Das Thema, das uns als Kirche vermutlich am meisten herausfordert, versuche ich hier von dem her zu deuten, was ich für die innere Mitte des Evangeliums halte: Die absichtslose Liebe. Und zur Erläuterung suche ich einen Anweg aus dem konkreten Leben von uns Menschen, mit dem hoffentlich jeder etwas anfangen kann. Aber die Länge des Videos zeigt: Es braucht etwas Geduld 🙂 Hier das Video und darunter der Text zum Nachlesen.
Kein Thema zu Kirche, kein Zusammenhang mit Kirche wird in unseren Medien und sozialen Netzwerken so intensiv und kontrovers diskutiert wie dieses: Die Kirche und der Sex. Die weite Mehrheit der Menschen generell, aber auch die weite Mehrheit derer, die sich zur katholischen Kirche zugehörig fühlen, ist der Meinung, die Kirche habe hier Veränderungsbedarf. Zumal unter dem Eindruck der Katastrophe des sexuellen Missbrauchs. Nicht zuletzt der priesterliche Zölibat ist hier ein Moment, das den Missbrauchsverdacht besonders befördert. Zudem: Das Thema Kirche und Sex erstreckt sich direkt und indirekt auch auf andere Reizthemen: Wieso ist die kirchliche Sexualmoral so rigide im Blick auf vorehelichen oder außerehelichen Sex? Wieso gibt es in der Kirche Diskussionen um Menschen, die geschieden und wiederverheiratet sind? Und wieso um Menschen, die sich als „queer“ bezeichnen, also Homosexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle und andere?
Im Forum IV des Synodalen Weges, dem ich selbst angehöre, beschäftigen sich rund 30 Menschen mit solchen Fragen und denken vor allem darüber nach, ob und wenn ja, wie sich die Lehre der Kirche über die Sexualität des Menschen verändern müsste. Die große Mehrheit ist sich weitgehend einig darüber, dass deutliche Lehrveränderungen kommen müssen und nötig sind. Weiterentwicklung der Lehre ist das Stichwort, um zu betonen, dass es einerseits um Kontinuität mit der Tradition geht, andererseits um Neuerungen – auch unter Bezugnahme auf die konkrete Lebenswelt der Menschen von heute und auf neue Erkenntnisse über die Sexualität des Menschen in den so genannten Humanwissenschaften. Ich gehöre zu denen, die in einigen Fragen auch ein Weiterdenken, Sensibilisierungen und Differenzieren für notwendig halten, etwa in Bezug auf Homosexualität und Transsexualität. Zugleich bin ich der Meinung, dass die bestehende Lehre nach wie vor ihre Gültigkeit und Schönheit hat. Und dass das eigentliche Problem eher ist: Wie kann diese Lehre aus einem lebendigen Glauben heraus neu und tief verständlich gemacht werden – und zwar über bloße moralische Normen hinaus. Denn die moralischen Normen weiß im Kopf ja im Prinzip fast jeder – auch wenn sie die meisten inzwischen für anstößig halten. Wollte man sie reduzieren auf einen einzigen Satz, könnte man formulieren: Im katholischen Verständnis gehört voll ausgelebte Sexualität in eine Ehe zwischen einem Mann und einer Frau.Und das Folgende ist nun mein Anliegen in diesem neuen Video. Ich habe in den ersten drei Videos zu den Themen des Synodalen Weges als Ausgangspunkt immer neu das Thema „absichtslose Liebe“ gewählt und dies ist auch diesmal der Ansatzpunkt für die Versuche einer Verdeutlichung der Lehre.
Der Grund, warum es uns gibt und warum es die ganze Schöpfung gibt, ist die absichtslose Liebe Gottes. Der Grund, warum wir als ursprünglich heile Geschöpf zu gebrochenen Geschöpfen wurden, ist unsere Abkehr vom Vertrauen, dass Gott uns wirklich absichtslos liebt. Der Grund für die Erlösung durch Christus ist seine absichtslose Liebe: Durch sie will er uns in das Reich der absichtslosen Liebe mit dem Vater versöhnen und bildlich gesprochen: nach Hause lieben. Durch seine absichtslose Liebe will er uns berühren und unser Herz verändern: Er will uns zu neuen Menschen machen, die selbst immer mehr fähig werden, absichtslos zu lieben – und so das Evangelium von der Rettung durch Jesus und vom Reich Gottes zu bezeugen. All das kann man im ersten Video noch einmal etwas ausführlicher nachhören und lesen. Auch im Video über die Lebensform der Priester habe ich bereits einiges Grundsätzliches darüber gesagt, auch über Sexualität und möchte es nicht wiederholen, sondern hier einen anderen Anweg wählen.
Ganz-sein in Selbstvergessenheit
An den Anfang möchte ich eine Beobachtung stellen, die sich mir erschlossen hat auf die Frage: Wann kann der Mensch eigentlich Erfahrung von Ganzheit machen? Von Ganz-da-sein? Und immer wieder ist mir das Wort und die Erfahrung von Selbstvergessenheit in den Sinn gekommen. Die allermeisten von uns kennen das Phänomen: Begegnungen, Tätigkeiten, Zustände in denen wir „ganz bei der Sache“ sind. Z.B. in einem tiefen Gespräch, in dem wir so leidenschaftlich sprechen, dass wir die Zeit vergessen. Z.B. im Prozess des Lesens oder Schreibens, in dem wir von der bedachten Sache oder Handlung so eingenommen sind, dass wir bei einer Störung den Eindruck haben, wir werden von dort, vom Sein-bei-der-Sache quasi in das bloß Alltägliche, in die normale Welt zurückgeholt. Oder denken Sie an ein leidenschaftliches Spiel im Sport mit Ihrer Mannschaft: Sie sind tief engagiert, ganz bei der Sache – und nach einer Stunde fragen Sie sich, warum es schon vorbei ist. Das Erstaunliche bei solchen Phänomenen ist: Wir sind in gewisser Weise „außer uns“ eben bei der Sache – und sind doch mitten darin „ganz wir selbst“; irgendwie sind wir dann sogar tiefer wir selbst, tiefer in uns, als wenn wir zum Beispiel dauernd darüber nachdenken würden, wie wir jetzt gerade auf andere wirken.
