Ansprache am Silvesterabend 2023
Grund zur Depression oder Wiederentdeckung der Freude? – darüber sprach Bischof Stefan Oster in seiner Ansprache am Silvesterabend 2023. Auf der Bistumshomepage finden Sie einen ausführlichen Artikel über die Jahreschlussandacht 2023. Hier zum Nachhören und Downloaden die etwas verkürzte Sprechversion, darunter die etwas längere, ursprüngliche Version zum Nachlesen.
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Liebe Schwestern und Brüder,
die Lage der Kirche, besser noch die Lage der Kirchen in Deutschland, ist äußerlich gesehen dramatisch. Noch nie hatten wir Austrittszahlen in diesen Dimensionen. Im Jahr 2022 waren über eine halbe Million Menschen aus der Katholischen Kirche in diesem Land ausgetreten, bei den evangelischen Geschwistern waren es über 380 000. Die Entkonfessionalisierung beschleunigt sich auf vielen Ebenen und macht deutlich, dass wir auf dem Weg in ein Land, eine Gesellschaft sind, die man allmählich postchristlich nennen könnte. Inzwischen gehören weniger als die Hälfte der Menschen in unserem Land einem christlichen Bekenntnis an. Und von denen, die noch einem Bekenntnis angehören, insofern sie als Mitglieder Kirchensteuern zahlen, gehen von den Katholiken weit über 90 Prozent nicht mehr in den Gottesdienst. Viele Menschen, die die Kirche verlassen, sind enttäuscht von ihr. Bei uns Katholiken häufig über die vielen Skandale, allen voran der Missbrauch, aber auch über Finanzskandalen, die bis in den Vatikan reichen. Sie sind aber auch enttäuscht über die mangelnde Fähigkeit oder den mangelnden Willen zur Veränderung, zur Anpassung an moderne Zeit und modernes Denken und anderes mehr. Zum ersten Mal haben wir Katholiken in diesem Jahr auch an einer so genannten Kirchenbindungsstudie teilgenommen, die unsere evangelischen Geschwister schon öfter im Abstand von zehn Jahren durchgeführt haben.
Die Verbundenheit mit Kirche gehr deutlich zurück
Die Ergebnisse zeigen überdeutlich, dass die Verbundenheit der Menschen mit ihrer Kirche massiv zurückgeht. Insgesamt sind nur noch sechs Prozent der Menschen über 14 Jahre in Deutschland in erster Linie kirchlich religiös – in dem Sinn also, dass sie ihre Gläubigkeit zuerst und vor allem aus der kirchlichen Tradition heraus formulieren würden. Weitere sieben Prozent, werden auch noch als kirchlich-religiös bezeichnet; aber so, dass sie ihren von der Kirche her geprägten Glauben auch noch mit anderen religiösen Überzeugungen kombinieren, zum Beispiel mit jener von der Reinkarnation oder anderem. Insgesamt also 13 Prozent der über 14jährigen, die von ihrer Kirche her, ob katholisch oder evangelisch, Grundüberzeugungen haben, in engerer oder weiterer Auslegung.
Für 56 Prozent der Menschen spielt Religion keine Rolle mehr
Weitere 25 Prozent der Befragten sehen sich als religiös-distanziert. Sie haben eine eher suchende Form von Glauben, verbinden diesen aber nicht oder nicht mehr mit einem kirchlichen oder gar jesuanisch geprägten Glauben, viele von diesen sind aber noch in einer der Kirchen. Ein paar wenige Prozent, erstaunlich wenige, haben eine ausgeprägte Art eines alternativen Glaubens, zum Beispiel esoterischer Art, auch wenn von denen ebenfalls noch viele zahlende Mitglieder der Kirchen sind. Und die mit Abstand größte Gruppe, nämlich 56 Prozent sind die so genannten Säkularen, also Menschen, die von sich sagen, dass Religion in ihrem Leben keine Rolle spielt. Die allermeisten von diesen sind abwehrend gegen jedes religiöse Thema, ein weiterer Teil indifferent, ein kleiner Teil wäre wohl auch zumindest ansprechbar. Aber Sie sehen, was da auf uns zukommt, zumal sich die Zahlen im Vergleich zu vor 10 Jahren deutlich hin zu Areligiosität entwickelt hat. Interessant ist auch diese Zahl: Insgesamt 87 Prozent aller Befragten der über 14jährigen stimmen der Aussage zu: „Keine Religion ist besser als andere – alle Religionen haben in gleichem Maße Recht oder Unrecht“. Interessant ist dabei, dass diese hohe Zustimmungsrate von deutlich über 80 Prozent fast gleich ist, egal ob Sie Katholiken, Evangelische oder Konfessionslose fragen.
