Foto: Felipe Correia / Unsplash.com

Die Nähe Gottes – und die Entfernung von ihm

Die Nähe Gottes – und die Entfernung von ihm. Woran zeigt sie sich? Die Predigt von Bischof Stefan Oster am 22. Sonntag im Jahreskreis 2015.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
wir haben in der ersten Lesung aus dem Buch Deuternonomium gehört. Dieses stellt eine Art abschließende, nochmalige Zusammenfassung der Lehren des Mose da und es ist deshalb auch in mehreren Abschiedsreden des Mose überliefert.

In der heutigen Lesung betont Mose die Bedeutung aller Gesetze, Regeln und Vorschriften. Sie sind der Ruhm Israels, sie sind seine Weisheit, sie machen die Größe dieses Volkes aus, weil das Volk aus der Überzeugung leben darf, dass sie von Gott kommen, dass sie Gesetze eines Volkes sind, das Gott kennt; eines Volkes, in dem Gott wohnt. „Welche große Nation hätte Götter, die ihm so nah sind, wie Jahwe unser Gott uns nahe ist,“ sagt Mose.

Wie zeigt sich die Nähe Gottes?

Mich beschäftigt an diesem letzten Satz, was das heißt: Nähe Gottes? Wie ist Jahwe dem Volk nahe, woran zeigt sich das? Und wie zeigt sich Entfernung von Gott? Das Evangelium von heute lässt Jesus dazu einen Satz zitieren, der erklärend ist.

Er diskutiert gerade mit den Pharisäern, es geht um Speisenvorschriften und um das Verhältnis von unserem Inneren und dem, was nur äußerlich ist; Thema ist im Grunde eine kleine Sache. Soll man sich vor dem Essen die Hände waschen? Die Pharisäer bestehen darauf. Jesus wirft ihnen daraufhin dieses Jesaja-Zitat an den Kopf: „Diese Volk ehrt mich mit den Lippen, aber sein Herz ist weit weg von mir.“

Das Menschenherz und die Nähe Gottes

Liebe Schwestern und Brüder, es ist das Menschenherz, das hier in Verbindung gebracht mit Nähe oder Ferne zu Gott. Und das ist ein Wort Jesu, das auch an uns gerichtet ist. Es sagt auch etwas über unsere Herzensverfassung, jedenfalls immer wieder. Denn auch wir dürfen von unserem Glauben davon ausgehen, dass Gott uns ja grundsätzlich nahe ist, wie dem Volk Israel.

Ja, Gott ist uns in bestimmter Hinsicht noch viel näher gekommen, denn das Geheimnis der Menschwerdung Jesu, das Geheimnis seiner Nähe in der Eucharistie, das ist unüberbietbar. Mit Jesus bricht eine völlig neue Qualität der Nähe Gottes zu seinem Volk an.

Er kann uns gar nicht mehr näher kommen

Er kann uns gar nicht mehr näher kommen als in der Hl. Messe, wo wir ihn leiblich und geistig in uns aufnehmen dürfen, wo wir uns ihn verinnerlichen, einverleiben dürfen. Wo ist ein Volk, dürfen auch wir mit Mose fragen, dem sein Gott so nahe ist, wie unser Gott uns nahe ist. Unfassbar nahe ist er uns.

Aber nun, wie ist es mit unserem Herzen bestellt? Kennen Sie nicht zum Beispiel die Erfahrung, dass Sie an einem Gottesdienst teilnehmen, in dem viele Gläubige wirklich tief offen sind auf die Gegenwart des Herrn und dadurch breitet sich dann auch manchmal spürbar etwas von dieser Gegenwart aus.

Geeint in der Freude seiner Gegenwart

Die Gläubigen sind geeint, in der Freude an dieser Gegenwart. Und wenn ein Außenstehender hinein käme, dann könnte er etwas von der Freude und Ergriffenheit der Menschen spüren und sich auch da mit hinein nehmen lassen. Das heißt: Die gläubige Offenheit der Menschen für das Geheimnis und auch füreinander kann die lebendige Erfahrung unter uns befördern, das Gott wirklich da ist, dass er uns nahe ist.

