Der erste Schritt – der bereit ist zum Äußersten. Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Karfreitag 2017 im Passauer Stephansdom.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
Sie alle kennen eine Umgangsweise zwischen Menschen, die man Liebesentzug nennt. Einer der beiden Beziehungspartner, die sich üblicherweise vertraut sind, wendet sich demonstrativ ab. Er lässt gleichsam die inneren und äußeren Rollläden runter und übt sich in zur Schau gestellter Distanz. Wenn so etwas zum Beispiel zwischen Eltern und Kindern vorkommt, und ein kleines Kind so einen Liebesentzug ertragen muss, leidet es seelisch oft sehr.
Der erste Schritt – bereit zum Äußersten
Umgekehrt gibt es das Phänomen natürlich auch von der Seite des Kindes: ein trotziges Kind, das vielleicht gerade nicht bekommt, was es möchte. Es bockt, dreht sich weg, will mit der Welt und Mama oder Papa nichts mehr zu tun haben. Und oft müht sich dann die Mama rührend, auf das Kind zuzugehen. Sie umschmeichelt es, tröstet es, lobt es, lenkt es ab, was auch immer.
Und manchmal hilft es, manchmal hilft es gar nichts. Dann bleibt oft nichts Anderes als abwarten, bis sich der innere Groll gelegt hat, bis sich das kindliche Beziehungsherz wieder öffnet. Bis es vergisst und irgendwann wieder da ist, bei der Mama ist, wieder zugänglich ist. Bis es irgendwann wieder in der Beziehung ist, in der Verbindung ist.
Der erste Schritt: Wer macht ihn?
Und wenn sich nun so etwas zwischen Paaren abspielt, Ehepaaren zum Beispiel, wenn irgendwie demonstrativ Distanz eingenommen wird, von Herz zu Herz, dann ist ganz oft die Frage: Wer macht den ersten Schritt zurück? Wer hat den Mut und die Demut, einfach so sich selbst zu öffnen und auf den anderen wieder zuzugehen.
Liebe Schwestern und Brüder, jeder, der das schon getan hat, weiß, dass das manchmal richtig schwer ist. Dass es uns dann echt Überwindung kostet, Kraft kostet. Vielleicht ist auch die Bitte um Verzeihung nötig. Oder wenn ich gar nicht schuld bin, die Fähigkeit zur Vergebung, die Fähigkeit trotzdem Ja zu sagen. In jedem Fall ist es oft wirklich schwer, den ersten Schritt zu tun.
Gelingt der erste Schritt?
Und dabei ist es dann trotzdem noch gar nicht sicher, ob der andere mich dann tatsächlich auch hört, ob er diesen ersten Schritt akzeptiert. Oder ob er dennoch bockig und verschlossen bleibt. Oder wenn der Streit oder die Entfernung sehr tief ist oder eine Verletzung sehr tief sitzt, dann kann es sogar sein, dass der Andere immer noch wild um sich schlägt, dass er auf den Partner losgeht – obwohl ich doch auf ihn zu gehe. Auch das bockige Kind geht manchmal gewaltsam auf den los, von dem es sich zuvor abgewendet hat.
Was ich damit sagen will: Es ist überhaupt nicht einfach, dass sich ein verletztes, abgewendetes Herz wieder zuwendet, dass es wieder zurückkehrt. Und jeder Pädagoge weiß, dass dann zum Beispiel mit Drohung oder mit Gewalt normalerweise gar nichts zu erreichen ist, jedenfalls gar nichts auf der Beziehungsebene! Wenn überhaupt dann mit Selbstüberwindung, mit Geduld, mit der Bereitschaft zum ersten Schritt, mit der Bereitschaft zur Vergebung, mit einer Offenheit, die riskiert, selbst verletzt zu werden, mit Liebe.
Der liebende Gott und der bockige Mensch
Liebe Schwestern, liebe Brüder, von hier möchte ich Sie nun bitten, die Frage nach der Beziehung Gott-Mensch zu bedenken. Unser Glaube sagt: Gott hat den Menschen so geschaffen hat, dass er mit ihm leben kann – in Freude und gegenseitiger Liebe. Aber durch das Mysterium der Sünde, das uns die Bibel in tiefen Bildern erzählt, hat sich der Mensch von Gott abgewendet. Und er ist nach dieser Abwendung zuerst mal ganz bei sich selbst. Irgendwie verbockt und zwar grundsätzlich. Das Menschenherz erspürt Gottes Gegenwart nicht mehr einfach.
