstrauisch beäugt, in der Mitte seines Lebens, 1845, zum Katholizismus konvertiert. 1879, ein Jahr vor seinem Tod, hat ihn Papst Leo XIII zum Kardinal erhoben. Der Wahlspruch Newmans auf seinem Kardinalswappen hieß: „Cor ad cor loquitur“. Übersetzt: Das Herz spricht zum Herzen. Der Spruch stammt ursprünglich aus einem Brief des Hl. Franz von Sales. Ich möchte mit Ihnen im Folgenden ein wenig darüber nachdenken, was wir mit dem Herzen verbinden – und auch über die Bedrohung, der das menschliche Herz und mit ihm die menschliche Person heute ausgesetzt ist.
Das Herz – Mitte der menschlichen Person
Das Herz ist in der Hl. Schrift ein überaus zentraler Begriff: Er bezeichnet die Mitte einer Person, den inneren Ort, wo zum Beispiel tiefe, existenzielle Entscheidungen fallen. Im Herz laufen auch unser Denken, die Gefühle, der Wille, die Erinnerung, die Sehnsüchte zusammen. Das Herz ist in seiner Tiefe auch Ort des Gewissens, also des intuitiven Wissens darum, was gut oder böse, wahr oder falsch ist. Damit ist es auch der Zugang, den Gott zum Innersten einer Person hat, weil Gott die Quelle von Wahr, Gut und Schön ist. Das Herz ist auch unser tiefes Beziehungsorgan. In beide Richtungen: dort, wo wir für Menschen zum Beispiel ein offenes, weites Herz haben, oder dort, wo wir engherzig sind – oder unser Herz verschließen. Wir sagen Sachen wie: Dieser Gruß kommt von Herzen oder wir wünschen etwas von ganzem Herzen – und meinen dabei: Es ist viel bedeutsamer als nur oberflächlich dahingesagt.
Das trügerische und das erlöste Herz
Unser Herz ist oft genug trügerisch, eben weil Denken und Wollen oder Gefühle und Triebe oft nicht zueinander vermittelt sind. Der Bauch will oft genug etwas anderes als der Kopf. Die Vernunft sieht etwas ein, aber manche basalen Bedürfnisse setzen etwas anderes durch. Denken Sie an das eigene Leben: Öfter fasten wäre gut im Neuen Jahr, oder? Aber ich bin dafür wohl zu schwach. Mehr Sport wäre wichtig, aber, ach, der innere Schweinehund ist stärker – und die Ausreden schnell bei der Hand. Stille und Gebet wären so wesentlich, aber das Dringliche drängt sich immer vor das Wesentliche. Der Christ soll lieben, sogar die Feinde, aber in meinem Herzen ist doch noch manches an Verletzung, Neid, Stolz, Verachtung, Ärger und anderem mehr.
Jesus will uns deshalb nach dem Zeugnis der Schrift ein neues, ein verwandeltes Herz geben. Ein Herz, das – wie Newman einmal in einer Predigt sagte – „von den Toten auferweckt wurde“. Mit so einem Herzen werden wir mehr innerlich geeint, werden wir authentischer und klarer. Mit einem erneuerten Herzen können wir Christus bezeugen und mehr lieben – sogar die Feinde. Aber: Das Geheimnis des Glaubens ist: Das erneuerte Herz kommt zuerst von Ihm, von Christus – und nicht zuerst aus eigener Kraft.
Es kommt durch die Zeit und die Stille, die wir Ihm und seinem Wort schenken. Es kommt durch den Dienst der Liebe am Anderen. Es kommt auch durch Lebenslehren, vor allem durch Ereignisse, die uns kleiner, demütiger machen. Es kommt durch den Umgang mit Grenzerfahrungen und Leiderfahrungen – wenn wir lernen, sie an der Seite des Herrn zu gehen. Das klärt das Herz von innen. Und innerlich gereinigte Menschen sind mehr ganz und können daher auch ein Zeugnis von Jesus geben, das aus dem Herzen kommt. „Selig, die ein reines Herz haben, sagt Jesus in der Bergpredigt, sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8)
„Mehr als alles hüte dein Herz“
Im Grunde – so kann man etwas verkürzt sagen – besteht unser Lebensweg darin, mit dem Geist Gottes mitzuwirken an der Reifung und Reinigung des Herzens. Dann wird es dem Herzen Jesu ähnlicher und wie von selbst offener für Gott und die anderen Menschen. „Cor ad cor loquitur“, sagt Newman – und betont damit, dass die alles entscheidenden Dinge im Leben sich in unserem Herzen ereignen, zwischen mir und Gott und zwischen mir und den anderen Menschen.