Und die Frage, die ich mir stelle, ist, wie sind wir denn in solchen Momenten wirklich da? Was passiert da? In uns? Mit uns? Zunächst ist es eben so etwas wie „Ganz-sein“. Ein Mensch, der ganz in seinem Spiel aufgeht, ist nicht nur im Kopf da, ist nicht nur leiblich oder emotional da. Er ist mit Leib, Seele und Geist da, mit seinem Wollen, seinen Emotionen, ganz offen, ganz hingegeben. Und weil er im Spiel auch Teil der Mannschaft ist und Teil eines Ganzen, spielt er nicht nur aktiv, sondern er wird im selben Moment auch „gespielt“. Ihm geschieht das Spiel im selben Sinn wie er spielt. Das Spiel hat den Spieler ergriffen. Aktives Hingegeben-sein und passives Gespielt-werden sind nicht mehr trennbar, sondern zwei Seiten derselben Ganzhingabe, des Ganz-involviert-seins in die Sache, um die es geht. Analoges kann etwa auch beim intensiven Lesen sagen: Die erzählte Handlung wird in mir lebendig und löst denkendes und fühlendes Mitvollziehen aus – und ein Bewegt-werden und ein Schlussfolgern und ein Nachdenken nach dem Lesen. Ich bin ganz hineingetaucht in die Handlung und werde von ihr mitgenommen.
Ich hebe diese Phänomene hervor, weil in solchem Ganz-sein und Ganz-gegenwärtig sein, Tun und Erleiden, Aktivität und Passivität nicht mehr nebeneinander oder nacheinander geschehen, sondern dazu führen, dass der Mensch mitten in der Begegnung mit der Wirklichkeit außer ihm auch in sich selbst ganz gegenwärtig ist. Er erlebt auch so etwas wie existenzielle Dauer, eine Art fortwährendes Dasein – und zwar im Gegensatz zur bloß auf der Uhr beobachteten Zeit, in der es ja letztlich keine richtige Gegenwart gibt, weil jeder Moment im selben Moment schon vergangen ist.
Wichtig ist auch, dass eine solche lebendige, ganzheitliche Präsenz keine ist, die den eigenen Vorteil kalkuliert oder sucht, sondern sich von der Sache selbst bestimmen lässt. Es sei denn, diese Vorteilssuche gehört zum Spiel selbst, etwa in einem Wettkampf, der einen Gewinner sucht. Aber grundsätzlich gilt: Selbstvergessene Hingabe vergisst in gewisser Weise ihr Ich-sein und ist doch gerade darin auf einer tieferen Ebene als sie selbst ganz da! Am besten sehen wir das oft in der Beobachtung spielender Kinder; ihr selbstvergessenes, vertrauensvoll an die Wirklichkeit hingegebenes Spiel bringt sie auf eine Weise eben tief mit der Wirklichkeit außer ihnen und zugleich tief mit sich selbst in Verbindung – und hilft ihnen so zur wachsenden Selbstwerdung.
Ganz-sein und Gegenwärtig sein
Wie oft fragt sich der heutige Mensch nach seiner Mitte, nach der Möglichkeit „in sich“ zu ruhen; nach der Fähigkeit auszubrechen aus dem Hamsterrad des ständigen Betriebs; ahnend, dass die Kultivierung der eigenen Innerlichkeit wichtiger ist als das Absorbiert- und Abgelenkt-werden vom Äußeren. Aber er fragt es oftmals, ohne den Weg zu finden zu einem gelassenen Selbstsein. Ich bin nun überzeugt, dass der Mensch nur dann in die tiefe Erfahrung der Ganzheitlichkeit findet, wenn er die Fähigkeit zum selbstvergessenen Sein-beim-Anderen zurückfindet. Und wenn sich in solcher Selbstvergessenheit zugleich das Gegenwärtig-sein ereignet, dann ist dies nicht nur der Weg zur Berührung mit dem eigenen Grund, sondern mit dem, der der tragende Grund von allem ist und dessen Name ist: „Ich-bin-da (Ex 3,14), ich bin der Gegenwärtige, ich bin der Wirkliche, der Seiende“ – so offenbart er sich im Buch Exodus dem Mose.
Einer der Gründe, warum wir uns oft so schwer tun mit der Ganzhingabe, ist unser fehlendes Vertrauen in die uns begegnende Wirklichkeit. Zu oft sind Menschen in Begegnungen mit anderen Menschen oder mit der sie umgebenden Wirklichkeit generell verwundet, verletzt, enttäuscht und verraten worden. Und ehe sie sich dann noch einmal dem Risiko der offenen Hingabe aussetzen, bleiben sie lieber kontrollierend, taktierend und dosierend im eigenen Ich. Die Ich-Erfahrung weiß, was sie an sich selbst hat. Sie hält an sich und sucht zuerst den eigenen Vorteil – oder wenn wir ganz tief greifen: Sie sichert das eigene Überleben. Denn aus der Wirklichkeit und auf dem Zeitstrahl von vorne kommt uns letztlich auch irgendwann der nahende Tod entgegen. Und wir müssen da gewissermaßen kontrollierend dagegenhalten. Die Aufforderung zur Hingabe dagegen, öffnet sich der Wirklichkeit, aber damit eben auch der Verletzlichkeit, der Verwundbarkeit. Das eigene Ich vertraut auch nicht mehr leicht, dass Hingabe wirklich wachsen lässt. Es will lieber es selbst bleiben. Aber es verhindert so ein Ganz-sein und mehr Ganz-werden des Menschen. Das Ich dosiert seine Offenheit, seine Gefühle, seinen Zugang – aber bleibt dabei doch in sich und bei sich. Es vermag sich nicht ganz auf den anderen hin zu überschreiten, indem es sich selbst loslässt. Es bleibt in seiner Kontrolle – und verliert im In-sich-bleiben letztlich die Fähigkeit ganz da zu sein, es kann nicht von sich weggehen, um so tiefer in sich hineinzufinden. Das fehlende Vertrauen in die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst, die Furcht vor Verletzung und Verlust führen zur Gefangenschaft in sich. Das Ich braucht Erlösung.
