Was uns spaltet – und was wir für die Einheit brauchen

Die Ansprache zum Jahresschluss von Bischof Stefan Oster im Passauer Dom – hier zum Nachhören und – sehen, weiter unten zum Nachlesen.

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Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat schon in den 60er Jahren einen Satz aufgeschrieben, der in der Folge sehr viel zitiert und bedacht worden ist. Der Satz lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Was meint er damit? Ich meine für heute etwa folgendes: Wir leben seit über 70 Jahren in einer stabilen Demokratie, mit wichtigen Freiheitsrechten für den Einzelnen, mit Rechtsstaatlichkeit – und dazu noch mit beständig wachsendem Wohlstand. Böckenförde sagt nun, eine solche Staatsform braucht, um zu funktionieren, eine Art Grundlage von Werten und Überzeugungen, die von möglichst vielen geteilt werden. Zum Beispiel das Interesse am Gemeinwohl, am Funktionieren des gemeinsamen Ganzen, ein gewisses Maß an Bildung für alle, auch eine breite Verständigung darüber, was Menschsein ausmacht, etwas eine Verständigung über das, was Freiheit bedeutet und über das Maß der Freiheit für jeden, oder auch die Bereitschaft, sich einzubringen, oder sich möglichst wenig an Korruption zu beteiligen und manches mehr. Für einen funktionierenden, säkularen Staat sind solche Voraussetzungen nötig. Aber, sagt Böckenförde, der Staat selbst kann sie nicht garantieren. Diese Haltungen und gemeinsam geteilten Werte müssen immer neu hervorgebracht, gebildet, eingeübt und gelebt werden von den Menschen, die in so einem Staat leben.

 Drei große Stränge der Überlieferung

Ich bin nun der Meinung, dass die von vielen geteilte Auffassung darüber, wie wir als Menschen in unserem Land miteinander am besten leben, sich im Wesentlichen aus drei großen Strängen der Überlieferung geformt hat: da ist das Erbe der griechisch-römischen Antike, dann ist da unser jüdisch-christliche Erbe und da ist die europäische Aufklärung. Diese drei großen Stränge haben vor allem in den Ländern des Westens aufs Ganze gesehen dazu geführt, dass bis heute stabile Demokratien daraus hervorwachsen konnten; mit einem Menschenbild, dass die Freiheit des Einzelnen ebenso betont wie die Verantwortung für das Gemeinsame, für das Ganze. Und bei uns in Deutschland ist das Wesentliche dazu formuliert in unserem Grundgesetz. Dieses beginnt in seinem ersten, grundlegenden Artikel damit, dass es die Würde jedes einzelnen Menschen für unantastbar erklärt.

Die drohende Spaltung der Gesellschaft

Liebe Schwestern und Brüder, ich sage das einleitend mit dem Blick auf den Satz aus dem Evangelium, den wir gehört haben. Jesus sagt: „Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben.“ Wir hören in den letzten Monaten und seit wenigen Jahren in unserer Gesellschaft und in unserer Kirche immer wieder dieses Wort „Spaltung“ und wir spüren, wie die Pandemie und die unterschiedlichen Einschätzungen, wie wir sie bewältigen, die Rede von der Spaltung der Gesellschaft verschärfen und beschleunigen. Aber es ist nicht nur die Pandemie, es sind noch weitere Themen, die diese Rede befördern, zum Beispiel die Fragen nach dem Umgang mit Migranten, nach dem Umgang mit der Klimakrise. Es ist die Genderfrage und es sind die damit verbundenen Fragen nach Formen des Zusammenlebens und der Sprache über die Geschlechter. Und das Problem ist, dass viele dieser Fragen irgendwie tatsächlich mit sehr Grundsätzlichem zu tun haben: eben mit dem Verständnis des Menschen generell, mit der Frage nach seiner Freiheit und ihrer möglichen Einschränkung; auch mit der Würde des Menschen, wenn wir etwa an den Umgang mit Migranten oder Minderheiten denken. Oder mit dem Blick auf unsere Schöpfung insgesamt. Irgendwie spürt man, steht das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zum anderen und zur Schöpfung insgesamt infrage. Der Mensch ist sich selbst immer eine Frage gewesen – und mir scheint, die Fragen werden größer, nicht kleiner. Und über alledem drohen die westlichen Gesellschaften auseinanderzutreiben, eben weil die großen, einstmals von den meisten geteilten Grundorientierungen über unser Leben plötzlich nicht mehr stabil sind. Viele Menschen spüren damit auch, dass diese Erfahrung von Spaltung gefährlich ist für unsere Demokratie, für unseren freiheitlichen Rechtsstaat. Weil dieser eben, wie Böckenförde sagt, Voraussetzungen braucht, die er aber als Staat selbst nicht garantieren kann. Brechen uns gerade diese Voraussetzungen weg? „Wenn ein Reich in sich gespalten ist“, sagt Jesus, „kann es keinen Bestand haben.“

