Bild: R. Kickinger

Es muss mehr als alles geben

Es muss mehr als alles geben: Unsere Seele ist für mehr gemacht. Die Predigt von Bischof Stefan Oster anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Kirche Hl. Kreuzauffindung in Aunkirchen 2015.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
vor einiger Zeit ist eine junge Frau zu einem geistlichen Gespräch zu mir gekommen, intensiv auf der Suche nach ihrem Lebensweg, nach dem Sinn ihres Lebens. Und natürlich hat diese Suche auch nach Gott gefragt, nach dem, was über sie selbst hinausragt, nach dem, was über diese Welt hinausragt. Und ich kann mich schließlich noch sehr gut an diesen Satz erinnern, den sie gesagt hat, voller Sehnsucht und voller Intensität.

Sie sagte: „Es muss doch in diesem Leben mehr als alles geben!“ Es muss mehr als alles geben. Was meinte sie mit diesem „alles“? Vermutlich lebt der Satz aus dieser Erfahrung: Wir haben doch schon alles! Wir haben so viele Möglichkeiten, so viel Sicherheit, so viel Konsum, so viele Gelegenheiten zum Feiern, so viele Möglichkeiten, unsere Beziehungen zu gestalten und, und, und…

Es muss mehr als alles geben

Wir leben in einem Land, das seit 70 Jahren Wohlstand erleben darf, Frieden, Wachstum. Und dennoch spürt diese sensible Seele mit vielen anderen, die sich nicht vertrösten lassen nur mit den Errungenschaften einer Wohlstandsgesellschaft, so gut diese auch sein mögen: Es muss mehr als alles geben! Liebe Schwestern und Brüder: Unsere Seele, jede einzelne Seele von uns, ist gemacht für mehr als alles!

Äußerlich weniger, innerlich mehr

Eine andere junge Frau, eine junge Verwandte von mir, 21 Jahre alt, kam kürzlich von einer langen und intensiven Afrika-Reise zurück. Sie hat viel erlebt, auch sehr viel Not gesehen. Aber sie hat mich gefragt: Warum ist es so, dass mir die Menschen dort so viel fröhlicher und zufriedener vorkommen als bei uns, obwohl wir doch so viel mehr haben – an materieller, sozialer Sicherheit.

Die Menschen dort haben äußerlich weniger aber innerlich offenbar mehr: mehr Freude, mehr Hoffnung, und mehr und selbstverständlicher den Glauben, sagt meine junge Verwandte. Also offenbar haben sie dort mehr als alles.

Etwas finden, was mehr als alles ist

Liebe Schwestern und Brüder hier in Aunkirchen. Seit 500 Jahren gibt es Ihre schöne Kirche hier vor Ort, seit 500 Jahren kommen Menschen in dieses Gotteshaus. Und die vielen Menschen, denen es gelungen ist, sich mit Gottes Hilfe auf das Geheimnis dessen einzulassen, was wir mit Kirche meinen, die konnten und können hier immer wieder etwas finden, was mehr als alles ist.

Im heutigen Evangelium ist uns Jesus als der begegnet, der zornig wird, weil die Menschen den Tempel, der seinem Vater geweiht ist, zur Markthalle haben werden lassen. Sie haben die Mechanismen dieser Welt von Kaufen und Verkaufen, von Besitzen und Haben in einem sehr materiellen Sinn da hineinkommen lassen.

Vielleicht deshalb, weil es ihnen schwer gefallen ist, zu glauben, dass Gott wirklich in seinem Haus gegenwärtig ist, dass er wirklich dort wohnt, wie wir im Alten Testament aus dem Mund des Königs Salomo gehört haben. Vielleicht deshalb, weil sie sich schwer getan habe, zu glauben, dass es mehr als alles wirklich gibt.

Glauben wir, dass Gott hier wirklich wohnt?

Und wir wissen auch, liebe Schwestern und Brüder, dass wir heute in derselben Gefahr stehen, wie die Menschen der Antike oder vielleicht noch viel mehr. Wir tun uns nicht leicht zu glauben, dass Gott wirklich hier wohnt.

Dass er da ist, dass er uns hört, dass sich hier in diesem Gotteshaus die Welt öffnet und über sich hinausweist, nach oben und nach innen: in den Himmel und in die Tiefe unserer Seele. Hier, in ihrem schönen Ort Aunkirchen, hier ist mehr als alles in der Welt. Hier ist Gott, hier ist die Gegenwart der Liebe, die sich nicht gegenständlich haben lässt, nicht kaufen und verkaufen lässt.

Kreuzauffindung ist Entdeckung Jesu

Und auch dieses Jubiläumsgotteshaus lässt sich nicht einfach umfunktionieren in eine gute gesellschaftliche Angelegenheit, in der man vielleicht bisweilen auch deshalb hier ist, um gesehen zu werden, um sich selbst gut zu verkaufen. Nein, hier ist – und das ist besonders schön – der Ort der Kreuzauffindung. Seit 500 Jahren Kreuzauffindung, so der Name dieser Kirche.

Kreuzauffindung ist Entdeckung Jesu und ist Entdeckung der Liebe Jesu, die im allerbesten Sinn des Wortes nicht kaufbar, nicht machbar, nicht herstellbar ist, nicht in einer Markthalle verhandelbar ist. Sie ist umsonst, es gibt sie gratis. Und wir lernen ihr Geheimnis zu entdecken, wenn wir vertrauen, dass es sie gibt, dass Jesus wirklich da ist, hier in seinem Haus.