Und wenn uns dann einer von Gott erzählt, dann neigen wir dazu, nicht an den Gott zu glauben, von dem die Bibel erzählt. Wir neigen dazu, ein entferntes, abstraktes Wesen zu denken. Oder einen Kontrolleursgott, den wir nicht haben wollen. Oder einen, der sich vielleicht für Vieles, aber auf keinen Fall für mich interessiert. Zusätzlich einen, dem die Welt egal zu sein scheint, wenn man all das Unglück in der Welt sieht.
Das Menschenherz neigt dann dazu zu sagen: Ich brauch keinen Gott, ich vertrau auf mich selbst! Und das führt dann dazu, dass ich auch denken muss: ich selbst, ich alleine, gehe irgendwann dem Tod entgegen! Ich muss also erstmal selbst schauen, wo ich bleibe, hier und jetzt. Festhalten die Dinge und die Menschen, Ansammeln, Sicherheit – zur Not auch gegen die anderen. Und etwas in mir glaubt dann: Da kann mir ein Gott auch nicht helfen.
Der erste Schritt Gottes: Liebe und Wahrheit
Das Menschenherz ist verschlossen. Aber was macht nun Gott gegen eine solche menschliche Verschlossenheit? Wie kommt er, wie zeigt er sich, wie macht er den ersten Schritt? Er kommt zuerst als Baby, als armes, hilfloses Kind. Rührt uns das nicht an, an Weihnachten? Und öffnet schon etwas in uns?
Aber dann weiter: Er kommt uns nahe, er will unser Herz neu öffnen, er will, dass wir uns ihm zuwenden. Und er weiß: Es geht nur mit Wahrheit und vor allem mit Liebe. Es geht mit einer Wahrheit, die dem Menschen seinen wahren Zustand offenbart – und dann eben zugleich nur mit Liebe, mit Liebe, die bereit ist zum Äußersten.
Sein Tod nimmt den Hass der Welt mit ins Grab
Liebe Schwestern, liebe Brüder, die ausgespannten Arme Jesu am Kreuz sind sein unbedingter Wille, jeden von uns zu umarmen, koste es ihn, was es wolle! Aber was macht eine Welt, die ihn nicht haben will? Sie nagelt ihn fest! Seine Nacktheit, seine Blöße sind sein unbedingter Wille, alles zu geben, sein Herz bis zum Allerletzten und Tiefsten zu öffnen.
Und was macht die Welt, die ihn nicht haben will? Sie haut ihm eine Lanze mitten ins Herz, um ihn zu töten! Und das Wunder ist: Er trägt alles das, alle Folter, allen Spott, allen Schmerz auch noch mit. Damit auch der letzte Mörder, der hinterste seelisch Tote auch noch berührt werde von dieser Liebe. Sein Tod nimmt den Hass der Welt buchstäblich am eigenen Leib mit ins Grab – damit dort alles das stirbt und verwandelt werde.
Nichts ist nötiger als das offene Herz des Gekreuzigten
Liebe Schwestern und Brüder, unsere Welt wird heute vielerorts erschüttert durch Terror und Gewalt, durch Krieg und Hungerkatastrophen, durch Fluchtbewegungen und die ökologische Krise und vieles mehr. Vieles davon, das Allermeiste, wird verursacht durch Egozentrik, durch das Streben nach Macht, Geld, Selbstbehauptung und mehr. Ich bin deshalb überzeugt, dass eben diese Welt nichts mehr nötig hat als das offene Herz des Gekreuzigten und unseren Glauben an Ihn.
Ich habe kürzlich eine Geschichte von einer mutigen Missionarin in Afrika gehört, die mir ein Augenzeuge erzählt hat. Er sei mit dieser Frau in Afrika gewesen und sie hätten dort eine Gemeinde besucht, die diese Frau gegründet hatte. Und einer derjenigen, der am meisten begeistert das Evangelium erzählen konnte, der sei vormals einer der allerschlimmsten Gegner der Missionarin gewesen; zudem brutal und gewalttätig.
Die Liebe siegt
Seine Bekehrung habe sich folgendermaßen ereignet: Die Missionarin und dieser brutale Kerl seien sich eines Tages begegnet: Der Mann voller Wut und Rage, habe eine Flasche genommen, sie am Flaschenhals gepackt und über eine Tischkante geschlagen und habe ihr mit der zerbrochenen Flasche gedroht, sie umzubringen. Die Missionarin sei ruhig geblieben und habe geantwortet: Und selbst wenn Du mich jetzt gleich in Stücke schneiden willst, dann wird immer noch jedes Stück Fleisch von mir Dich lieben wollen – weil Jesus in mir liebt. Daraufhin sei der Mann innerlich zusammengebrochen, habe die Flasche weggeworfen und schließlich unter vielen Tränen ihre Umarmung zugelassen.