 Soziale Medien und die Spaltung

Ich möchte noch zwei weitere Phänomene dazu legen, die aus meiner Sicht diese Krise unserer Gesellschaft verschärfen. Das erste ist die Digitalisierung und mit ihr vor allem das Phänomen der Social Media, also von Plattformen wie YouTube, Facebook, Instagram und anderen, wo Menschen Inhalte mitteilen und Inhalte aufnehmen. Mittlerweile ist übrigens über die Hälfte der gesamten Menschheit, also über 4 Milliarden Menschen, in den Sozialen Medien aktiv. Dabei geht es naturgemäß um Klickzahlen, also um die Frage, wie oft mein Beitrag oder der eines anderen angeklickt und angeschaut oder angehört wird. Denn jeder wünscht sich ja für seinen Inhalt möglichst große Reichweite. Die Social-Media-Plattformen sind nun so programmiert, dass ihre Nutzer fortwährend neue Inhalte zugespielt bekommen, die dem ähneln, was sie auch selbst eingegeben oder selbst schon genutzt haben. Für die Plattformen ist das deshalb attraktiv, weil sie mit den Inhalten die Klickzahlen erhöhen und damit zugleich auch viel Werbung gezielt platzieren und so ihr vieles Geld verdienen können. Und gleichzeitig wächst damit das Interesse bei den meisten Nutzern, dass diese Inhalte immer noch mehr zugespitzt werden, damit sie möglichst hohen Anreiz bieten, angeklickt zu werden. Und solche Anreize funktionieren natürlich über die Weckung von Emotionen, Triebbedürfnissen und Polarisierungen, von Streit. Das macht die Dinge interessant. Aber alles das erzeugt nun das Phänomen, dass sich viele Social Media Nutzer immer mehr in ihrer eigenen inhaltlichen Blase finden, oft nur mehr die Dinge wahrnehmen, die ihnen eingespielt werden, die oft noch zugespitzt werden. Und sie lassen sich damit zugleich immer weniger mit den Ansichten anderer konfrontieren. Und so passiert es auch, dass ich unter dem Anschein der Einheit mit vielen anderen in meiner Blase, außerhalb dieser Einheit plötzlich Feinde habe – echte oder imaginäre – weil die doch in so wichtigen Fragen meine Position gefährden.