Das Vertrauen in unsere Kirche ist auf historischem Tiefstand
Viele Menschen, die noch Mitglied sind, denken darüber nach aus der Kirche auszutreten. Bei uns Katholischen sind es mehr als bei den Evangelischen. Das war bis vor einigen Jahren eher umgekehrt, jetzt ist es vor allem ausgelöst durch die massive öffentliche Berichterstattung über die Missbrauchsskandale. Das Vertrauen in unsere Katholische Kirche ist insgesamt bei der Bevölkerung deutlich gesunken, wir liegen als Kirche hinter den politischen Parteien und ungefähr auf dem Niveau des Islam. Die evangelische Kirche steht da derzeit eher besser da, liegt aber insgesamt, besonders bei Konfessionslosen auch auf relativ niedrigem Niveau. Interessant ist dabei, dass die Caritas und die Diakonie, also die Hilfsdienste beider großen Kirchen für Menschen, die hilfebedürftig sind, beim Vertrauen der Menschen deutlich besser liegen. Das bedeutet aber auch, dass die Wahrnehmung dieser Hilfsdienste entkoppelt ist von der Wahrnehmung der Kirche allgemein. Die Menschen bringen nicht mehr zusammen, dass Caritas Katholische Kirche bedeutet und Diakonie evangelische Kirche. Auch beispielsweise Telefonseelsorge oder unsere Ehe-, Familie und Lebensberatung werden von der Katholischen Kirche getragen und veranstaltet – ohne gleich mit Kirche identifiziert zu werden.
Die Bedeutung des Gottesdienstes schwindet auch für die Gläubigen
Was zu alledem dazu kommt: Die Bedeutung des Gottesdienstes nimmt für die Menschen deutlich ab – vor allem auch bei denen, die noch zur Kirche gehören. Nur 15 Prozent der Katholiken im Westen Deutschlands sagen, dass der Kirchgang zum Christsein dazu gehört. Im Osten liegt es etwas höher. In unserer Katholischen Kirche gehen sonntags derzeit etwa 5,5 Prozent der Katholiken in die Messe, im Bistum Passau sind es 7,2 Prozent. Das heißt aber umgekehrt: Für weit über 90 Prozent auch der Katholiken spielt die regelmäßige Hl. Messe fast keine Rolle mehr. Und Corona scheint erst recht verdeutlicht zu haben: Es geht ganz gut auch ohne.
Ein nicht umkehrbarer Trend
Die Soziologen sagen nun: Wir haben es hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Trend zu tun, der auch in naher Zukunft nicht einfach aufzuhalten oder umzukehren wäre. Auch nicht dadurch, dass die Katholische Kirche ihre so genannten Reizthemen endlich im Sinne der Mehrheitsmeinung ändern würde. Denn die allermeisten Befragten sind ja auch der Meinung, dass sich auch die evangelische Kirche massiv ändern müsse – wie auch immer das gedacht ist. Vielmehr zeigen die Zahlen, dass sich die Entwicklung beschleunigen wird, weil die Bindung der jungen Generation zu allem Religiösen eher immer noch geringer wird als bei den Älteren. Wir spüren es ja ohnehin schon lange: Die Jungen bleiben weg und die Älteren sterben nach und nach. Sie sehen, liebe Schwestern und Brüder, wir als Kirche müssen uns also mehr und mehr darauf einstellen, dass wir – auch in unserem schönen Bistum Passau – allmählich zu einer Randgröße werden. Wir haben zwar noch die wunderbarsten Gebäude, steinerne, hochaufragende Symbole in der Mitte jeden Ortes, die bezeugen, dass über Jahrhunderte für die Menschen der Himmel offen und der Herrgott wichtig war. Aber wir haben längst begonnen darüber nachzudenken, was passiert mit all der Pracht, wenn wir sie nicht mehr überall halten und unterhalten können.