Es geht nicht ohne Verwundung
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wie ich von selbstvergessenen Zuständen auf die Erfahrung einer bedrohlichen Wirklichkeit komme? Nun deshalb, weil ich glaube, dass selbstvergessene Zustände eine Art spielerische Einübung in eine grundsätzliche und tief eingeübte Haltung der Bereitschaft zur Hingabe sein können. Auch der Umgang mit Sachen kann so ein Anweg sein, ein Handwerk, eine Tätigkeit, von der ich mich ganz einnehmen lasse. Spielerisch deshalb, weil im Spiel oder im handwerklichen oder künstlerischen Tun kann ich mich risikoloser hingeben als in einer Begegnung, in der ich mich einem Mitmenschen auf diese Weise öffne. Und dennoch ist dann aber die uns Menschen am meisten angemessene Form der Hingabe diejenige an andere Personen. Weil auch ich selbst Person bin. So eine Hingabe führt uns im gelingenden Fall am meisten zum Wachstum, am tiefsten zum reiferen Menschsein, auch zur Erfahrung von Tiefe und Schönheit, von Sinn, von treuer Verbundenheit. Sie befähigt zur Verantwortung. Aber eben darin liegt dann auch tatsächlich das Problem. Denn andere Personen sind gewissermaßen immer auch riskant. Viel riskanter als Gegenstände oder Musik machen. Denn erstens ist der andere Mensch frei, er ist einzigartig, er hat unergründliche Tiefe. Er ist mir also nicht einfach wie ein Gegenstand zur Verfügung. Und Hingabe bedeutet damit notwendig den Respekt vor seiner Freiheit – was ungleich anspruchsvoller ist als der Umgang mit einem Gegenstand oder auch beispielsweise mit einem Tier. Das heißt: Wir lernen mehr und tiefer selbst Person zu werden im Umgang mit Personen.
Aber zweitens ist kein Mensch, den wir kennen, ganz heil oder ganz gut. Und keiner ist ganz wahrhaftig oder authentisch. Wir alle wollen zwar bedingungslos geliebt werden, aber tatsächlich sind wir selbst oft nur sehr eingeschränkt fähig zur bedingungslosen Liebe. Und weil wir die Welt außer uns zuerst und vor allem über Personen erlernen und deuten, eben deshalb drohen von dort her eben auch Verwundung und Lüge und Treulosigkeit und Verrat. Irgendwie ahnen wir ja, dass all das Aufgezählte nicht nur in den anderen ist, sondern auch in uns selbst. Und daher tun wir uns auch schwer mit dem Glauben, dass Geben wirklich seliger ist als Nehmen. Es gibt also vor allem unter Erwachsenen die tiefe Neigung in uns, bei uns zu bleiben, und damit auch nicht wirklich zu lieben, sondern nur zu tun als ob. Echte Liebe aber ist eine Entscheidung zur Hingabe, zur Offenheit, zur Suche nach der Schönheit und Tiefe des anderen Herzens; sie ist damit aber auch eine Entscheidung zum Mit-Leid, zum Tragen und Ertragen des Anderen und seiner Fehler und Begrenzungen, zur Verantwortung – und zur Bereitschaft, sich verwunden zu lassen. Echte Liebe will das Gut des anderen und nicht zuerst das eigene Gut. Und deshalb gibt es in dieser Welt echte Liebe nicht ohne Leiderfahrung.
Es ist analog zur Schilderung des Spiels: In der Hingabe bin ich beim anderen, aber der andere ist zugleich ganz bei mir und in mir. Er ist befugt, in meinem Inneren einzutreten, Gefühle zu erzeugen, Einfluss auszuüben. Aber damit kann er in mir auch z.B. auch Macht ausüben, mich unterdrücken, mich emotional erpressen, die Beziehung missbrauchen. Ich lasse ihn ja nahe an mich heran. Immer neu dürfen wir uns daher die ehrliche Frage stellen: Kann ich lieben? Stelle ich mich dem Risiko der Liebe? Das Evangelium ist eindeutig: „Wer nicht liebt, bleibt im Tod!“, sagt der Autor des Ersten Johannesbriefes (1 Joh 3,14). Welcher Tod ist hier gemeint? Letztlich der geistliche Tod, der geistliche Tod des Menschen, der unfähig ist, sich in das größere Leben hinein zu überschreiten. Das zweite Hauptgebot Jesu lautet, dass wir den Nächsten lieben sollen, wie uns selbst. Daher zurück zum Anfang: Gibt es unter uns Menschen absichtslose Liebe und wenn ja, wie werden wir zu Menschen, die das können, was wir sollen? Absichtslos lieben? Wenn wir es nicht können, ist und bleibt die Gefahr groß, dass wir den anderen Menschen immer nur für uns benutzen – und deshalb auch missbrauchen.
Und ein dritter Aspekt kommt dazu: Der Mensch ist in dieser sichtbaren Welt das einzige Wesen, das wir kennen, das Versprechen halten kann. Und ein Versprechen halten können, wird im Grunde erst dann relevant und zur Lernerfahrung, wenn es uns schwer fällt, es zu halten. Dann lernen wir uns darin selbst erst richtig kennen. Meine Erfahrung ist: Menschen, die einander in Treue versprochen sind, wachsen menschlich vermutlich dann am meisten in die Tiefe, wenn sie auch um ihr Versprechen und ihre Treue zu kämpfen haben. Und nicht so sehr, wenn alles immer nur prima läuft. Vordergründige Gefühle und Bedürfnisse sind oft schnell da und können schnell zur Untreue und Lüge verleiten. Und daher es ist nicht schwer zu verstehen, dass Menschen, die nie Versprechen halten lernen, oder solche, die im Lebensstil einer Unverbindlichkeit bleiben, dass solche Menschen das Potential ihres Person-seins nicht ausschöpfen und dass sie religiös gesprochen auch ihre Berufung nicht finden können. Als unverbindliche Menschen werden sie nämlich dem nicht ähnlicher, der der unverbrüchlich treue Gott ist – und nach dessen Ebenbild wir geschaffen und gemeint sind.
Sex verspricht Erlösung
Und damit zur Erfahrung von gelebter Sexualität: Kaum eine menschliche Erfahrung wirkt für das, was ich sagen möchte, nun so verheißungsvoll wie das Ineinander von sexueller Anziehung, erotischer Begegnung, sexueller Befriedigung. Sich im Anderen Verlieren-Können, den Kontrollzwang überwinden, sich ganz hingeben, hingezogen von oft überwältigenden Gefühlen, denen ich mich überlasse. Eintauchen in den Strom des Lebens, sich selbst vergessen. Unsere Gefühle, unser Trieb, unsere Sehnsucht ziehen uns. Der sexuelle Höhepunkt gehört fraglos zu den lustvollsten leibseelischen Erfahrungen, die wir kennen. Und wie erleben, wie daraus auch wie von selbst tiefe Bindung entstehen kann – und damit auch das Ja zur Verantwortung füreinander.
