In der Zeit der Krise: Die Suche nach dem, was wesentlich ist

Predigt beim Gottesdienst am 4. Fastensonntag, der aus der Andreas-Kapelle am Dom live übertragen wurde. Evangelium: Johannes 9,1-41

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

wir haben ein Evangelium gehört, in dem Jesus am jüdischen Festtag, dem Sabbat, einen Kranken gesund macht. Er heilt einen von Geburt an Blinden und schenkt ihm das Augenlicht. Und diese Heilungserzählung ist zugleich hineingewoben in eine größere und längere Geschichte, die von der Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern bestimmt ist. Darin geht es letztlich um Glauben und Unglauben, um Licht und Dunkel, um Sünde und Heil.

Wer hat gesündigt, wenn einer krank wird?

Zunächst einmal wollen die Jünger wissen, ob der Blindgeborene selbst schuld ist an seiner Blindheit oder seine Eltern: „Wer hat gesündigt, fragen sie, er selbst oder seine Eltern?“ Denn die Ursache von Krankheit und Not – so haben sie es in ihrer gläubigen Tradition gelernt – die Ursache davon ist Sünde. Und sie haben ja mit der Frage in gewisser Weise auch recht: Als Christen glauben und wissen wir auch, dass wir alle als Menschen nicht mehr in einem Paradies leben, also nicht mehr in tiefer, heiler Harmonie mit Gott und seiner Schöpfung. Wir haben das Paradies verlassen, und jeder Mensch ist in seinem Herzen von diesem Trauma in geheimnisvoller Weise gezeichnet. Niemand mehr von uns ist einfach nur heil. Und so ist im Grunde von Anfang an eine Welt entstanden, in der es zwar immer noch viel Gutes und Schönes und Wahres gibt; aber eben auch unfassbar viel Unheil, Ungerechtigkeit, Lüge, Neid, Hass, Krieg, Mord, Krankheit und Tod. So ist die Welt, in der wir leben. Aber so wie es heute kaum noch möglich ist, im Einzelnen zurückzuverfolgen, bei wem eine Ansteckung mit dem Corona-Virus erfolgt ist, so ist es nun auch mit dem Blindgeborenen: Die Welt ist insgesamt nicht mehr heil, sondern unheilvoll und auch bedrohlich. Und wir leben in ihr und sind alle davon betroffen, mancher mehr, mancher weniger ohne genau sagen zu können, warum. Und natürlich können und sollen wir als einzelne unseren Beitrag dazu leisten, dass wir gesund bleiben, oder dass wir das Virus nicht weitertragen, wenn wir infiziert sind. Aber die Frage, ob wir als Einzelne gesündigt haben, weil wir an irgendetwas wie Corona oder anderem erkrankt sind oder wie der Mann im Evangelium blindgeboren sind, die stellen wir uns so nicht mehr. Deshalb korrigiert Jesus die Jünger auch: Weder er, noch seine Eltern haben gesündigt, vielmehr soll an diesem Mann deutlich werden, dass Jesus ein Heiler in einer unheilvollen Welt ist. Und im weiteren Verlauf der Erzählung wird noch deutlicher, dass er viel mehr ist als nur ein Heiler von körperlichen Krankheiten. Er offenbart sich als Retter der Welt. Und eben das ist die Pointe der ganzen Erzählung. Die innere Heilung, die Öffnung eines inneren Weges nach Hause in die Gemeinschaft mit Gott, dorthin, wo meine tiefsten Sehnsüchte gestillt werden, das ist das eigentliche Heilwerden des Menschen.

Die eigentliche Heilung und die eigentliche Blindheit

Der Blindgeborene wird nach zwei Verhören durch die Pharisäer aus der Synagoge ausgestoßen, weil er zu Jesus gehalten und sich nicht von ihm distanziert hatte. Und als Jesus ihm danach wieder begegnet, fragt er ihn die alles entscheidende Frage. Sie lautet an dieser Stelle: Glaubst du an den Menschensohn? Und er antwortet: Ich glaube, Herr, und er wirft sich in einer Geste der Anbetung vor Jesus nieder. Die eigentliche Heilung, liebe Schwestern und Brüder, ereignet sich hier in dem Moment, in dem ein Mensch Jesus begegnet, ihn von innen her erkennt und bejaht als den, der er ist: der Menschensohn, der zugleich der Sohn Gottes ist. Dieser ist in der Blindheit und Dunkelheit der Welt das eigentliche Licht der Welt. Und am Ende der Erzählung kommt es noch einmal zu einem Dialog mit den Gegnern Jesu, die behaupten zu sehen. Aber bei Jesus, beim Licht der Welt, sehen sie offenbar nichts, sie erkennen ihn nicht. Das Fazit Jesu: ‚Darum bleibt ihr in eurer Sünde, in eurer Dunkelheit, in eurer Verlorenheit. Ob ihr nun mit den Augen seht oder nicht. Ihr seid geistlich gesehen blind, im Herzen blind.‘