Unser Herz: Mehr als alles?

Aber, liebe Schwestern und Brüder, das ist der Punkt: Glauben wir, dass Gott uns mit abgründiger Liebe umsonst liebt, sind wir offen dafür, lassen wir uns vom Kreuz berühren von dem, der für uns daran gestorben ist? War in unserem eigenen Herzen schon Kreuzauffindung? Oder ist unser Herz eher voll mit materiellen Sorgen und Nöten und Fragen, was wir wann alles haben und besitzen könnten?

Mit der Gier nach mehr oder mit der Angst vor Verlust? Oder mit Eifersucht und Neid? Auch hier? Ist unser eigenes Herz als Tempel des Herrn eine Markthalle? Oder ist dieses Herz schon eingewiesen in das Vertrauen, dass Gott in Christus wirklich der Geber alles Guten ist, derjenige, der nur auf unser Vertrauen wartet, derjenige, der sich uns wirklich geschenkt hat und immer neu beschenken will mit dem, was mehr als alles ist?

Wir spüren Entkonfessionalisierung

In diesen Tagen frage ich mich besonders: Was bedeuten die vielen Flüchtlinge, oftmals aus den muslimischen Ländern und mit einem muslimischen Glauben für unser Land. Für ein Land, dass wir eigentlich schon noch christlich nennen, aber in dem wir spüren, dass uns diese Wurzeln auch vielfach wegbrechen.

Wir spüren die Entkonfessionalisierung, wir spüren den Rückgang des gläubigen Vertrauens, dass sich das Kreuz Jesu tatsächlich finden lässt – und dass in ihm das Heil ist; wir spüren, dass es eine Horizontalisierung gibt. Einen Herzensblick der immer mehr eben nur diese Welt sieht und alles in ihr. Einen Blick, der eben nur alles kennt und kennen will – und eben nicht mehr mehr.

Getragen von diesem „Mehr als alles“

Und nun kommen so viele Menschen hierher, die oftmals viel inniger glauben als wir selbst. Ganz oft in einem anderen Glauben, aber nicht wenige auch in unserem christlichen Glauben. Und wir spüren: So viele von denen haben einen inneren Stand, eine innere Identität, die etwas von dem zeugt, was uns oft schon so fern scheint, von einem Stand, der von diesem „mehr als alles“ getragen ist.

Dafür haben die Flüchtlinge von diesem „reinen, materiellen alles“ eben so viel weniger, dass es nicht mehr zum Leben reichte. Und nun gehen sie dorthin, wo sie spüren, dass sie die Menschen genug von diesem „alles“ haben. Und wir alle werden genötigt zu teilen, wir werden herausgefordert, unseren Wohlstand, unser Alles weniger als alles werden zu lassen.

Reichtum leert die Kirchen

Und ich frage mich nun: Kann es sein, dass uns die Flüchtlinge unser Herz aufschließen helfen, damit wir vom materiellen „alles“ loskommen, um mehr als alles neu zu entdecken? Kann es sein, dass uns diese Menschen auch dabei helfen können, und helfen werden, unsere eigenen Wurzeln, unsere christliche Identität, unser Gegründet-sein im Mehr-als-alles neu zu entdecken?

Sie kommen in Armut und zeigen uns, dass wir ärmer werden müssen, um einen inneren Reichtum, den sie oft schon haben, in uns neu zu finden? Kann es sein, dass in jedem von ihnen auch einer kommt, der uns bei unserer inneren Kreuzauffindung hilft? Kann es sein, dass sie uns helfen, uns zu bekehren? Dass sie uns helfen, unser Herz materiell ärmer zu machen, damit es von dem, der mehr als alles ist, beschenkt und bereichert werden kann?

Nach dem letzten großen Krieg in unserem Land, in Zeiten der Armut, waren die Kirchen bei uns übrigens überwiegend voll. Heute, 70 Jahre nach Kriegsende, in Zeiten des Reichtums, sind sie sehr viel leer geworden und manche erklären sie schon für belang- und bedeutungslos.

Er ist unendlich viel mehr als alles

Liebe Schwestern und Brüder, ich freue mich jedenfalls sehr, dass unser Land, unsere Region, und auch so viele Gläubige unserer Kirchen so bereit sind, in der derzeitigen Not der Menschen Hilfe zu leisten. Ich freue mich auch sehr, dass wir hier und heute 500 Jahre diese Kirche Hl. Kreuzauffindung feiern können, als Ort, in dem der wohnt, der mehr als alles ist.

Ich hoffe und bete mit Ihnen allen, dass dieses Haus aus Stein als Versammlungsort all derer, die zum Gekreuzigten gehören, einen echten Beitrag leisten kann und wird. Einen Beitrag dazu, dass auch unsere Herzen sich verwandeln in Orte der Kreuzauffindung. Wenn wir innerlich berührt werden von der absichtslosen Liebe des Gekreuzigten, dann sind wir schon berührt von dem, der mehr als alles ist.

Und dann werden wir immer mehr befähigt zum Zeugnis, dass unser eigentlicher Reichtum mitten in dieser Welt schon gegenwärtig ist, mitten in uns da ist, aber dass er zugleich nicht von dieser Welt ist. Er ist nämlich unendlich viel mehr als alles. Amen.