Deshalb lesen wir auch zum Beispiel im biblischen Buch der Sprichwörter den Satz: „Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus.“ (Spr 4,23). Tatsächlich ist die christliche Erfahrung diese: Wer in seinem Herzen dem Herrn Jesus Raum gibt, ihn in sich wirklich sein lässt, bei dem geht schon von innen her das neue Leben auf, das ewige Leben. Und er oder sie kann dann auch lebendiger Zeuge oder Zeugin dieses Lebens sein.
Der Logos und die Einzelerfahrung
Wir sind in der Weihnachtszeit und feiern in diesen Tagen das Kind in der Krippe mit einem Schrifttext aus dem Johannesevangelium, den wir vorhin wieder gehört haben: Christus ist das Wort Gottes. Und wir hören darin den zentralen Satz: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14). Ich möchte diesen Satz im Folgenden ausdeuten als Gottes Projekt zur Rettung des menschlichen Herzens oder etwas weiter verstanden: zur Rettung der menschlichen Person, deren Mitte das Herz ist.
Lassen Sie mich dabei das griechische Wort „Logos“, das im Text mit „Wort“ übersetzt ist, zunächst nur menschlich ausdeuten. Logos steht für Vernunft, für Sprache und Worte, für Erklärung, aber auch zum Beispiel für so etwas wie Sinn. Und wenn Sie diese Aufzählung betrachten, sind diese Bedeutungen zunächst eher abstrakt. Es hat mit Denken zu tun und dem Verstehen und Formulieren von eher abstrakten Zusammenhängen. Wir können mit dem Denken feststellen, was in der Welt „logoshaft“ ist, also logisch zusammenhängt. Und wir können das mit Worten und Begriffen sagen, die in der Regel allgemeine Bedeutung haben. Unser Problem als sprechende Menschen ist nun: Das ganz konkrete Einzelne oder die Einzelerfahrung ist nur ganz schwer oder gar nicht zu sagen, eben weil unsere Begriffe eher auf das Allgemeine zielen.
Ein Beispiel: Vielleicht haben Sie heute schon köstliche Weihnachtsplätzchen gegessen, die guten Vanillekipferln, die es jedes Jahr gibt. Vielleicht nach dem Rezept der Oma. Und sie schmecken der ganzen Familie. Nur: Wie genau sie genau Ihnen gerade heute schmecken, können Sie nicht mehr sagen. Sie haben dafür nur Allgemeinbegriffe. Süß zum Beispiel, oder nach Zimt, oder eben nach Vanille. Aber wie sich ganz konkret auf Ihrer Zunge so ein Kipferl anfühlt, ist im Grunde nicht sagbar – und Sie wissen deshalb auch nicht, ob Ihr Ehepartner oder Ihre Tochter genau dasselbe empfindet, was Sie genau jetzt empfinden. Zumal so ein Vanillekipferl auch nicht jeden Tag gleich schmeckt, oder? Das heißt: Für die ganz konkrete Einzelerfahrung haben wir im Grunde keine Worte. Sie ist unsagbar.
Wie wird man in seinem Beruf „erfahren“?
Wir können dieses Beispiel auf alle möglichen Bereiche ausdehnen: Stellen Sie sich eine Frau vor, die frisch von der Uni kommt als Ärztin. Sie hat ziemlich viel Wissen im Kopf und hat wohl auch manches Praktikum schon gemacht. Aber was würde dazu gehören, damit sie eine wirklich erfahrene Ärztin wird? Sie muss ihr vieles Wissen nun mit vielen konkreten Einzelfällen von Patienten in Verbindung bringen. Denn bei den Einzelfällen ist es ähnlich wie beim Geschmack: Am Ende ist doch jeder Patient wieder anders, hat sein eigenes Krankheitsbild, seine eigene Geschichte. Und natürlich gibt es Ähnlichkeiten bei Krankheitsbildern – aber doch auch Unvorhersehbares oder Seltenes oder Untypisches, einfach, weil es an jedem von uns auch Untypisches gibt.