Zwei wichtige Ergebnisse:
Zwei Ergebnisse dieser Studie haben mich freilich besonders interessiert. Das eine war: Menschen, die kirchlich religiös verbunden sind – ob stark oder weniger stark – sind deutlich höher ehrenamtlich engagiert als alle anderen befragten Gruppen. Und zwar bezieht sich dieses Engagement nicht nur auf den kirchlichen Bereich, sondern auch auf das Ehrenamt in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Das bedeutet aber: Wenn die Entkirchlichung so beschleunigt weitergeht, wird das einen immer deutlicheren Einbruch ehrenamtlichen Engagements für unsere Gesamtgesellschaft bedeuten. Wir sehen ja jetzt schon, liebe Schwestern und Brüder, wie schwer es ist, im sozialen Bereich genügend Arbeitskräfte zu finden. Deshalb darf uns dieser Befund im Blick auf das Ehrenamt wirkliche Sorgen machen, gerade weil das Ehrenamt ja auch nicht vieles im sozialen Bereich leistet und mancherorts auch auffängt.
„Jesus ja, Kirche nein“ stimmt nicht mehr
Und zweitens: Wenn die Menschen einmal von der Kirche weg sind; wenn sie – wie meistens – nach einer längeren Phase der Entfernung dann endlich den Schritt zum Austritt vollziehen, dann suchen sie danach in aller Regel kaum noch etwas anderes. Das heißt: Sie wechseln normalerweise nicht die Konfession. Vielmehr steigt die die Zahl der so genannten Konfessionslosen beständig und deutlich an. Menschen, die eine Kirche verlassen haben, suchen also auch nicht im Buddhismus oder in der Esoterik oder ähnlichem. Sie werden normalerweise schlicht areligiös. Religion spielt keine Rolle mehr für die Weltdeutung. Das ist deshalb interessant, weil es in der Zeit meines jungen Erwachsenenalters oftmals den Slogan zu hören gab: „Jesus ja, Kirche nein“. Heute sehen wir, dass es nicht stimmt. Erstens spielt Jesus schon bei den kirchlich Verbundenen offenbar nicht die Rolle, die er in unserem Gottesdienst und in der Schrift spielt. Aber zweitens wird er dann auch nicht außerhalb der Kirche gesucht. Das macht wiederum eine sehr tiefe und sehr alte Einsicht unserer Glaubensgemeinschaft deutlich: Jesus ist in aller Regel nur zu finden in der Gemeinschaft derer, die an ihn glauben, die ihn kennen, die ihn feiern, die für ihn gehen.
Aber was ist mit der Freude
Und damit, Schwestern und Brüder, möchte ich endlich zum zweiten, zum wesentlichen Punkt dieser Überlegungen kommen. Eine Schwäche der genannten Untersuchung liegt darin, dass sie besonders auf die Themen Kirchenbindung und allgemein Religiosität abhebt. Das, was aber in unserem Glauben Kern und Herzstück ist, nämlich die Person Jesu Christi und unsere Beziehung zu Ihm, kommt im Grunde nicht vor. Auch nicht das, was wir meinen, wenn wir von Heil und Erlösung sprechen, also das, wozu Jesus in diese Welt gekommen ist. Wir sind jetzt noch in der Weihnachtszeit und feiern in diesen Tagen ganz besonders in Texten und Liedern: Christ, der Retter ist da! Er ist wirklich ein Retter – und diese Rettung realisiert sich an uns durch Glauben, durch Umkehr, durch seine Vergebung, durch seine Erneuerung unseres inneren Lebens. Und sie wird erkennbar dadurch, dass wir in die Freude finden können. Wir haben die Lesung des Paulus gehört, die berühmte Mahnung von ihm aus dem Philipperbrief, den er übrigens aus dem Gefängnis schreibt: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit. Noch einmal sage ich: Freut euch….Der Herr ist nahe.“
Das gigantische Geheimnis des Christen
Diesem Geheimnis der Freude, liebe Schwestern und Brüder, möchte ich mit Ihnen jetzt noch ein wenig nachspüren. Der berühmte englische Schriftsteller Gilbert Chesterton hat einmal geschrieben: Die Freude sei das gigantische Geheimnis eines Christen. Warum? Der Herr ist nahe. Aber wenn Chesterton und Paulus recht haben, warum spielt das in einer Umfrage wie dieser keine Rolle? In einer Umfrage, in der es im Kern darum geht, was uns an die Kirche bindet – und was nicht?