Das Dringliche und das Wesentliche

Liebe Schwestern, liebe Brüder, Sie sehen, dass wir von hier gut einen weiteren Schritt machen und unsere eigene krisenhafte Situation von heute betrachten können. Sie ist dramatisch und bedrohlich für viele, viele Menschen, gesundheitlich, aber auch wirtschaftlich, im Blick auf die berufliche Existenz vieler. Und zugleich haben wir das Problem, dass wir dagegen nicht einfach etwas machen können, wie wir es gewohnt sind, wenn wir reagieren müssen. Im Gegenteil, die allermeisten von uns können nichts machen, außer daheim bleiben. Wir sind auf uns selbst zurück geworfen. Und wenn wir nicht selbst in Berufen arbeiten, wie in unseren Krankenhäuser oder in der Lebensmittelversorgung oder in der Sorge um die Sicherheit unseres Landes,  dann haben sehr viele von uns jetzt mehr Zeit. Das, was wir sonst als das Dringliche erfahren, was gerade herandrängt und nach schneller Erledigung ruft, das fällt jetzt vielfach weg. Und wir haben Gelegenheit, uns jetzt einmal ehrlich zu fragen: Ist all das Dringliche eigentlich tatsächlich immer das Wesentliche? Oder schiebt sich das Dringliche nicht oft genug einfach selbst ins Zentrum, und macht sich wesentlich ohne es letztlich zu sein.

Was ist das Wesentliche?

Was wäre denn das Wesentliche für uns? Wäre es nicht die Suche nach dem und die Pflege von dem, was mich im Innersten anrührt? Was mir in der Tiefe meiner Seele wirklich etwas bedeutet? Wie hätte ich zum Beispiel gerne gelebt oder was hätte ich gern verwirklicht, wenn ich morgen sterben würde? Was ist wirklich wichtig im Leben? Und was ist das Allerwichtigste? Aus dem Evangelium und dem Handeln Jesu geht im Grunde hervor, dass das Allerwichtigste ist, in der vertrauensvollen Beziehung mit Ihm zu leben – und mit Ihm zu lernen, die anderen Menschen wirklich anzunehmen, anzuerkennen – und wenn möglich auch absichtslos zu lieben, um ihretwillen. Im Grunde sind wir berufen, mit Gott und den Menschen in tiefen, heilen Beziehungen zu leben. Das ist es, was letztlich zählt und prägt. Aber ist es nicht so, dass all das so wichtig und dringlich Scheinende in der modernen Welt – uns oft genug gerade daran hindert: In unserer Gottesbeziehung tiefer zu werden – und in den Beziehungen zu den anderen liebevoller und absichtsloser?

Eine Gebetseinladung

Ich möchte Sie deshalb einladen, in der nächsten Zeit dem Wesentlichen den Vorrang vor dem Dringlichen zu geben und – sofern Sie es nicht schon tun – täglich und treu und aufrichtig zu beten. Vielleicht beginnen Sie mit 15 Minuten – werden Sie still vor Gott und lassen Seinen liebenden Blick auf sich ruhen, danken Sie ihm für das viele Gute in Ihrem Leben, bitten Sie ihn um Verzeihung bei Versagen, lesen Sie ein Wort der Bibel, versetzen Sie sich in die Szene und versuchen mit dem Herzen zu hören, wie Jesus spricht und handelt. Vielleicht bitten Sie Gott Ihnen zu zeigen, was wesentlich ist. Und überlegen Sie in diesem Kontext auch, wo Sie anderen dienen können, wo Sie Trost geben oder sich versöhnen können und anderes mehr. Schließen Sie mit einem Vater unser oder einem Ave Maria ab. Ich mag Ihnen fast versprechen, wenn Sie das aufrichtig und treu tun, dann wird Ihr Herz auf lange Sicht lichtvoller, friedvoller und mit Freude erfüllt. Denn Jesus ist das Licht – und mit Ihm kommt immer und immer wieder neu die Freude. Und die Christen aller Zeiten haben immer gewusst – dass dieses innere Licht auch dann da bleibt, wenn die Not groß und die Zeit herausfordernd ist. Und eben deshalb, weil wir Ihn, unsern Erlöser, kennen, lieben und feiern – deshalb dürfen wir heute auch „Laetare-Sonntag“ feiern, den Sonntag der Vorfreude im Weg auf Ostern hin – trotz allem. Amen