Wir sind Personen, einmalig, einzigartig und unvertauschbar. Und keiner von uns ist einfach nur eine Wiederholung, auch nicht in seinem Krankheitsbild. Das heißt: Eine erfahrene Ärztin wird unsere junge Frau vor allem, indem ihr Wissen durch viel konkrete Einzelarbeit Vertiefung erfährt, auch Intuition, auch besseres Verstehen der Menschen, durch genaues Hinschauen auf den Einzelfall, durch das ehrliche Zuhören, hoffentlich von Herz zu Herz, und so fort. Vom Evangelium her könnte man den Satz etwa so formulieren: „Das Wort, das allgemeine Wissen, das sie gelernt hat, muss „Fleisch“ werden, muss sich immer neu ins Hier und Heute inkarnieren, das hieße wörtlich übersetzt „einfleischen“. Weil, es im Grunde genau unser Leib, unser konkretes Fleisch ist, das uns im Hier und Jetzt zu Individuen macht. Denn wir alle sind Menschen, ein Allgemeinbegriff, aber jeder und jede von uns ist diese konkrete, einzelne Person, unwiederbringlich, einzigartig.
Der gute Arzt
Erfahrung wächst also im Umgang mit dem Konkreten, mit dem Einzelfall, mit vielen Einzelfällen – die man dann natürlich trotzdem wieder durchdenken kann, mit allgemeinen Begriffen, mit neuen Zusammenhängen und so fort. Und das eigene Urteilsvermögen, der eigene Blick wird dann feiner, differenzierter, weniger abstrakt, weil eben angefüllt mit lebendiger, konkreter Erfahrung: Das Wort, der Begriff, ist Fleisch geworden. Der erfahrene, gute Arzt, sieht den Einzelnen – und versucht womöglich auch etwas von seiner Geschichte zu verstehen, von der Genese seiner Krankheit – ehe er eine allgemeine Diagnose versucht. Und der gute Arzt neigt dann vermutlich auch eher dazu, in seinen Urteilen behutsam zu sein, vermutlich auch demütig, weil er weiß, dass er schön öfter daneben gelegen ist.
Die Liebe liebt das Konkrete und den Einzelnen
Von hier ein weiterer Schritt zu dem, was aus christlicher Sicht die wichtigste Eigenschaft, die wichtigste Tugend ist: die Liebe. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass die Liebe im Grunde gerade den Einzelnen meint – also anders als bei einem Popstar, der von der Bühne seinen tausenden Fans zuruft: „Ich liebe Euch alle“. Das mag bei ihm gerade ein angenehmes Gefühl sein, weil sie ihm alle zujubeln. Aber gut sein zu dem konkreten, einzelnen Menschen, ist noch einmal etwas völlig anderes.
Paulus hat dazu im ersten Korintherbrief ganz Entscheidendes gesagt: zum Beispiel, dass die Liebe alles erträgt, dass sie alles glaubt und hofft; dass sie sich nicht am Unrecht freut, sondern an der Wahrheit; dass sie nicht ihren Vorteil sucht und das Böse nicht nachträgt. Merken Sie etwas, liebe Schwestern und Brüder? Das alles ist nur möglich im Blick auf den einzelnen anderen Menschen. Sehr konkret.
Man kann sagen: Die Liebe ist der innere Antrieb eines einigermaßen erlösten Herzens, eines Herzens, das sich auf den einzelnen Anderen hin öffnet, das von Herz zu Herz Beziehung aufbauen kann; das einem Menschen bei sich im Herzen Heimat geben kann; das dem anderen wirklich zuhören, das ihn aufbauen und trösten kann; das wahrhaftig sein oder auch überführen kann; ein Herz, das Vertrauen schenken, das beten und eben lieben kann, ein Herz, das auch kämpfen und leidenschaftlich um die gute Sache streiten kann.