Aber gleichzeitig sind die Zeugnisse so vielfältig, die auch die Ambivalenz dieser Erfahrung verdeutlichen: Auf leidenschaftliche Hingabe folgt bisweilen die Ernüchterung: „Wie konnte mir das nur passieren – mit dieser Person?“ Die Entkoppelung von lustvoller Sexualität von der Entschiedenheit zur Liebe, die Entkoppelung von Erotik von der Verantwortung kann Sex schaler werden lassen, oberflächlicher – und öffnet bisweilen ernüchternd auch die Augen – nach dem Akt. In der Hl. Schrift ist das am dramatischen Beispiel des Davidssohnes Amnon gezeigt, der seine Halbschwester Tamar leidenschaftlich begehrt, sie letztlich sogar vor lauter Gier vergewaltigt – und unmittelbar danach nur noch Verachtung und Hass für sie empfindet (vgl. 2 Sam 13,1-15). Erfülltes Begehren kann also Augen öffnen – oder kann sie noch mehr verschließen. Liebe macht blind, sagt der Volksmund und meint, dass es ein erotisches Begehren gibt, das bestimmte, konkrete Realitäten nicht mehr sehen kann oder sehen will, zum Beispiel die Verantwortung für die eigene Familie angesichts neuer Verliebtheit. Das heißt, das erotische Begehren hat nicht nur faszinierende, verheißungsvolle, großartige, anziehende Seiten, sondern es kann auch dunkle, Gewalt ausübende, besitzergreifende, manipulierende Dimensionen haben.
Und wenn reifer und heiler werden bedeutet, die verschiedenen Dimensionen unseres Lebens zu integrieren und fähiger werden zur Ganzhingabe, dann bedeutet es für die erotische Erfahrung unter anderem wohl auch dieses: zu lernen, die verschiedenen Sehnsüchte, die wir im Blick auf Sexualität haben, auch mit- und ineinander leben zu lernen. Der Mensch sehnt sich auch als sexuelles Wesen zum Beispiel einerseits nach Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen, andererseits ist da das Begehren nach der Spannung, dem Kitzel, der Aufregung, der Sehnsucht nach Neuem. Und beide Antriebe gehen vielleicht am Anfang einer Beziehung zusammen, in der Phase des Kennenlernens zieht die aufregende erotische Sehnsucht zur anderen Person hin – und führt im gelingenden Fall in ein immer tieferes Vertrauensverhältnis. Aber die Aufregung des Anfangs nimmt notwendig ab – und mit ihm auch manche aufregenden Aspekte von Begehren und Begehrt-werden. Und der Mensch hat die Wahl, sich diese aufregende Erfahrung immer neu zu suchen – und damit Verbindlichkeit zu vergessen. Oder er wächst in die Aufgabe, spannungsvolle Erotik einerseits und die Erfahrung von Geborgenheit andererseits ineinander fließen zu lassen, und das heißt: die Liebe tiefer und reifer werden zu lassen. Denn reifere Liebe ist schöpferische Liebe. Eine Liebe, die mit dem geliebten Anderen nie fertig ist und die in der Lage ist, mitten im gewohnt Gewordenen trotzdem immer Neues, Schönes, Tiefes am Anderen zu entdecken und sich davon neu anziehen zu lassen. Auch hier zeigt sich: Liebe, die den anderen als anderen meint, lässt den liebenden Menschen in seiner Hingabefähigkeit zusammenwachsen, mehr ganz werden. Solche Liebe ist weniger ein Gefühl als eine Entscheidung. Sie ist Entschiedenheit, sie ist ein tiefer liegendes Ja aus der Personmitte. Und sie vermag so auch die oft so unterschiedlichen Sehnsüchte des Begehrens einerseits und die Sehnsucht nach Geborgenheit andererseits zusammenzuführen und zu integrieren.
Wenn aber so ein Weg des Reifer-werdens nicht gelingt, wenn die Beziehung scheitert, wenn ein oder beide Beziehungspartner unerfüllbaren Idealvorstellungen haben oder wenn die äußere Anziehung nicht von wachsendem inneren Zueinander begleitet wird, dann tendieren wir als Menschen dazu, desintegriert zu bleiben. Das Begehren, das die Spannung will, bleibt abgelöst von der Sehnsucht nach Sicherheit – und neigt dazu, sich immer neue spannende erotische Abenteuer zu suchen. Und wenn nun insgesamt die integrative, die einende innere Kraft personaler Liebe nicht da ist, nicht aktiviert werden kann, dann bleiben die unterschiedlichen Weisen des Wunsches nach Sexualität wie selbständige Kräfte und Sehnsüchte nebeneinander bestehen.
Erkenntnisse der Humanwissenschaften
Von dieser Einsicht ist es überaus verständlich, was heutige Human- oder Sexualwissenschaft betonen, nämlich dass Sexualität verschiedene Sinndimensionen hat, die – so sagt man – alle auch einzeln ihre Berechtigung haben und deshalb auch nacheinander oder unabhängig voneinander erlebt werden können. Da sind zum Beispiel die schon erwähnten Bedürfnisse nach Nähe und Verbindung, aber auch eben die nach erotischer Spannung. Da ist das Bedürfnis nach Selbstüberschreitung, nach Sich-vergessen können und da ist natürlich der Wunsch und die Fähigkeit, miteinander ein Kind zu zeugen. Und von außen gesehen, können wir allzu leicht verstehen: Ja, natürlich, alles hat seinen Sinn, alles seine Berechtigung. Aber wenn wir das als Liebe ernst nehmen, was durch Jesus von Gott kommt, dann ist das eine Liebe, die uns tiefer zu uns selbst bringen will, die uns – wie die Schrift sagt, zu neuen Menschen machen will. Es ist eine Liebe, die uns heiler machen, die uns ganz machen will. Eine Liebe, die uns selbst als ganze Menschen liebesfähig machen will. Es ist eine Liebe, die ihre Entschiedenheit aus dem innersten Herzen, aus unserer Personmitte bekommt. Es ist damit eine Liebe, die die einzelnen Sinndimensionen von Sexualität nicht auseinanderhalten will und kann. Sondern sie will sie gerade tiefer ineinander führen integrieren. Die Liebe Gottes will uns auch in diesem Punkt mehr ganz machen. Auch wenn mir natürlich völlig bewusst ist, dass ein junges Paar Sexualität anders lebt als ein lange vertrautes Paar, oder als ein Paar in der Kinderphase oder als ältere Menschen. Und trotzdem spüren wir, dass diese Ganzheit notwendig ist – auch in der Ganzheit eines Lebens.