Die Traurigkeit in nicht wenigen älteren Menschen
Ein Beispiel: Je älter ich werde, desto öfter fallen mir Menschen meiner eigenen Generation und mehr noch der Generation vor mir auf, die im Grunde alles haben oder hatten, was die Welt zu bieten hat. In den letzten 70 Jahren hatte unser Land ja Frieden und wachsenden Wohlstand. Und so gibt es viele, die auch eine gute Familie, einen guten Beruf, soziales Ansehen, materielle Sicherheit, oft sogar ein Leben weitgehend frei von schlimmen Schicksalsschlägen haben oder hatten. Und dennoch überlagert die Menschen, an die ich jetzt denke, nicht selten im Älterwerden eine Art von Melancholie; eine Traurigkeit, die bisweilen auch einhergeht mit einem schwindenden Einfühlungsvermögen in andere Menschen, mit nachlassendem Interesse am Weltgeschehen. Es ist, als würden sie sich die Frage stellen: War es das jetzt? Und: War mein Leben richtig? Oder vielleicht auch: War das jetzt alles? Oder vielleicht ist es auch so, dass diese Fragen an sie herandrängen, aber sie trauen sich nicht, sie zuzulassen, weil das ja etwas vom bisherigen Leben in Frage stellen würde. Und sie scheinen keine Antwort auf diese Fragen zu bekommen, weil es oft nicht vorstellbar ist, wie es sich anders anfühlen könnte, wie es anders gehen könnte oder wie es anders hätte gehen können. Es ist schwer vorstellbar, wie man die Kurve bekommen könnte in ein Leben hinein, das sich wieder bedeutungsvoller oder weniger melancholisch anfühlt – als jetzt, da man vielleicht selbst nicht mehr arbeitet und sich das eigentliche Leben jetzt bei den Jüngeren abzuspielen scheint. War es jetzt alles? Und wenn dann noch Altersbeschwerden und Krankheiten dazu kommen, verstärkt sich die Sinnfrage noch einmal: Was hatte den mein Leben zu bedeuten? Vollends schwer wird es dann für manche, wenn nicht alles glatt gelaufen ist, wenn Beziehungen zerbrochen sind und tragende Beziehungen nun fehlen; wenn beruflicher Erfolg ausgeblieben und vielleicht manche Krankheit oder manche Sucht ein Leben wirklich beeinträchtigt hat. War es das jetzt? War mein Leben sinnvoll? Und ist es immer noch sinnvoll? Ich denke von mir selbst ausgehend jetzt vor allem an Männer, liebe Schwestern und Brüder, auch weil ich kürzlich gelesen habe, dass drei Viertel aller Personen, die sich in Deutschland im vergangenen Jahr das Leben genommen haben, Männer waren. Und ihr Durchschnittsalter lag bei 60 Jahren. War das alles?