Ein solches offenes Herz riskiert freilich auch, verwundet zu werden oder belogen oder enttäuscht zu werden – einfach schon deshalb, weil die Welt unserer menschlichen Herzen nicht heil ist. Aber es sind Menschenherzen, alle, jedes einzelne berufen, zu wachsen, zu reifen und heiler zu werden – durch die Schönheiten und Wirrungen menschlicher Beziehungen hindurch – mit Gottes Hilfe. Und das Schöne ist: Es sind auch nicht selten gerade die ganz leidenschaftlichen Herzen, die auch wunderbare schöpferische Leistungen hervorbringen, Kunst, Musik, Literatur, Architektur. Die Fähigkeit zum Neuen, zur schöpferischen Tiefe und Größe entsteht aus der Tiefe menschlicher Herzen. Wir bewundern die großen Kunstwerke und hinter ihnen das schöpferische Genie – die große Einzelpersönlichkeit.
Papst Leo und sein Name
Ich sage alles das, liebe Schwestern und Brüder, weil ich meine, dass wir gerade in einer Epoche der Menschheit leben, die einerseits unfassbare technische Möglichkeiten hervorbringt – und dabei andererseits womöglich immer herzloser wird. Diese Entwicklung wird in erster Linie angetrieben durch die technologische Revolution. Papst Leo hat sich seinen Papstnamen gewählt, weil einer seiner Vorgänger, Leo XIII., zur Zeit der so genannten industriellen Revolution gelebt hat.
Und er hat mit einem damals bahnbrechenden Dokument, der Enzyklika über die neuen Verhältnisse namens „Rerum novarum“, im Grunde eine kirchliche Antwort auf die Entwicklungen gegeben und damit die kirchliche Soziallehre begründet. Ich bin heute überzeugt, liebe Schwestern und Brüder, dass der Schritt, den die Menschheit in diesen Jahren geht, größer und weitreichender ist als damals, als zum Beispiel die Dampfmaschine erfunden wurde und damit auf einmal große Industriebetriebe möglich wurden, als gewaltige weitere technische Erfindungen gemacht wurden; als aber zugleich zum Beispiel die sogenannte Arbeiterklasse entstand und das industrielle Großkapital – mit allen Folgekonflikten bis heute in der Welt.
Fluch und Segen der technologischen Revolution
Und heute: Wir sehen seit Jahren, dass vor allem junge Menschen – und nicht nur sie – immer mehr Lebenszeit kognitiv auf der Oberfläche ihrer Smartphones verbringen, süchtig gemacht durch die Algorithmen der Social Media Plattformen. Lehrkräfte und Jugendpsychologen nehmen wahr, dass dabei die Fähigkeit zum konzentrierten Arbeiten abnimmt, dass Angststörungen, Einsamkeit und psychische Krankheiten unter Jugendlichen seit Jahren massiv zunehmen. Sie sagen uns, dass allgemein gesprochen eine spielbasierte Kindheit einer smartphonebasierten Kindheit gewichen ist.
Natürlich genießen die allermeisten von uns auch die vielen Möglichkeiten und Segnungen, die auch durch die technologische Revolution gekommen sind, weil so vieles erleichtert wird. Das Reisen, die schnelle Informationsbeschaffung, das Lernen von Sprachen und so viel mehr. Und doch ahnen wir, dass der fortwährende Aufenthalt auf der digitalen Oberfläche uns insgesamt nicht reifer macht, nicht beziehungsfähiger, nicht wahrhaftiger. Eher im Gegenteil. Wir verlieren den konkreten Kontakt mit dem anderen, wir lernen nicht mehr, wie das geht, mit dem einzelnen Menschen wirklich Beziehung zu leben, das Herz zu öffnen, Konflikte zu bewältigen, tiefe Freude zu empfinden, Vertrauen aufzubauen, Verletzungen zu ertragen und so vieles mehr.
Das Smartphone, liebe Schwestern und Brüder, lehrt uns nicht lieben, das Smartphone ist herzlos – und wenn wir noch so viele Herzchen als Likes abgeben. Das Smartphone zeigt uns zwar manchmal echte Menschen, echte Personen – und wir liken und haben Facebook-Freunde, aber alles das geschieht unter dem Schein von echter Beziehung. Das Smartphone weckt auch massiv unsere Neugier: Mit Google haben wir ja Zugang zu allem Wissen der Welt und darüber hinaus. Es erschließen sich scheinbar große Weiten und tiefe Geheimnisse.