 Zerfall der demokratischen Kultur in Sozialen Medien

Und so gerät in Social Media die Kultur einer demokratisch geführten Debatte mit der Achtung vor dem Anderen und seinem Argument zu einem emotionalisierten Schlagabtausch, in dem ich den Andersdenkenden vor allem als Gefährdung, als Feind betrachte. Hassrede, öffentliches Anprangern, Verächtlichmachung des vermeintlichen Gegners, übelste Beschimpfungen und Verleumdungen, Fake News – all das ist plötzlich ungestraft möglich, weil ich ja alles das auch noch aus anonymer Distanz absetzen und so meinen allerniedrigsten Bedürfnissen und Unzufriedenheiten Ausdruck verleihen kann. Und ja, vor allem, wenn wir Social Media in dieser Weise nutzen und weiternutzen, gefährdet das unsere öffentliche, demokratische Kultur. Zumal dann, wenn andere Medien vor allem von der jüngeren Generation immer weniger genutzt werden; solche Medien, die mehr und längere Aufmerksamkeit verlangen, die mehr in die Tiefe führen und Differenzierung ermöglichen, wie zum Beispiel Bücher oder Qualitätszeitungen. Und wenn ich dann bisweilen in unsere christlichen Auftritte in Social Media schaue, etwa auf Kommentarspalten bei Facebook von manchen christlichen Seiten, dann muss ich leider sagen: Da sind wir Christen in der gegenseitigen Anklage und Verleumdung oft keinen Deut besser als viele andere in dieser Gesellschaft. Kaum je erlebe ich, dass versucht wird, dass einer aus dem einen Lager versucht, das Argument eines Menschen aus dem anderen Lager zu retten – und das Gute darin zu sehen und die gute Absicht des Autors. Vielmehr wird oft sehr schnell die sachliche Ebene verlassen und die Person selbst attackiert oder verächtlich gemacht.

 Die Krise des Glaubens und der Kirche

Und genau diese Beobachtung bringt uns zu einem zweiten Phänomen, das die Polarisierungen in der Gesamtgesellschaft verschärft. Ich meine die Krise des Glaubens und der Kirche oder der Kirchen. Ich bin nämlich einerseits überzeugt, liebe Schwestern und Brüder, dass der Einfluss des christlichen Glaubens und des damit verbundenen Menschenbildes eine derjenigen Voraussetzungen nach Böckenförde ist, die bei uns einen freiheitlichen Rechtsstaat funktionieren lassen. Und womöglich ist es sogar die wichtigste Voraussetzung dafür. Denn ich glaube, dass vor allem der Satz von der unantastbaren Würde des Menschen als Fundament unseres Grundgesetzes ohne diesen Hintergrund nie formuliert worden wäre. Wir Christen glauben aber, dass die Würde des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit begründet liegt. Wir glauben, dass wir einzigartige, unvertauschbare, unwiederbringliche Wesen sind. Wir sind Personen, weil sich auch unser Gott personal geoffenbart hat, als ein Du, als ein geistiges Gegenüber, auf den wir als Menschen zutiefst bezogen sind. Und Jesus Christus kommt und offenbart uns diesen Gott als gütigen, liebenden Vater. Jesus kommt an Weihnachten vor 2000 Jahren zu uns Menschen als Mensch, damit wir in das Reich seines Vaters zurückfinden, damit wir erlöst werden von Gottesentfernung und dem Leben in Dunkelheit, in Sünde und in oft gefühlter Sinnlosigkeit und Einsamkeit, in Lieblosigkeit. Jesus will uns hineinlieben ins Reich Gottes und will uns befähigen, neue Menschen zu werden, die in der Lage sind, ihn und einander wirklich zu lieben, einander wirklich gut zu sein.

Der Vatergott und die „fratelli tutti“

Die zwei fundamentalen Gebote, die uns Jesus als die allerwichtigsten gibt, sind deshalb auch die: Gott über alles zu lieben – und den Nächsten wie dich selbst. Liebe Schwestern und Brüder, was sind Christen, die so leben und das ernst nehmen, für ein Potential für jede Gesellschaft! Und was könnte diese Gesellschaft für einen inneren Halt haben, wenn die vielen Millionen bei uns, die alle noch zu christlichen Kirchen gehören, in diesem Sinne ebenfalls neue Menschen wären. Wir Christen könnten die sein, die wirklich aus dem Vertrauen leben, dass unser Vatergott zugleich der Vater aller Menschen ist, ausnahmslos aller; dass wir also „fratelli tutti“ sind, wie es Papst Franziskus in seiner letzten Enzyklika gesagt hat. Wir sind in der Tiefe unserer Seele, in der Tiefe unserer Identität, alle Geschwister – weil Kinder eines liebenden Vaters. Würden wir neu zu dieser inneren Identität durchstoßen, könnten wir in der Lage sein, zu allen Menschen gut zu sein. Wir könnten in der Lage sein, mit allen Menschen in einen tiefen, echten, aufrichtigen Dialog zu treten – weil unser Gott in sich selbst Dialog ist, nämlich ein wechselseitiges, liebendes Zueinander von Vater und Sohn im Heiligen Geist.