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus nimmt jede unserer inneren Verweigerungen mit in den Tod – um sie in Leben zu verwandeln, in neues Leben, das nie mehr aufhört. Wir betrauern heute seinen Tod, aber wir feiern die Größe seiner Liebe – und wir warten auf Ostern!
Kommentare
Verehrte Exzellenz, danke sehr für Ihren Vergleich im Beziehungsgeschehen. Eines möchte ich jedoch ergänzen, weil es der Antrieb ist, den der Teufel so gerne nutzt, um Menschen in Verzweiflung, Egozentrik, Herzlosigkeit, Abschottung etc. zu treiben : ANGST. Die unheilige Angst wird als Mittel verwendet, um den Menschen von seiner eigentlichen Offenheit, Hingabe, Verletzlichkeit zu einem scheuen und abgeschotteten Bollwerk der Ich-Behauptung zu machen. Die Angst lebt im kleinen Kind noch nicht. Es kann offen-herzig und offen den Menschen und der Welt begegnen. Aber Liebesentzug, Alleinsein, die ersten Auseinandersetzungen mit anderen Kindern ohne Schutz … läßt Angst erfahren. Da setzt ein Teufelskreis ein, der nur in der Wahrnehmung der stetig präsenten Liebe Jesu Christi zumindest ab und zu durchbrochen werden kann. Der Teufelskreis arbeitet immer auf dieselbe Weise : Wenn ICH einen Fehler mache, mögen anderen mich nicht mehr, ich verliere die Beziehung zu den anderen so angenommen zu sein wie ich bin, also muß ich so sein, wie sie mich wohl haben wollen, aber da ich nicht so bin, mag ich mich schon nicht mehr, und weil ich selbst schon mich nicht mehr mag, werde ich mit meiner Schwäche konfrontiert, die die Angst augsteigen läßt, daß dann schon erst recht die Freunde, der Arbeitgeber, der Prüfer etc. meine Schwächen auch erkennen. Die Angst treibt ins Übersprungverhalten des Egoismus, Narzismus, bisweilen sogar zu Brutalität und Aggressivität gegen andere, um dem Gefühl nicht geliebt und angenommen zu sein, aus dem Weg zu gehen. Nur wer wahrhaft glauben kann, daß Jesus Christus und damit Gott, der Schöpfer, von Anbeginn jeden einzelnen so liebt wie er ist und immer hofft, daß derjenige oder diejenige sich auch im Lichte Gottes lieben kann, um dadurch auch in seinem Sinne zum oder zur Liebenden zu werden, der kann die Angst vor Lieblosigkeit und Einsamkeit überwinden.
Gerade heute im Karfreitagsgeschehen beschreibt die heilige Schrift in den Personen so treffend dieses Zusammenwirken von Angst und Furcht und von göttlichem Mut aus unbegrenzter Liebe. Petrus, der Jünger dem Jesus seine Kirche anvertraut hat, verleugnet ihn noch drei Mal bevor Jesus am Kreuz stirbt. Er liebte Jesus in Gegenwart der anderen Liebenden. Aber allein in Konfrontation mit seinen Hassern obsiegte die Angst. Von den anderen zehn Jüngern ist nichts zu lesen, auf dem Weg nach Golgatha. Wor waren sie ? Voller Furcht versteckt ? Nur Maria, seine Mutter – als Frau in der damaligen Gesellschaft noch mehr rechtlos und damit in Gefahr – und Johannes, der Jünger der Jesu LIEBTE, diese beiden wie die von der Gesellschaft bereits Ausgestoßene gingen mit, wurden gesehen, blieben standhaft, besiegten menschliche Angst und standen in unerschütterlicher Liebe Jesus bei – bis in den Tod.
Versöhnung, Vergebung, Aufeinander Zugehen, neue Wege beschreiten, sich einer Gefahr der fortdauernden Angriffe und Ablehnung aussetzen, das alles erfordert zweierlei : Das Überwinden der Angst und den Mut, der nur erwächst aus dem klaren Bewußtsein und Glauben geliebt zu sein, ohne wenn und aber und damit sich der Frage nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit widmen zu können und nicht mehr als Marionette an den Fäden des Puppenspielers der Angst zu hängen.