Es sieht aus wie Transzendenz, als kämen wir wirklich über uns hinaus. So wie uns manchmal die Liebe hingerissen sein lässt – über uns hinaus. Und doch ist es im Netz nur technologisch imitierte Transzendenz, Pseudotranszendenz. Alles verbleibt doch nur im Raum des Allgemeinen, des schnell Verfügbaren, am Ende ist es bloße Information, aber wohl niemals Weisheit, die durch Erfahrung, Einübung von Vertrauen und Liebe entsteht. Stimmt denn nicht mein Eindruck, dass mit dem Aufkommen der Sozialen Medien die Herzlosigkeit in der Gesellschaft zugenommen hat – und diese Medien uns eigentlich asozialer machen?
Ist künstliche Intelligenz wirklich intelligent?
Aber es geht noch weiter: Der nächste Schritt, den wir längst vollzogen haben, sind die unglaublichen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz. Wir können damit jetzt schon zum Beispiel riesige Verkehrsströme viel besser steuern, wir haben viel bessere Voraussagemöglichkeiten für Stürme und Unwetter, bessere, viel detailliertere Möglichkeiten von Krankheitsdiagnosen und anderes Segensreiches mehr. Jeder und jede von uns kann mit diesem Instrument ganz schnell großartige Bilder, Fotos, Gemälde, Filme, Lieder produzieren. Jeder kann Texte schreiben lassen, die in hervorragendem Deutsch Informationen wunderbar zusammentragen, ordnen. Schulen und Universitäten sind damit natürlich vor riesige Probleme gestellt.
Denn wenn Sie sagen würden: Das merkt man doch gleich, ob das eine Maschine geschrieben hat oder, sagen wir, ein 15-jähriger Jugendlicher als Schulaufsatz, dann sagen Ihnen die Experten: Nein, wir können jede KI auch so programmieren, dass sie die typische Sprache und auch typische Fehler eines 15-Jährigen mit einbaut. Die KI kann vermeintliche Kunstwerke produzieren – ohne jedes schöpferische Zutun einer Einzelperson. Und es sieht oft genug großartig aus, wird sicherlich immer noch besser, aber das dahinterstehende leidenschaftliche Künstlerherz kommt nicht mehr vor. Pseudokreativität unter dem Schein von Kreativität. Es gibt nicht mehr den oft komplizierten, oft tiefen, oft schmerzvollen, oft leidenschaftlich-freudvollen Geburtsprozess eines Kunstwerks. In der KI geht niemand mehr mit einer Komposition oder einem Roman, den er in sich spürt, schwanger. Die KI eliminiert personale Herzensprozesse.
Wo bleibt das „cor ad cor loquitur“?
Ein weiteres, bezeichnendes Beispiel, das das noch deutlicher macht: Wir haben als Kirche den großartigen Dienst der Telefonseelsorge. Gut ausgebildete, überwiegend ehrenamtliche Menschen stehen rund um die Uhr zur Verfügung, um Menschen in Not zuzuhören und im gelingenden Fall mit ihnen auch Wege aus der Not heraus zu finden. Da sitzen Menschen, die ein hörendes Herz haben, die mittragen und ertragen, die Vertrauen aufbauen, die den anderen auch einmal mit ins Gebet nehmen können – und so viel mehr. Die KI könnte es nun mit allen Informationen, die ihr zur Verfügung stehen, möglich machen, dass auf bestimmte Fragen eines Menschen die bestmöglichen Antworten gegeben werden; therapeutisch, psychologisch, pädagogisch, vielleicht sogar viel fundierter als von einem echten Menschen.
Und sogar konkret auf den anderen bezogen: Wenn die KI die Information über Alter, Zustand, Herkunft, Problem des Einzelnen hat, kann ihr Zuspruch auch genau werden – auf den Einzelnen bezogen. Und doch ist am Ende alles herzlos – unter dem bloßen Schein des Hörens, Verstehens, Vertrauens und so weiter. Die einzelne menschliche Person, die hört, versteht, kämpft, liebt, betet, sie wird vermeintlich überflüssig. Natürlich kann es sein, dass die Beratung der KI hilfreich ist, viele Menschen suchen das ja längst im Netz. Aber nirgendwo wird mehr von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz gesprochen. Das „cor ad cor loquitur“ von Kardinal Newman, das so tief ins menschliche Leben hineingehört, entfällt. Ich frage mich: Erwachsen hier nicht einerseits unfassbare Möglichkeiten der Technologie – und zugleich die Gefahr, dass die tiefste Dimension der Menschlichkeit, das menschliche Herz, eliminiert wird?