Der gebrochene Mensch
Aber der Mensch in seiner Gebrochenheit und Unerlöstheit – also in gewisser Hinsicht wir alle – dieser Mensch neigt gerade dazu, genau den Aspekt abzuspalten, der für uns die größten Konsequenzen nach sich zöge: die mögliche Zeugung eines Kindes. Denn wenn wir von innen her drauf sehen, dann würde genau dieser Aspekt die nachhaltigsten Möglichkeiten bereithalten, zu wachsen und zu reifen, also ein verantwortungsvoller Mensch zu werden, mehr reif, mehr ganz. Sehr verkürzt gesagt: Möge verhütet werden, dass ein Kind kommt, damit wir noch länger mehr Spaß und weniger Konsequenzen haben. Natürlich ist mir trotzdem bewusst, dass es gute Gründe gibt, verantwortungsvolle Elternschaft zu leben und daher auch die Zahl der eigenen Kinder mit zu beeinflussen. Aber ich denke, wir alle spüren schon, warum wir grundsätzlich dazu neigen, insbesondere diesen Bereich der Zeugung oft weitgehend zu eliminieren. Tatsächlich aber greifen wir genau hier gewissermaßen in einen heiligen Bereich ein: Warum heilig?
Weil uns der Akt der sexuellen Vereinigung letztlich von seiner inneren Richtung und Bedeutung her zu Mitwirkenden an Gottes Schöpfung machen kann. In diesem Akt liegt die Möglichkeit, dass wir ein weiteres Kind Gottes, eines seiner Ebenbilder zeugen können, in Mitwirkung und Mitverantwortung. Aber wir greifen ein, um letztlich weniger Hingabe und Verantwortung lernen zu müssen, und uns den Lustfaktor mit größerer Unverbindlichkeit zu gönnen. Wir können es von hier auch umgekehrt formulieren: Das tiefste Ja zum Partner, die größte innere Entschiedenheit, die Bereitschaft zum großen Ja der Liebe bräuchten wir eben gerade da, wo wir uns auf einen solchen Akt einlassen, der in sich die Möglichkeit der Zeugung trägt. Und selbstverständlich darf und soll dieser Akt auch Freude machen und lustvoll sein und in den siebten Himmel heben und uns tief innerlich miteinander verbinden. Aber überall, wo einer der Aspekte für sich allein gesucht wird, etwa als bloße Lusterfahrung für mich – da wird dieser Akt seiner Ganzheit, seiner Heiligkeit beraubt und bleibt hinter dem zurück, was er sein könnte und daher auch, wie ich meine: von Gott her sein kann und soll. Und ich selbst bleibe dabei auch der, der seine Liebe eher partiell ausdrückt und womöglich aus einer Ich-verhaftetheit nur dosiert einsetzt. Aber eigentlich beginnt Er-lösung erst dort, wo wir uns lösen lassen – von unseren Ich-Interessen – und zwar gerade in diesem Bereich des Heiligen. Denn der Sinn der biblischen Lehre ist ja der, dass wir in allem auch Menschen werden, die lieben lernen, und die durchs Lieben-lernen immer mehr der oder die werden, die wir sein können, Ebenbilder Gottes. Und solches Lieben-lernen schließt Sexualität als Ganze in all ihren Dimensionen mit ein und nicht aus.
Das ist tief, ziemlich radikal im guten Sinn. Denn radikal kommt von radix und heißt Wurzel, hier sind wir an der Wurzel der menschlichen Bedeutung von Sexualität. Aber aus einer nur weltlichen oder gesellschaftlichen Sicht ist es auch streng, klingt es unlebbar, ist es im schlechten Sinn radikal, klingt es fundamentalistisch. Und wir wissen natürlich auch um das vielfache Scheitern von uns Menschen gerade in diesem Bereich – auch in der Kirche und unter Christen. Und weil es dieses Scheitern so oft gibt, bedeutet das, dass wir unser Verständnis von Sexualität so verändern dürfen, dass alles ein wenig lockerer wird?
Es geht aber um Liebe – und mich beschäftigen in diesem Zusammenhang auch, dass andere Forderungen der Liebe aus dem Evangelium ebenso radikal sind, aber nicht denselben Anstoß erregen, wie die Normen der Sexualität. Womöglich deshalb, weil wir sie ohnehin für übertrieben halten und die Messlatte selbstverständlich unterlaufen. Zum Beispiel, die Forderung, die Feinde zu lieben. Jesus meint das ernst. Oder die Forderung, die andere Wange auch hinzuhalten, wenn uns einer auf die eine Wange schlägt. Oder die Forderung zu einer geradezu maßlosen Vergebungsbereitschaft, was auch immer Schlimmes uns passiert. Oder die Forderung, für Christus sein Leben hinzugeben oder Verfolgungen um seinetwillen zu erdulden. Oder die Forderung, Jesus mehr zu lieben als Vater und Mutter und anderes mehr. Jesus will uns neue Liebesfähigkeit schenken, und zwar ganz – und er will den ganzen Menschen für sich, damit wir als neue Menschen andere besser und mehr lieben können. Von dort kommen dann auch die kirchlichen Aussagen über Sexualität.
Und wo wir das nicht mehr sehen, erfahren, spüren, oder glauben können, dass Gottes Liebe mein Innerstes anzielt und erneuern und mich selbst zur tieferen Liebe befähigen will, dort betrachten wir eben Sexualität primär unter der Rücksicht der Humanwissenschaften, stellen ihre verschiedenen Dimensionen fest – und erklären, dass jede dieser Dimensionen auch ohne die jeweils andere gesucht und gelebt werden kann. Es muss dann natürlich nicht immer gleich um Nachkommenschaft gehen. Freilich: Um der Thematik dann doch noch einen christlichen Charakter zu geben, wird gesagt, dass es in jedem Fall auch um Liebe gehen müsse und um Verbindlichkeit auf Dauer. Welche Art von Liebe und von Verbindlichkeit gemeint ist, von welcher Dauer gesprochen wird, bleibt aber eher unbestimmt. Zu oft kennen wir das Scheitern von Beziehungen, zu oft die Sehnsucht der Menschen nach neuer Lust und neuem Abenteuer, zu oft sind Sexualpartner einander nur Lebensabschnittspartner – und oft auch gar nicht exklusiv mit dem einen oder der einen. Warum auch, wenn es nicht mehr um Zeugung geht?!