Den Gegner achten

Gerade wir Christen müssten uns nicht fortwährend ängstlich in unserer Bubble einschließen, weil wir innerlich auf einem Boden stehen, der uns schon trägt. Und von diesem Getragensein, könnten wir offen sein, herzvoll, sogar bereit, uns verwunden zu lassen und aufeinander zuzugehen. Wir könnten Vergebende, Verzeihende sein, weil auch uns in Christus alles vergeben ist. Und weil wir aus dem tiefen Vertrauen leben, dass Er mit uns geht. Wir könnten als Impfbefürworter, der ich auch bin, trotzdem versuchen auch die Impfgegner als unsere Geschwister zu achten, auch ihre Argumente wirklich zu hören – und vielleicht könnten es die anderen auch umgekehrt. Und wir könnten uns innerkirchlich darüber verständigen, dass unser gemeinsamer Glaube an Jesus so viel wichtiger ist als diese Frage nach der Bewertung der Impfung. Wir könnten die Ängste der einen vor dem Klimawandel und die der anderen vor den Migranten ernst nehmen – und trotzdem zugleich daran mitarbeiten, dass wir in diesen wesentlichen Fragen gut weiterkommen. Wären wir in diesem tief christlichen Sinn dialogische Menschen, aus dem glaubenden Vertrauen, dass uns nichts trennen kann von der Liebe des Vaters, dann könnten wir aufrichtig den berühmten Zeilen eines sehr frühen, antiken Kirchenvaters zustimmen. Dieser, der unbekannte Autor des sogenannten Briefes an Diognet, hat Ende des zweiten Jahrhunderts geschrieben: „Was die Seele im Leib ist, das sind die Christen in der Welt.“

Viele Gläubige fühlen sich als Verlierer

Unser Problem von heute ist aber: So viele längerfristige Entwicklungen von Denken und Lebensart, von Kultur und Gesellschaft führen seit Jahrzehnten dazu, dass es immer schwerer für uns wird, auf den bisher erlernten Wegen den Glauben plausibel zu machen. Dazu kommen große innerkirchliche Skandale, wie der Missbrauch, wie Finanzskandale. Dazu kommen innerkirchliche Polarisierungen, die das noch einmal erschweren. Wir erleben aus den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland seit Jahren starke Abwanderungsbewegungen. Im nächsten Jahr werden vermutlich über die Hälfte aller Deutschen erstmals nicht mehr offiziell einer der großen Kirchen in unserem Land angehören. Und vermutlich wird sich dieser Prozess weiter fortsetzen, womöglich beschleunigen. Wir erleben, wie wir als Kirche viel von unserer Glaubwürdigkeit, von gesellschaftlicher Relevanz und unseren Möglichkeiten der Mitgestaltung von Gesellschaft einbüßen. Und viele von uns fühlen sich in alledem womöglich nicht selten als die Verlierer, die sich dauernd dafür rechtfertigen müssen, dass sie noch dabei sind.