Der Böse und die technologische Revolution
Ich möchte dazu noch auf einen Aspekt aus dem Glauben hinweisen: Die Kirche glaubt, dass es das Böse und auch den Bösen gibt, den die Bibel vielfach bezeugt. Der Satan ist als ein gefallener Engel reiner Geist, der im Grunde alles weiß, alle Informationen als Daten haben und wissen kann – aber ohne zu lieben. Sie kennen vielleicht die Legende vom heiligen Martin, dem der Teufel als prächtige Lichtgestalt erschienen sei und sich als sein Erlöser ausgegeben habe. Daraufhin habe ihn Martin gefragt, wo denn seine Wundmale seien, die er am Kreuz für ihn erlitten habe. Daraufhin sei die Lichtgestalt überführt gewesen und habe sich in Rauch aufgelöst.
Wir glauben, Schwestern und Brüder, dass das ewige Wort Gottes nicht nur Wort, also auch nicht nur Wissen geblieben ist, sondern wirklich Fleisch geworden ist und ein menschliches Herz angenommen hat, ein gottmenschliches Herz, das ihm am Ende auch noch durchbohrt wurde für uns. Damit er mit jedem und jeder von uns von Herz zu Herz sprechen kann – und damit er uns so nach Hause lieben kann, ins Vaterhaus. Dieses Erlösungsgeschehen wird nie möglich sein auf der Basis bloßer Information. Daher bin ich sicher, dass der Böse und das Böse die technologische Revolution für sich nutzen wird, so gut er kann, weil er genau das verhindern will, dass Christus auch in uns geboren wird.
Christen und KI
Freilich, auch wir als Christen können KI nutzen, mit der Hilfe unseres Gottes. Zum Beispiel zur Ausbreitung des Evangeliums. Aber vor allem auch, indem wir achtsam sind und wahrhaftig bleiben, indem wir KI nicht mehr werden lassen als ein bloßes technisches Instrument. Indem wir uns nicht in Hass und Hetze hineinziehen lassen und indem wir uns nicht der Illusion hingeben, dass sich im Internet alle Bedürfnisse unseres Lebens stillen lassen.
Lassen Sie uns vielmehr immer wieder neu echte, konkrete Gemeinschaft suchen, mit denen, die wir lieben wollen – und lassen Sie uns lieben lernen auch denen gegenüber, die wir nicht mögen. So lernen wir mit Kardinal Newman von Herz zu Herz zu sprechen. Lassen Sie uns die technischen Möglichkeiten auch gut unterscheiden: Was nützt wirklich und was schadet unserem Herzen: „Mehr als alles hüte Dein Herz“, sagt die Schrift. Geben wir uns – das könnte ein Vorsatz im Neuen Jahr sein – geben wir uns immer wieder technologiefreie Zeiten, in denen wir wirklich Gemeinschaft leben – mit anderen und mit unserem Gott.
Ich bin überzeugt, dass eine der ganz großen Aufgaben der Kirche der Zukunft sein wird, so etwas wie Hüterin der unersetzbaren Kostbarkeit der menschlichen Person, der menschlichen Kreativität und vor allem des menschlichen Herzens zu sein.
Machen wir uns auf dem Weg dazu, indem wir konkret einander begegnen – und dem Wort begegnen, das für uns Fleisch geworden ist. Er ist auch der Grund dafür, dass wir zuversichtlich und voll Hoffnung sein dürfen und dass wir mit ihm lernen können, Ängste zu überwinden. Denn er hat schon gesiegt, das Leben in uns hat schon gesiegt. Der fleischgewordene Logos ist so viel größer als jede noch so riesige Anhäufung von Datenmengen. Er ist und bleibt der Immanuel der Gott mit uns. Ihnen allen und Ihren Lieben ein von IHM gesegnetes Neues Jahr.
Hier finden Sie die Ansprache als Audio zum Nachhören:
Lesen Sie auch die Ansprache aus dem vergangenen Jahr: Was Hoffnung macht: Zuhören üben und die Nähe des Herrn