Der Herr will uns Freude schenken
Wenn aber Paulus und Chesterton Recht haben, wenn die Freude am Grund unseres inneren Lebens als Christen liegt, warum gelingt uns das offenbar so wenig zu zeigen. Oder warum erfüllt uns gar nicht die Freude, obwohl wir doch Christen sind? Zunächst, liebe Schwestern und Brüder, für mich steht fest, dass der Herr, der uns nahe ist, wirklich will, dass wir in die Freude finden. Im Johannes-Evangelium sagt Jesus, dass er uns so liebt, wie der Vater ihn liebt – mit derselben Liebe. Und er mahnt uns, in dieser Liebe zu bleiben – was dann dazu führt, dass wir auch seine Gebote halten können, die im Grunde darin bestehen, dass wir selbst lernen, liebende Menschen zu werden. Und er rundet diese kleine Passage ab mit der unglaublichen Zusage: „Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird.“ Er will uns also wirklich ein Herz voller Freude schenken – ein Herz, das sich von ihm geliebt weiß, ein Herz, das bei ihm bleibt und das mit ihm lieben lernt: Ihn und die anderen Menschen.
Realisieren wir, wie wir antworten?
Und die große Frage an uns alle ist nun: Ist das, wovon der Herr da spricht, eine Wirklichkeit unseres Lebens. Ahnen wir, worum es da geht? Realisieren wir, dass es wirklich möglich ist, mit ihm in ein Beziehungsgeschehen einzutreten, in dem wir mehr und mehr merken, dass es mich trägt, mich erfüllt, mir wirklich Sinn schenkt und ja: Tiefe, tiefe Freude und Frieden. Und wenn Chesterton nun schreibt, das sei ein gigantisches Geheimnis des Christen, dann nicht einfach, weil er mit Geheimnis sowas meint wie unlösbares Rätsel, sondern weil es etwas ist, was sich einstellt, wenn wir den Herrn bitten, mit Ihm gehen zu dürfen, wenn wir Ihn bitten, Ihn besser verstehen und kennenlernen zu dürfen; wenn wir anfangen, verstehen zu wollen, wer er ist und wie er ist und wofür sein Herz schlägt. Und dass er wirklich nahe ist. Natürlich ist es so, liebe Schwestern und Brüder, dass Jesu Herz für die Armen schlägt und die Schwachen und Notleidenden. Aber er liebt sie doch nicht nur einfach deshalb, weil sie Not haben, sondern weil er auch sie nach Hause lieben will ins Reich des Vaters. Weil er will, dass sie jetzt schon, mitten in ihrer Not etwas spüren davon, wie sehr der Vater sie liebt und wie er sie persönlich meint und wie schön der Vater sie einmal erschaffen hat. Jesus will sie retten, indem er ihnen die Würde ihrer Gotteskindschaft wieder herstellt oder erneuert. Und bei den Armen kommt er mit diesem Anliegen besser durch, weil sie eh schon offen sind für Hilfe und bedürftig. Und weil sie nicht von vornherein zu denen gehören, die eh schon alles wissen und haben. Mit denen tut sich der liebende Jesus schwer. Wir hören auch das im Evangelium, etwa wenn er nach einer Begegnung feststellt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als ein Reicher ins Reich Gottes.
Ist Spiritualität nur spiritueller Puderzucker?