 Die dunkle Seite mischt auch mit

Und, Schwestern und Brüder, ich bin auch überzeugt, dass sich die dunkle Seite der geistlichen Welt solche Zeiten wie diese auch besonders zunutze macht. Der Teufel ist biblisch gerade der Spalter, der Durcheinanderwerfer in Person, der mit allen Mitteln unser Gottvertrauen erschüttern will. Wir kämpfen in der Tiefe nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut, wie Paulus im Epheserbrief sagt, wir kämpfen geistlich gesprochen, gegen die Mächte und Einflüsse des Bösen, die in uns Ängste erzeugen wollen und Entmutigung und Verunsicherung. Der Böse will eine Atmosphäre entstehen lassen, in der die Spaltung immer tiefer wird, in der der Glaube immer mehr verunsichert wird und verdunstet; eine Atmosphäre, in der es als unangemessen gilt, über Jesus zu reden, eine Atmosphäre, in der jede Erwähnung der Kirche mit negativem Unterton geäußert werden muss, um im Gespräch akzeptiert zu werden; eine Atmosphäre, in der der Glaube bestenfalls als Privatsache akzeptiert wird; eine Atmosphäre, in der man sich gefälligst zu schämen hat, wenn man immer noch katholisch ist. Und so wird es möglich, dass auch in den Glaubenden selbst der Zweifel hochsteigt und der innere Halt schwächer wird, dass viele Menschen sich genötigt sehen, sich zu rechtfertigen und zu beschwichtigen: „Ja, ich bin schon noch katholisch. Immerhin passiert in der Kirche auch viel Gutes im sozialen Bereich.“  Stimmt ja, liebe Schwestern und Brüder, wir Christen sind sozial, aber wir sind es letztlich aus einem einzigen Grund: Weil wir einen unfassbar liebenden Gott kennen, der ein Herz für jeden Menschen hat, besonders für die Armen. Und weil wir in jedem selbstlosen Dienst an einem Menschen unseren Gott ehren und weil Jesus selbst uns in jedem Menschen entgegenkommt. Unser Engagement ist eine Konsequenz aus unserem Glauben an Jesus und den Vater. Und unser Dienst ist ein sprechendes Zeugnis dafür. Aber davon sprechen viele nicht mehr – und womöglich wissen es auch viele gar nicht mehr.

Und die Verschwörungstheorien?

Der Glaube – so spüren viele – wird schwächer, verdunstet in diesen Zeiten. Und wenn einem Menschen sein Glauben an Christus verloren geht, dann ist es in der Regel nicht so, dass er dann nur noch mit einem nüchternen, wissenschaftlichen Verstand durch die Welt geht. Es ist in der Regel vielmehr so, dass dieser Mensch dann geneigt ist, alles Mögliche zu glauben – und damit oft auch allen möglichen Mist. Und auch das erleben wir zur Zeit in besonderer Weise. Auch Verschwörungstheorien entstehen in der Regel als Folge von allen möglichen rationalen oder irrationalen Ängsten – die uns dann verleiten, Zusammenhänge zu sehen, wo meist keine sind. Und Theorien zu konstruieren, die in der Bubble geschützt werden müssen, damit sie niemand ernsthaft anfragt. Irgendeinen Glauben braucht jeder Mensch – und sei es an eine Verschwörungstheorie, die ihrerseits wieder geeignet ist zu spalten, voneinander abzuspalten.

Die Überwindung durch existenziell gelebten Glauben

Liebe Schwestern und Brüder, wie kommen wir aus dieser Gemengelage der drohenden Spaltung heraus? Meine Antwort ist im Grunde schon gegeben. Es ist der Glaube, der uns rettet. Und zwar der Glaube als ein tiefes, existenzielles Vertrauen auf Jesus, der uns mit dem Vater versöhnt. „Was kann uns trennen von der Liebe Christi?“, fragt Paulus im Römerbrief. Und er zählt die Dinge auf, die in Frage kämen: „Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?“ Alles das, so erklärt er: „All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.“ Wenn wir das ernst nehmen, dann haben wir in dieser Welt im Grunde keine wichtigere Aufgabe als Christus kennen und lieben zu lernen und anderen zu helfen, auch in diese Beziehung zu finden. Und ja, ich bin tief überzeugt, dass das in erster Linie in und durch unsere Kirche geschehen kann, die oft so verschmähte. Denn wir alle sind zwar sündige Menschen, die oft genug das Erscheinungsbild der Kirche verdunkeln, aber wir sind auch Kinder der Mutter Gottes, Geschwister der Heiligen. Wir haben die Gemeinschaft, wir haben die Sakramente und das Wort Gottes selbst. Wenn wir uns also in unserer Kirche ernsthaft auf Christus einlassen, wenn wir darin wachsen, wenn die innere Verbundenheit mit Ihm wächst, wenn wir ein Gespür dafür bekommen, wie er durch uns in der Welt wirken will, wenn wir ernsthaft in seine Schule gehen wollen, weil wir auf seinen Namen getauft sind, wenn wir mit Ihm beten und von Ihm zum Vater beten lernen und wenn wir von Ihm lieben lernen, dann dürfen wir auch spüren, wie der innere Frieden wächst und die Freude, die von Ihm kommen. Und die Angst nimmt ab, weil auch die dunklen Mächte vor Ihm weichen. Dann dürfen wir in die Erfahrung hineinfinden, wie Er uns zum Zeugnis befähigt. Und wie er uns zu Dienerinnen und Dienern einer Einheit macht, die tiefer reicht als ein Waffenstillstand oder auch tiefer als ein ausgehandelter Kompromiss. Eine Einheit, von der ich überzeugt bin, dass sie in der Tiefe auch unserem Staat und unserer Gesellschaft dienen und zur erneuerten Einheit verhelfen kann. Denn wie sagt Jesus: „Ein Reich, das in sich gespalten ist, hat keinen Bestand“. Ich habe jedenfalls die Hoffnung, dass die Erinnerung an diesen Glauben auch in unserem Land nicht verschwindet – sondern dass sich das Land dieser Wurzeln wieder besinnt, zumal dann, wenn die Krisen womöglich noch tiefgreifender zu werden drohen.