Unsere Mitwirkung an der Ganz-werdung
Ein erstes Fazit ist also: Wenn Gott tatsächlich nach unserem Glauben
- radikal absichtslose Liebe ist und wenn diese Liebe
- unser Herz erobern und uns erneuern will. Und wenn uns diese Liebe dann
- ganz macht, integriert, liebesfähig machen und zu einem entschiedenen Ja befähigen will, dann können wir von uns selbst aus, die verschiedenen Aspekte von Sexualität nicht einfach voneinander trennen, sondern sind eher berufen, an ihrer Reifung und ihrem Zusammenwachsen mitzuwirken. Wir sind berufen auch durch das Leben der Sexualität an der tieferen Menschwerdung von uns selbst und aneinander mitzuwirken. Und wenn es so ist, dann sind wir berufen, diesen Akt auch zu schützen und darin uns selbst. Deshalb ist es von dieser Innenseite her gesehen in sich tief und klar und richtig, was die Kirche zur Sexualmoral sagt.
Aber es wird unklar, wenn wir nicht in die gläubige Erfahrung finden, dass Christus unser Herz und unser Leben tatsächlich verwandeln will und kann. Und dass es bei dieser Verwandlung immer um die Fähigkeit geht, wahrhaftig zu leben und absichtslos lieben zu lernen – auch mit alledem, was uns als sexuellen Wesen geschenkt ist.
Die Tragödie von heute ist, dass es uns so wenig gelingt, diese innere Mitte unseres Glaubensgeheimnisses deutlich zu machen. Christentum wird heute vor allem wahrgenommen als eine Art Set von moralischen Vorschriften, die ohnehin kaum mehr verständlich sind. Und dieses Set wird dann auch noch von einer Institution vorgegeben, die durch viele Missbrauchsfälle und andere Skandale in moralischer Hinsicht so kompromittiert ist, dass ihr niemand mehr glaubt. Besonders deshalb, weil sie auch in der Bewältigung von Missbrauch fast immer zuerst auf die Institution und fast nie zuerst auf die Opfer geschaut hat. Allzu selten wird überzeugend gezeigt und noch seltener überzeugend gelebt, dass wir durch die Gegenwart Jesu Christi wirklich neue Menschen werden können. Also Menschen, die Gott und einander in dem Geist lieben, den Christus uns geschenkt hat. Und die deshalb auch besonders die Verwundeten und Marginalisierten im Blick haben.
Daher meine ich, dass es für uns heute und morgen darum gehen muss, als wirklich durch Christus Bekehrte leben zu lernen; wirklich mit Ihm zu leben als seine Jüngerinnen und Jünger – auch trotz und mit unserer eigenen Durchschnittlichkeit und Gebrochenheit – auch in diesem Bereich. Die Maßstäbe, die Christus für ein erneuertes, jüngerschaftliches Leben anlegt sind hoch: Er will uns ein reines Herz geben – und uns das ehebrecherische Herz nehmen, das sich bereits dort zeigt, wo wir mit lüsternem Blick unrechtmäßig begehren, wie er in der Bergpredigt sagt. Deshalb beginnt das Ringen um innere Reinheit in uns selbst, jeden Tag. Und ja, es bleibt ein Weg, es bleibt auch ein Kampf, der uns manches abverlangt. Biblisch lesen wir zum Beispiel wie der Stammvater Jakob der ist, der im Alten Testament buchstäblich mit Gott gerungen hat. Und der aus diesem Kampf nicht ohne Verwundung weggeht – und doch danach innerlich heiler, reifer ist, jetzt fähig zur Versöhnung mit seinem Bruder Esau. Und wer nun mit der Hilfe des Geistes Gottes wirklich versucht, in diesem tiefen Bereich, in dem Trieb, Leib, Seele und Geist so ineinander verwoben sind, heiler und integrierter zu werden, der darf und wird, womöglich mehrere Dinge tiefer verstehen: Er findet in größere Zufriedenheit und tiefere innere Freiheit; er wird andere Menschen mehr lieben und weniger benutzen und gebrauchen; er wird sich immer wieder als Sünder erfahren, aber immer auch um die Quelle der Versöhnung und Heimkehr wissen; er wird in eine Demut finden, die auch um den Weg und die Kämpfe der anderen weiß. Er wird spüren dürfen, dass er wirklich an der Seite Jesu geht – und er wird die von Herz zu Herz erkennen, die auch ehrlich um so einen Weg ringen.
Die Lauterkeit des Herzens
Die Demut und wohl auch die Niederlagen, die wir auf so einem Weg erleben, werden uns hoffentlich lehren, all die anderen zu achten, die sich auch auf dem Weg befinden; auch alle, die für sich keinen Weg sehen, in einer Ehe zu leben und zu lieben; auch jene, die sich zum selben Geschlecht hingezogen fühlen und jene, die sich im verkehrten Geschlecht fühlen und Veränderung wünschen. Wir leben in einer Welt, in der es unzählige Wege jenseits dessen gibt, was bürgerliche Moral für richtig hält. Und womöglich haben wir allzu lange bürgerliche Moral mit wirklichem Christentum verwechselt. Im wirklichen Christentum geht es um das Einüben einer Liebe, die Christus uns schenken will, um absichtslose Liebe – immer. Und ich bin überzeugt, dass Christus zuerst will, dass unser Leben auch als sexuelle Wesen von dieser, seiner Liebe mit durchformt wird (vgl. Joh 17,26). Es bedeutet, dass wir im weiten Sinn des Wortes verstanden, keuscher werden. Das heißt: Unser Lieben, auch unser erotisches Begehren, wird weniger besitzergreifend, weniger getrieben von der Begierde des „für mich“. Sie wird tiefer auf das Wohl des anderen bezogen. Der innere, liebende Blick, der sich durch Christus läutern lässt, lernt den geliebten Anderen von Gott her zu verstehen. Deshalb kann man auch sagen: Einen Menschen mit den Augen Jesu lieben zu lernen, bedeutet immer mehr den Grund verstehen lernen, warum Gott einen Menschen geschaffen hat.
