Wann trauern wir? Wie trauern wir? Und Warum trauern wir? Gedanken von Bischof Stefan Oster darüber, dass die ganze Welt in Unordnung ist. Mit dem Ergebnis: Unsere Gottesbeziehung bedarf der Heilung.
Das Zugunglück von Bad Aibling ist furchtbar! Keine Frage. Unsere Anteilnahme gilt den Toten, den Verletzten, den Trauernden. In vielen Gottesdiensten in unserem Land beten wir für sie – auch heute. Der Schreck sitzt uns wohl auch deshalb besonders in den Gliedern, weil wir uns alle so gut hineinversetzen können in die Opfer: Jeder steigt in öffentliche Verkehrsmittel, immer wieder, und in der Regel im völligen Vertrauen, dass er in gewohnter Weise und sicher am Ziel ankommt. Und plötzlich wird in unserem Vertrauen etwas erschüttert durch so ein Unglück, brutal und ohne Vorwarnung.
Öffentlich trauern
Was mich dann aber darüber hinaus beschäftigt, ist der Zusammenhang zwischen öffentlicher Wahrnehmung und öffentlicher Reaktion und Trauer. Warum lassen zum Beispiel Parteien ihre politischen Veranstaltungen am Tag danach ausfallen – aufgrund der Tatsache, dass bei einem Zugunglück eine bestimmte Zahl von Menschen sterben und verletzt werden?
Und warum zum Beispiel nur einen Tag lang und warum ausgerechnet politische Veranstaltungen und in welchem Umkreis? Oder warum gehen am selben Tag der (vermeintlichen?) öffentlichen Trauer anderswo ohne Unterbrechung Starkbieranstiche munter los oder weiter – zusammen mit den zugehörigen lustigen Feiern? Warum trauern politisch Aktive über 11 Tote so öffentlich und gemeinsam und für einen Tag? Ich möchte das alles nicht ironisch fragen, sondern ernsthaft. Warum handeln wir unter dem Eindruck von Öffentlichkeit genau so und nicht anders?
Warum trauern wir nicht ganz anders?
Und warum trauern wir nicht (oder, wenn doch, dann ganz anders) zum Beispiel über die vielen anderen Verkehrstoten täglich in unserem Land? Im Durchschnitt sind es 3.300 im Jahr, also etwa neun pro Tag! Oder über andere Tote. An den Folgen von Alkoholkonsum beispielsweise sterben in Deutschland 15.000 Menschen pro Jahr, also 41 pro Tag, durch Konsum von Rauschgift etwa 8 pro Tag.
Oder warum trauern wir zum Bespiel nicht über die vielen Menschen, die jeden Tag in deutschen Krankenhäusern an Keimen sterben, die sie sich dort zuziehen? Krankenhauskeime als Todesursache gibt es angeblich bei 30.000 Menschen im Jahr, also bei 82 pro Tag! Warum trauern wir nicht um die abgetriebenen Kinder in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren: 100.000 pro Jahr wird gesagt, also etwa 275 pro Tag! Allein in Deutschland! Von Toten über die regionale oder nationale Betroffenheit hinaus, etwa bei Krieg, Verfolgung, Naturkatastrophen will ich gar nicht reden.
Wo beginnt ehrliche Betroffenheit?
Mich beschäftigt: Wer trauert hier wann, wie, warum? Und wenn wir diesen zusätzlich aufgezählten Toten richtig öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen würden, würden dann auch politische Veranstaltungen ausfallen, wäre dann auch öffentliche Trauer? Wäre dann auch „Zeit der Besinnung“ oder gar „Zeit der Umkehr“? Oder wollen wir diese anderen Zahlen vielleicht gar nicht so genau wissen, wollen wir ihnen vielleicht gar keine Öffentlichkeit geben, weil es uns ohnehin nicht so groß stört, oder weil es zu unangenehm wäre?
Oder weil wir dann aus dem öffentlichen Trauern gar nicht mehr rauskämen? Trauern wir nur, wenn es unausweichlich öffentliche Betroffenheit gibt wie in Bad Aibling? Und dann halt irgendwie notgedrungen – aber wenn schon, dann auch öffentlichkeitswirksam? Wo beginnt ehrliche Betroffenheit und wo endet sie in öffentlicher Heuchelei? Ich habe keine Antwort und will auch nicht einfach anklagen, spüre nur, dass da bestimmte Maßstäbe wohl nicht immer zusammen passen.
Gott hat keinen Gefallen am Tod von Unschuldigen
Gerade die letztgenannte Zahl bei den Abtreibungen beschäftigt mich sehr: Wir glauben, dass Gott ein Gott des Lebens ist, dass er nicht den Tod will, er hat auch „kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt.“ (Ex 33,11). Und Gott hat noch viel weniger Gefallen am Tod des Unschuldigen. Warum dann der Mensch dennoch stirbt? Und warum es große Unglücke und Katastrophen gibt? Warum Gott das alles zulässt? Ich weiß keine letzte Antwort. Natürlich nicht.
Die Schrift sagt aber, dass die ganze Welt in Unordnung ist – durch die Art und Weise wie der Mensch ist und in ihr lebt. Und dass der Mensch deshalb nichts mehr nötig hat, als die durch Christus erneuerte Beziehung zu Gott, dem Vater des Lebens. Auch weil erst diese Beziehung die innere Haltung des Menschen und die Art seiner Zuwendung zum Anderen und zur Welt grundlegend zu erneuern vermag. Dass uns dann Katastrophen automatisch erspart blieben, sagt der Glaube nicht. Aber er sagt, dass wir durch das erneuerte Gottesverhältnis eine andere Kapazität haben, mit Katastrophen umzugehen und besonders Notleidenden beizustehen.
Die Welt ist in Unordnung und braucht Heilung
Die Schrift sagt dann auch, dass der Segen erst dort ankommen kann, wo der Mensch zulässt, dass seine Gottesbeziehung geheilt wird, aufrichtig wird, tief wird. Und wo er dann deshalb auch ein anderes Verhältnis zum anderen Menschen finden kann, besonders zu den schwächeren.
Wir sehnen uns alle nach Segen, nach Frieden für unser Land. Als Christ wünsche ich mir von Herzen auch geistige und geistliche Fruchtbarkeit und Wachstum, das Gott schenkt und nach meiner festen Überzeugung auch schenken will.
Trauern: Herzenshaltung und Linderung von Not
Aber die Texte des Alten wie des Neuen Testaments machen sehr deutlich, dass es einen inneren Zusammenhang gibt zwischen der Herzenshaltung bei unseren religiösen Vollzügen einerseits und unserer Großherzigkeit beim Einsatz für eine gerechte Gesellschaft, für die Linderung der Not von Menschen, vor allem für die Schwächsten andererseits. Und sie machen deutlich, dass genau dieser Zusammenhang eine Voraussetzung ist für den erhofften Segen. Mit dem Herzen wirklich bei Gott – und deshalb (!) zugleich mit dem Herzen bei Menschen in Not – als Diener und Dienerinnen des Lebens.
Darauf liegt der Segen – sagt der Glaube und sagt die Schrift. Ich bete darum, auch für mich, dass uns im Zugehen auf Ostern dieser Zusammenhang neu erfahrbar wird. Und dass wir mit Gottes Hilfe das Unsere tun können, damit der Segen, den Er immer neu ausgießen will, auch einen Ankunftsort findet in mir, in uns und unter uns. Und dass dadurch womöglich auch unsere privaten und öffentlichen emotionalen oder religiösen Vollzüge an Glaubwürdigkeit gewinnen – zum Beispiel auch unsere Formen des öffentlichen Trauerns.