Wie sehr, liebe Schwestern und Brüder, meinen wir in unserer Wohlstandsgesellschaft, dass wir doch eh schon alles haben, was wir brauchen, damit es uns gut geht. Und den lieben Gott lassen wir dann halt oft noch ein wenig spirituellen Puderzucker über uns ausstreuen, damit wir auch noch ein wenig religiös abgesichert sind. Aber wie fern ist das von dem, was Jesus wirklich mit uns vorhat: „Ich nehme euch das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein neues Herz, ein Herz von Fleisch. Ich will, dass ihr neu geboren werdet; ich will, dass Ihr mit meinen Augen sehen lernt; ich will, dass Ihr spürt, dass Ihr geliebte Kinder des Vaters seid. Ich will, dass meine Freude ich euch ist.“ Alles das sagt er zu jedem von uns. Aber wie antworten wir? Antworte ich auf dieses Liebesangebot, indem ich wirklich beginne, ihn zu suchen? Indem ich ihm auch meine Schwäche hinhalte, meine Ängste, meine Sünde, meinen Glaubensmangel? Indem ich lerne, Ihn besser zu vertstehen? Schenke ich ihm jeden Tag eine Zeit der Stille, in der ich einfach nur da bin vor ihm und ihm erlaube, in mein Herz zu sprechen? Spielt die Hl. Schrift eine Rolle in meinem Leben? Kürzlich hat mir ein hauptamtlicher Mitarbeiter erzählt: „Herr Bischof, ich glaube nicht, dass wir es schaffen, dass die Menschen daheim beginnen die Bibel zu lesen. Sie nehmen sich dazu einfach keine Zeit. Aber, keine Angst, sie haben schon ihren Glauben.“
Jesus kann man kennenlernen
Tatsächlich, liebe Schwestern und Brüder, das ist wohl eine verbreitete Haltung, die es auch gut meint, die die Menschen nicht überfordern will. Und tatsächlich haben ja auch viele Menschen noch ihren Glauben, wie sie ihn gelernt haben in volkskirchlichen Kontexten. Und doch zeigt uns doch die genannte Studie, dass gerade ein Glaube, der wenig thematisiert wird, heute oft nicht mehr allzu widerstandsfähig ist, wenn die Kritik an der Kirche lauter und ihr Image immer schlechter wird. Oder vielleicht ist die Haltung des Mitarbeiters selbst auch nicht so geübt darin, die Schrift so zu lesen, dass sie den guten Honig hergibt oder dass mit der Lektüre und mit dem betenden Nachsinnen über Gottes Wort tatsächlich die Freude wächst an seinem Wort. Vielleicht ist die Quelle zu dieser Freude so verdeckt, dass wir fragen, ob und wie wir sie überhaupt freilegen können. Ein Glaube, der die Schrift nicht kennt, kennt Jesus nicht wirklich. Und wer ihn nicht kennt, kann ihn auch nicht lieben und kann dann auch nicht voll Freude von dem erzählen, der ihm diese Freude schenkt.
Und was ist mit unserer Umkehrbereitschaft?
Und weiter können wir fragen: Wie ist es mit unserer eigenen Umkehr, mit unserer Hinwendung zu Gott: Der Hl. Geist will unser Herz als Liebe erobern, als absichtslose Liebe, die leise kommt, die zärtlich ist, aber nachhaltig. Sind wir offen? Sind wir Hörende, anerkennen wir, dass wir Vergebung brauchen für manche Haltung in uns, die ihn schlicht zu wenig ernst nimmt. Die aber anderes viel ernster nimmt als es uns selbst lieb ist? Sind wir bereit, unser Herz reinigen zu lassen – und dabei vielleicht sogar Abschied zu nehmen von mancher liebgewordenen aber fürs Herz schädlichen Angewohnheit? Haben wir ein Bewusstsein für das, was der Glaube Sünde nennt – und die Gott hasst, auch wenn er den Sünder selbst liebt? „Mehr als alles hütet Euer Herz“, lesen wir im Buch Jesus Sirach. Spielen die Sakramente eine Rolle in meinem Leben? Für die Herzensreinigung? Die Eucharistie, das Sakrament der Versöhnung? Oder lebe ich in einem Zustand eher los von Gott und gewähre ihm halt gnädigerweisee dann doch mal eine Stunde in der Woche und meine dann, dass ich ihm gegenüber schon meine Pflicht getan habe?
Bedingte Antworten auf bedingungslose Liebe?
Liebe Schwestern und Brüder, die Kirche ist kein spirituelles Wohlfühlkaufhaus, in dem ich mir so ein wenig raussuchen kann, was meinen Bedürfnissen nützt. Die Kirche ist der Rettungsort, der uns wirklich in die Freude des Herrn führen kann. Das Problem ist freilich: Die Voraussetzungen für den Eintritt, für das Tiefergehen – die hat er geschenkt und vor-gegeben, damit ich mich an ihnen orientiere. Seine Liebe ist bedingungslos, ohne Frage. Aber ich lerne dieser Liebe nur zu antworten, wenn ich selbst in meiner Hinwendung aufhöre meine Bedingungen zu stellen. Nach dem Motto: Ja, Herr, Du liebst mich zwar ohne Bedingungen, aber ich kümmere mich erst um Dich, wenn ich wieder mehr Zeit habe. Oder wenn ich mein berufliches Ziel erreicht habe. Oder wenn die kranke Oma wieder gesund ist. Oder wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind oder wenn die Schulden abbezahlt sind. Dann kommst vielleicht Du auch mal. Und wir versäumen so hier und heute, mit unsrem Ja zu Ihm auf seine Liebe zu antworten. Seine Liebe ist bedingungslos, aber sie kommt unter den Bedingungen unsrer konkreten Geschichte ins Hier und Heute Deines Lebens.