Sind wir bereit für die Nähe Gottes?

Aber das Umgekehrte kennen wir auch. Wir gehen irgendwo hin in die Kirche, weil wir uns halt verpflichtet fühlen, im Gottesdienst läuft das routinierte Programm ab und wir sind im Grunde froh, wenn es vorbei ist und nicht länger als maximal 45 Minuten dauert. Auch das kennen wir von uns, vermutlich jeder und jede von uns.

Wir sind im Herzen nicht immer bereit für Gott. Wir tun uns oft schwer, seine Anwesenheit wirklich zu glauben und dann auch wirklich für sie offen zu sein. Unser Kopf sagt dann zwar in der Tradition des Glaubens: Ja, Gott ist da, aber unser Herz kommt vielleicht oft nicht oder nicht gleich hinterher. Und dürfte dann Jesus nicht auch bisweilen zu mir sagen: „Du ehrst mich mit den Lippen, aber dein Herz ist weit weg von mir.“

Regeln und Vorschriften…

Und wenn wir das nun auf die Vorschriften und Regeln beziehen, von denen Mose spricht und von denen es ja in unserer Kirche auch welche gibt, dann fragen wir: Ist es nicht so, dass es auch einen Zusammenhang gibt zwischen einem Herzensglauben einerseits und der Fähigkeit, die Regeln zu verstehen und zu halten andererseits?

Ist es nicht oft so, dass wir ein besseres Verständnis haben für das, was die Kirche sagt, je tiefer wir mit dem Herzen bei Gott sind und im Glauben stehen, dass er wirklich in seiner Kirche wohnt? Und ist es nicht auch oft so, dass uns die Regeln der Kirche und die Gebote immer unverständlicher werden, je weiter wir mit dem Herzen weg sind, je weniger wir Gott lieben und seine Kirche als den Ort, wo er wohnt und wohnen will?

Beispiel Ehe

Ich sage nicht, Schwestern und Brüder, dass das immer und automatisch so sein muss, aber ich glaube es gibt da dennoch und grundsätzlich einen tiefen Zusammenhang: Ist es nicht wie in einer Ehe? In jeder Ehe haben sich Rituale eingespielt oder auch Regeln, Gesetzmäßigkeiten, wer für was zuständig ist, oder wie die Eheleute ihre Beziehung gestalten, was sie miteinander teilen, die Form, wie sie miteinander umgehen.

Ich kenne Paare, die wollen keinen Streit über Nacht dauern lassen, sondern klären, bevor sie das Licht ausmachen. Ich kenne Paare, die küssen sich immer, bevor sie auseinander gehen. Oder solche, die sich – wenn sie grad auseinander sind – täglich Nachricht geben voneinander und so fort. Rituale, Regeln, kleine Gesetze der Freundschaft, die beide Partner völlig automatisch einhalten. Und auch hier ist es so, je inniger Herz zu Herz zusammen klingen, desto selbstverständlicher ist gewissermaßen das Einhalten dieser Regeln, desto einfacher, desto anstrengungsloser.

„Sein Herz ist weit weg von mir“

Aber wenn das Herz eines der Partner sich irgendwann verabschiedet, wenn die Liebe allmählich abflaut, dann werden die Regeln, Gesetze, und Rituale anstrengend und zunehmend unverständlich. Oder sie werden leer. Und dann verstehen wir Jesus im Blick auf das Verhältnis seines Volkes zu Gott: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz ist weit weg von mir.“

Von hier, Schwestern und Brüder, schließlich einen Blick auf unser Herz selbst. Jesus ist im heutigen Evangelium nicht allzu gut auf das menschliche Herz zu sprechen. Er sagt: „Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft.“ All dies käme von innen und mache den Menschen unrein, sagt er.