Verstehen wir, warum deshalb in der großen gläubigen Tradition das „reine Herz“, das lautere Herz, der keusche Blick so eine große Rolle spielt? Weil Christus den anderen Menschen auch mit dem liebenden Blick des Vaters sieht. Und diese Sehnsucht, so lieben zu lernen, kann sogar bedeuten, dass Menschen um Christi willen ein Leben wählen, in dem sie auf die exklusive, auch sexuelle Bindung mit einem Menschen verzichten. Und durch ihren Lebensstil ein deutliches Zeugnis geben wollen von einem neuen Leben; von einem Leben das über das nur biologische Leben hinaus ist. Sie wollen mithelfen, dass Menschen in Christus neu geboren werden, neue Schöpfung werden, wie Paulus sagt. In diesem Sinn heißen Menschen, die um des Himmelreiches willen ehelos leben, trotzdem oft geistliche Väter oder geistliche Mütter. Und unsere große Tradition zeigt uns, dass es möglich ist, eine solche Berufung zu leben – und zwar ohne dabei die Erfahrung von Lebensglück einbüßen zu müssen.
Freilich, wir müssen das auch ehrlich sagen: Wir spüren in unserer pluralen Gesellschaft heute mehr als früher und es ist offensichtlicher, dass auf diesem Weg der Einübung absichtsloser Liebe jeder und jede auf dem Weg ist und bleibt auch jeder zölibatär lebende Mensch. Und dass keiner von uns darin je fertig wäre in diesem Leben. Jeder ist auf unterschiedlichste Weise unterwegs und immer nur mehr oder weniger reif oder erkennend. Und bleibend sind wir darin auch immer wieder schwach, verwundbar, oft genug Sünder und Sünderinnen.
Entscheidungen fürs Leben
Zugleich bin ich aber der Überzeugung, dass diese Liebe Jesu auch befähigt, Entscheidungen fürs Leben zu treffen und darin zu bleiben. Ebenso glaube ich, dass Sexualität von ihrer inneren Sinnrichtung her geschützten Raum braucht, der einhegt, um Wachstum von innen zu ermöglichen. Einen Raum, der auch schützt und das Risiko der Verwundbarkeit klein hält. Die Kirche, die Braut Christi, sieht diesen Raum in der Ehe und schützt und privilegiert sie in besonderer Weise. Die Kirche feiert sie als Sakrament und glaubt, dass Christus selbst diesen Bund stiftet und heiligt und fruchtbar macht.
Aber wie die Eheleute sind auch alle anderen Menschen mit ihren vielfältigen Wegen und Weisen die Liebe zu suchen, immer eingeladen, immer mehr Christus als die tragende Wirklichkeit jedes Menschenlebens für sich zu entdecken, für ihre Partnerschaft und für ihre Gemeinschaft. Und die Schrift bezeugt: Diese Wahrheit und Liebe befähigt und fordert immer neu heraus, anders zu leben – und sich immer mehr von absichtsloser Liebe leiten zu lassen. Mir sind jedenfalls nicht wenige Menschen bekannt – die mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Lebensgeschichten in so ein Leben gefunden haben. Sie haben – wie wir alle – auch zu kämpfen, aber sie geben mir auch ein Beispiel von Freude, von Integrität und sie bezeugen so auch das, was ich für die Wahrheit des Evangeliums halte. Papst Benedikt XVI hat einmal gesagt: Wenn wir uns Christus anvertrauen, gewinnen wir alles und verlieren nichts. In diesem Sinn meine ich, dass ein von dieser Mitte her erfahrenes Leben auch in die Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche finden kann. Und zugleich kann und muss es uns ein weites, empathisches und mitgehendes Herz für alle Menschen geben; vor allem auch für die, die sich schwer tun, dieser Lehre zuzustimmen.
Denn in diesem letzten Punkt haben wir als Kirche aus meiner Sicht großen Nachholbedarf. Zunächst darin, überhaupt zu verstehen. Denn tatsächlich brauchen wir mehr Erkenntnisse, mehr Differenzierungen und auch mehr Empathie für Menschen, die anders gehen und sich anders fühlen als die große heterosexuelle Mehrheit. Und ja: die Erkenntnisse des Missbrauchs beschämen und beschädigen uns. Und sie beschädigen vor allem auch die Betroffenen durch oft durch unsägliches Leid gehen müssen und müssen. Maßgebliche Vertreter der Kirche haben dieses Leid oft kaum gesehen oder sehen wollen. Und mit dieser Übung sind wir nicht zu Ende: Es sehen zu wollen bleibt für uns alle – auch für mich – ein Lernprozess. Auch die Erkenntnis, dass wir als Kirche so wenig liebesfähig und fürsorglich sind füreinander, für die Betroffenen und oft noch weniger für alle die, die anders denken, glauben und lieben wollen als wir – auch diese Erkenntnis beschämt. Aber diese Scham müsste uns nach meiner Überzeugung in eine Bekehrung führen, die sich immer neu danach sehnt, von der erlösenden, absichtslosen Liebe und Gegenwart Christi selbst berührt und verwandelt zu werden. Deshalb darf die Kirche aus meiner Sicht nicht von dieser Herausforderung zur Bekehrung absehen, zur Bekehrung und zum Sich-ausstrecken nach der Liebe Jesu, zum Sich-verwandeln lassen in größere Lauterkeit und Ganzheit. Diese Notwendigkeit der fortwährenden Bekehrung gilt für alle, besonders auch für uns Amtsträger. Denn wenn Kirche auf den Ruf in die Bekehrung verzichtet, läuft sie Gefahr, letztlich ein Menschenbild zu lehren, das es uns allen mit der Sexualität am Ende zwar ein wenig leichter macht – aber das uns dann nicht hilft, tiefer, ganz, reifer, liebesfähiger zu werden durch den Herrn. Christus ist unter uns als der absichtslos Liebende und Vergebende real gegenwärtig. Und er will, dass wir Ihm ähnlicher werden. Ich würde befürchten, dass wir Ihm mit einer erneuerten Sexualmoral, so wie sie derzeit im Synodalen Weg vorgeschlagen wird, am Ende noch unähnlicher werden als wir es eh schon sind.
Zum Synodalen Weg
Bischof Stefan hat sich bereits in der Vergangenheit mehrmals zum Synodalen Weg geäußert. Eine Stellungnahme zu den einzelnen Bereichen finden Sie hier.
Comments
Sehr geehrter Bischof Oster,
Ihre Worte zeugen davon, dass Sie von der Wahrheit berührt sind, dass Sie sich davon leiten lassen, ja, das Sie Mitarbeiter der Wahrheit sind. Die nun beschlossenen Thesen des Synodalen Weges zeugen vom fehlenden Geist der Unterscheidung: konfus werden der sexuelle Missbrauch, Zölibat, kirchliche Sexualmoral und gesellschaftliche Realität durcheinander geworfen bzw. in einer unglücklichen Melange miteinander verwoben bzw. kausal miteinander verknüpft. Die Menschen bräuchten stattdessen Orientierung mit dem Kompass des Evangeliums. Ihre Ausführungen sind dabei ein Lichtblick. Danke dafür.