 Spaltung durch Jesus?

Aber was, werden Sie vielleicht noch fragen, was ist mit der Prophezeiung Jesu, dass sich seinetwegen nicht nur Einheit, sondern auch Spaltungen ereignen werden, die mitten durch die Familien gehen? Wo wäre da die Einheit sichtbar, die der Glaube bringen kann? Ich meine, bei dieser Frage im Evangelium geht es um eine Entscheidung darüber, ob der Herr in meinem Leben wichtiger sein darf als zum Beispiel die Anliegen und Wünsche meiner Familie für mich. Und ob ich Ihm darin wirklich folge. Wenn dieser Weg der Nachfolge dann echt ist und von innen kommt, wird er ein Weg der Demut, des inneren Friedens und der Gewaltlosigkeit sein, einer auf dem der Jesus-Nachfolger trotz allem der ihn ablehnenden Familie liebend und vergebend verbunden bleiben kann. Ein Weg, der nicht einfach fanatisch ist und sich in dieser Weise gegen die Familie wendet. Wenn jemand den Weg so gehen kann, zeigt sich seine Echtheit. Es zeigt sich, woher die Quelle der Liebe kommt – und dass letztlich jeder Mensch, jede Familie und jedes Volk gerufen ist, sich diesem Herrn anzuvertrauen. Denn Er ist der König der Welt, der König aller Welten. Er ist der Sieger – der mit uns geht durch die Zeit, durch das neue kommende Jahr und bis ans Ende der Zeit. Und er wird wiederkommen als Richter und er wird alle die, die Ihn ehrlichen Herzens gesucht haben und alle, die Ihm in der Suche treu geblieben sind, einladen in die Freude seines Reiches. Und dann wird jedes Reich, jeder Staat, jede Familie, jeder Mensch erkennen, erkennen müssen, welches die Voraussetzungen waren, auf denen alles letztlich gebaut war. Liebe Schwestern und Brüder, ich möchte Sie abschließend einladen: Geben Sie IHM, unserem Herrn, im Neuen Jahr den Raum, der IHM gebührt. Lösen Sie erneut Ihr Taufversprechen ein und lassen Ihn von neuem auch die grundlegende Voraussetzung für Ihr eigenes Leben sein, damit es gelingt und damit auch in Ihnen und unter uns allen Spaltung überwunden und mehr Einheit möglich wird. Amen.


Warum nur kann der Mensch so schwer „ruhig in seinem Zimmer bleiben“? (Pascal) – Die Ansprache von Bischof Stefan Oster zur Jahresschlussandacht des Vorjahres finden Sie hier.

Die Predigt zur Jahresschlussandacht 2022 finden Sie hier.