Jesus will uns in die Nähe Gottes zurückgewinnen

Wenn wir uns nun fragen, wozu eigentlich Jesus auf die Welt gekommen ist, wozu er gelitten hat, auferstanden ist, und uns den Geist gesendet hat. Dann ist eine mögliche, tiefe Antwort: Um unser Herz für Gott zurück zu gewinnen!

Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft. Das ist das erste und wichtigste Gebot für uns alle, sagt Jesus. Wir dürfen uns fragen: Hat er unser Herz schon erobert. Gehören es schon Ihm, sitzt er schon auf dem Thron unseres Herzens oder sitzt da noch unser eigenes Ich oder irgendwas anderes, das wir für so wichtig nehmen, dass es statt seiner auf unserem inneren Thron sitzen darf?

Wer sitzt auf dem Thron meines Herzens?

Und täuschen wir uns nicht: Solange ich selbst da drauf sitze, mein Ego oder auch etwas anders, was nicht Gott ist, da hat es solche Folgen, die Jesus aufzählt, von bösen Gedanken über Unzucht bis zu Streit, Habsucht und vieles mehr.

Stellen Sie sich einfach mal vor: Jede Ihrer Herzensregung aus der letzten Woche, jedes Wort, jeder Gedanke, auch jede kleine oder größere Tat, jeder Spott, jeder Hochmut, jede Phantasie jedweder Hinsicht würde hier und heute für alle sichtbar wie ein Film vorbeilaufen. Ich sag Ihnen ehrlich: Ich würde mich jedenfalls sehr schämen. Mein Herz ist noch nicht rein. Gott hat wirklich noch zu tun damit.

Lieber auf Abstand?

Aber ich darf auch die Erfahrung machen: Je mehr ich den Herrn da hineinlasse, in jeden Winkel meiner Herzenskammer, je mehr ich lerne, ihm den Thron zu überlassen, desto mehr räumt er auf, nicht sofort alles, sondern nach und nach. Aber Sie und ich wissen auch: Es gibt Dinge in unserem Herzen, und das wissen wir alle, die überhaupt nicht kompatibel damit sind, dass Er selbst da Einzug halten darf. Und doch halten wir nur allzu gern an ihnen fest.

An diesem Stolz, an jener schlechten Angewohnheit, an diesem Spott, an jener kleinen oder größeren Gier. Solche Sachen in uns halten wir allzu gerne fest. Und die Konsequenz ist: Dann bleiben wir in der Regel auch Ihm gegenüber lieber auf Abstand: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber sein Herz ist weit weg von mir.“ Dann gehen wir bisweilen in die Messe, aber das was da abläuft hat im Grunde oft wenig zu tun mit mir.

Die Nähe Gottes ist seine Gegenwart

Liebe Schwestern und Brüder, unser Glaube sagt uns: Wir sind aus uns selbst nicht in der Lage, unser Herz selbst zu reinigen. Aber Er ist es. Je tiefer wir uns dem Herrn vertrauensvoll zuwenden, je mehr wir verstehen, erkennen lernen, wie unfassbar groß, tief, wahrhaftig, gut er ist, desto mehr werden wir geneigt, Ihm unser Herz zu schenken und es von Ihm reinigen zu lassen, in aller Offenheit und Umkehr – damit Er selbst immer mehr davon Besitz ergreifen kann.

Und je mehr er das tun darf, desto tiefer wird auch unsere eigene Erfahrung von seiner Gegenwart unter uns und in der Welt werden. Er selbst hat nämlich in der Bergpredigt diejenigen selig gepriesen, die reinen Herzens sind. Warum? Sie werden Gott schauen! Bitten wir also den Herrn, dass Er die Augen unseres Herzens immer tiefer reinigen möge, damit uns in allen Dingen, in der ganzen Schöpfung, in jedem Menschen, vor allem denen in Not, und besonders auch in der heiligen Messe seine Gegenwart aufleuchtet. Und damit wir dankbar und von Herzen bekennen können: Er ist der Immanuel, der Gott mit uns. Amen.