Es gibt keinen Situation mehr, in der nicht auch noch Raum für Freude wäre
Und wenn Chesterton vom gigantischen Geheimnis des Glaubens spricht, dann liegt das Wunder darin: Die Freude kommt mitten in diese, meine konkrete Geschichte – aber sie kommt vom Jenseits der Geschichte. Die Unendlichkeit bricht in die endliche Zeit meines Lebens ein. Und deshalb ist und bleibt sie mitten im Hier und Jetzt auch nicht auslöschbar durch nur endliche Fakten. Sie gibt das Leben, das neue Leben mitten im Alten. Sie ist die Freude, die nicht totzukriegen ist. Auf das Zitat von Jesus, das er seine Jünger mit Freude erfüllen will, wenn sie in seiner Liebe bleiben, folgt bald danach das Wort, das die Welt sie hassen werde, weil sie ihn, Jesus, schon vorher gehasst habe. Und die Christen aller Zeiten haben bezeugt: Die Freude, der Friede , die Liebe, die von Jesus ins Herz der Menschen kommen, die bleiben auch dann noch da, wenn das Leben ausweglos oder unerträglich oder eben sogar voller Hass der anderen scheint. Es gibt keinen Ort, keine Situation mehr in der Welt, in der mit Jesus nicht auch noch Raum für Freude wäre. Trotz allem. Weil er sagt: Habt Mut, ich habe die Welt überwunden. Das heißt: Auch die Kriege in der Welt, im Heiligen Land, in der Ukraine, auch die Klimakrise, die Krise der Migration, die Pandemie und so viele andere Notsituationen in unserer und in meiner eigenen Welt hätten und haben nicht die Kraft, diese Quelle der Freude zunichte zu machen. Vielmehr kann sie anspornen und Kraft geben, uns erst recht zu engagieren.
Es geht um IHN, nicht um Psychotherapie
Liebe Schwestern und Brüder, spüren Sie, wie sehr wir es nötig haben, dieser Beziehung zu Ihm in unserem Herz allen Wert zu geben, alle Wichtigkeit, die ihr zukommt? Und sie nicht immer neu zu verschieben – bis zu dem Moment, wo ich desillusioniert und depressiv bin – und dann keine Vorstellung mehr davon habe, wie ich den Zugang finden kann? Und was mir dabei noch wichtig ist: Es geht wirklich darum, ihn kennen- und lieben zu lernen, ihn der an Weihnachten ein Baby wurde. Ihn, der das Reich Gottes verkündet, geheilt, gedient, geliebt hat. Ihn, der Dämonen ausgetrieben und Wunder bewirkt hat, der Sünden vergeben und am Kreuz für uns alles Leid und alle Sünde der Welt erlitten und zugleich verschlungen hat. Ihn der zum Vater heim gegangen ist und uns seinen Geist gesandt hat, damit wir durch den Geist ihm verbunden bleiben. Ihn lieben, ihn der uns seine Freundschaft angeboten hat, das ist die zentrale Beziehung unseres Lebens, die Er uns anbietet. Und die leider von keiner Kirchenbindungsstudie erfasst ist – und die auch kein Psychotherapeut als Heilmittel gegen Altersdepressionen anbieten kann.
Diese Beziehung gibt es nur in der Kirche
Diese Beziehung gibt es mit allem, was dazu gehört, nur in der Kirche, nur in der Gemeinschaft derer, die an ihn glauben. In der Kirche, mit Jesus, wenn wir ihn ernst nehmen und uns einladen lassen in die Freundschaft mit ihm, dann kommt die Freude. Und machen wir nicht den Fehler, liebe Schwestern und Brüder, dass wir die Freude als Freude anzielen. Das geht nicht, dann kommt sie nicht, dann stellt sie sich nicht ein. Wenn sich der Verliebte nur an seinem Verliebt-sein, am aufregenden Zustand dieser Emotionen freuen würde, dann würde er seine Geliebte nur dazu missbrauchen, ihm diesen Zustand liefern zu müssen. Und wenn er sich dabei dauernd selbst beobachten und seinen Zustand genießen wollte, würde das nie lange anhalten; dann müsste er die eine mit der anderen auswechseln, damit der Kick der Aufregung endlich wieder kommt. Aber wenn er in seiner Hinwendung zur Geliebten bleibt, wenn er sie wirklich meint, wenn er sie liebt und für sie Verantwortung übernimmt, dann bleibt die Liebe – und wird reifer und tiefer und trägt durchs Leben.
Die Freude nicht als Freude anzielen
Deshalb: Nein, liebe Schwestern und Brüder, wir können die Freude nicht als Freude anzielen, damit wir ein schönes Gefühl hab. Wirkliche Freude stellt sich ein, wenn wir Ihn meinen. Und Ihn um seinetwillen suchen, weil er der König ist, der Retter, der genau dafür gekommen ist: Dass wir uns retten und lieben lassen. Und dass wir teilnehmen an seiner Würde und an dem tiefen Sinn, den er uns schenkt. Wenn wir lernen, mit Ihm jeden Tag in Beziehung zu leben, im Gebet, im Austausch, im Beten der Schrift, dann werden wir Ihn auch in der Begegnung mit den anderen Menschen erkennen, dann wird er uns in unserer Arbeit begleiten, dann feiern wir ihn in der schönen Situationen und auch noch im Leid. Dann bleiben wir innerlich daheim und ahnen, wo wir hingehen, auch dann, wenn wir nicht mehr können. Und dann wundern wir uns vielleicht manchmal, selbst dann, wo es uns nicht gut geht oder wo wir Menschen begleiten, denen es schlecht geht, oder eben wenn wir alt werden, dass in unserem Herzen zwar Leid oder Mitleid viel Platz haben, aber dass darunter immer noch Raum für die Freude ist. Das ist das gigantische Geheimnis unseres Glaubens – mitten in unserer Kirche, liebe Schwestern und Brüder. Christen gehören dem, dessen Namen sie tragen. Sie gehören dem Christus, dem Gesalbten und deshalb auch der Freude.
Schritte auf Jesus zumachen, Schritte, die in die Freude führen.
Und ich möchte Sie einladen, um Jesu willen, um Ihretwillen, um der Kirche willen: Machen Sie im kommenden Jahr einen oder zwei Schritte neu auf Ihn zu und bleiben Sie bei Ihm, geben Sie dieser Beziehung den Vorrang, den Raum, der ihm gebührt – damit Er zeigen kann, dass er da ist und Ihr Herz erfüllt. Und damit in der Kirche die Freude wieder wächst. Vor bald zehn Jahren, als ich dieses Bischofsamt antreten durfte, habe ich in diesem Dom ein so schönes prophetisches Wort aus dem Buch Sacharja (8,23) zitiert. Es lautet: „So spricht der Herr der Heere: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch.“ Liebe Schwestern und Brüder, ich träume von einer Kirche, in der die Freude lebendig ist, und in der Menschen uns Christen begegnen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir spüren: In euch lebt die Freude, die Freude, die von Jesus kommt.
Ich wünsche Ihnen und allen Ihren Lieben von ganzem Herzen für das kommende Jahr: Zuversicht ohne Angst, die Erfahrung, dass der Herr nahe ist. Ich wünsche Ihnen allen Segen des Himmels – und den Geschmack an jener Freude die niemals aufhört. Amen.
Hören Sie auch die Predigt aus dem Jahr 2022: Über Gottesfurcht und Identität – Christen und die Gesellschaft