Wie immer sehr gehaltvoll und nachdenklich machend.
Manchmal frage ich mich aber, ob wir wirklich mehr brauchen von allem, mehr Erkenntnisse, mehr Differenzierungen … denn verwirren uns diese nicht auch öfters?
Denn: es gibt immer Studien, die pro sind … zB angeborene Gleichgeschlechtlichkeit=von Gott geschaffen, und dann welche, die contra sind .. und das gilt nahezu für jeden Bereich.
Ich frage mich, ob in Zyklen nicht immer wieder geschieht, dass deutlich werden muss, wie lieblos viele Menschen, vor allem Christen miteinander umgegangen sind und umgehen, immer noch, und diese Lieblosigkeit aber dann darauf zurückzuführen auf die Gebote Gottes=zu streng, als darauf, nicht ernsthaft genug zu suchen und zu glauben, und wer – ich denke, das sind die Wenigsten – wollen wirklich erkennen, dass sie ein neues Herz brauchen, ein reines?
Insgeheim denken wir doch fast alle, dass wir doch eigentlich ganz „ok“ sind.
Fragen wir doch auch einmal die Ehemänner, ob sie ihre Ehefrauen so lieben, wie es in der Schrift steht.
Wohl auch die wenigsten, vor allem in der Katholischen Kirche ….sonst hätte es keinen notwendigen Aufbruch der Frauen geben müssen, der gerechtfertigt war und damals Emanzipation geheissen hat.
Wo Liebe in Familien nicht vorgelebt wird, auch nicht in den Gemeinschaften, seien es kirchliche oder Schulen, oder Betriebe .. aber eben vor allem in der Familie .. wird die Liebesfähigkeit beschädigt .. aber grade dafür ist ja Jesus da!
Wer das begreift … braucht keine wissenschaftlichen Abhandlungen – so bilde ich mir ein – sondern liebt den Sünder und hasst die Sünde und ist in dieser Liebe verbunden mit IHM, der uns – wenn wir uns nur auch Zeit lassen würden und das ZUHÖREN wieder lernen wollten und würden – die rechten Worte schenkt, wenn wir sie brauchen und die Wahrheit würde nicht relativiert werden und negiert.
Möglicherweise will der Gegenspieler uns weismachen, dass alles sehr schlimm ist – was stimmt, aber anders, als er denkt. Es gibt Liebe – es ist eine Entscheidung. Der Gegenspieler verwickelt uns vielleicht in diese Wissenschaften, dieses: wir müssen besser verstehen, wir müssen mehr .. mehr Dialog, mehr Seminare, … nein, müssen wir nicht. Wir müssen lieben – mit Absicht, oft entgegen unserem Gefühl … weil ER uns absichtslos geliebt hat und doch unseren Gehorsam fordert. Und das darf ER.
WIr brauchen Entschleunigung und Stille. Davon brauchen wir mehr.
Und ich möchte auch mal eine Lanze brechen, für die Männer!
Mir tun Männer oft unendlich leid, sowohl heterosexuell Empfindende, als auch homosexuell Empfindende, wobei diese sich untereinander eh erkennen, das sie über die Zeit ihre Codes entwickelt haben, entwickeln mussten, vielleicht, weil sie auch in der vergangenen Geschichte schwer angegriffen wurden.
Was männlichen Augen oft zugemutet wird, weil sich Frauen zu freizügig anziehen … das ist fürchterlich.
Ich beobachte auch, dass viele Männer versuchen sich zu wehren und den Blick bewusst abwenden .. aber das Kopfkino hat schon begonnen.
Wo bleibt die frauliche Rücksichtnahme und das Verständnis, dass in dieser gefallenen Welt Männer nun mal Augenmenschen sind und dabei manchmal fast den Verstand verlieren?
Wir leben in einer Bildwelt.
Und das ist unser Drama.
Ohne Kino, Fernsehen und Fotos wäre unsere Welt eine andere und Vorkomnisse dieser Art seltener.
Und leider können wir keine Zeitreise machen und erforschen, wie das in damaligen Ordensgemeinschaften und Familien, Gemeinschaften usw war… Und wer einmal Lebenbeschreibungen von Frauen, die sich verdingen mussten, gelesen hat, der wird leider erkennen müssen, dass Vergewaltigung der Hausmädchen durch den Hausherrn und die Söhne gang und gäbe war und niemals geahndet wurde.
Es gibt so viele treue und gute Hirten … die sich ehrlich bemühen … so viele gute Väter, so viele gleichgeschlechtlich Empfindende, die sich ebenso abgestoßen fühlen durch das, was in diesem Bereich grade geschieht, so viele Christen darunter, die sich bemühen und enthaltsam leben, ohne ein Trara darum zu machen … ganz im Stillen, von deren Kämpfe vielleicht sogar gar niemand weiss, wie auch die Heterosingles … die sich hin und wieder in den Schlaf weinen … wir sollten den Herrn bitten, dass ER uns einander zuführt, damit wir wieder Hoffnung schöpfen und sehen: da gibt es Licht!
Danke Herr Bischof, dass Sie den Beitrag auch verschriftlicht haben. Damit wird nämlich unsere Aufgabe vereinfacht, diesen Dialog weiter zu führen und das verstandene vll auch zu präsentieren.
Herzliche Grüße
Lieber Herr Oster,
ihr letzter Satz sagt alles – da könnt man sich das ganze pseudoreligiöse wie auch theologische Geschwurbel schenken.
Das Sie von Liebe – Sex und Lust keine Ahnung haben und es salopp ausgedrückt es nun der „Liebe zu Christus“ zuschreiben – was nicht sein soll und darf.
Geschenkt.
Ñur:
Was wollen Sie?
Das alles so bleibt wie es ist???
Das Ihre Schäflein sich immer mehr verschreckt- vom anblick der versteinerten wie auch völlig abgehoben und der Realität fernen – ob der verstaubten Gegenwart ihrer Kirche flüchten??
Wachen Sie auf – noch ist es nicht zu Spät – aber denken Sie bitte an die Realität – denken Sie bitte einmal ökonomisch = dachte jemand vor 30 – 40 Jahren das es einmal Firmen wie Bauknecht, Grundig und AEG einmal nicht mehr gibt?
Sie sind genau auf diesem Weg – also – machen Sie / wir den Weg frei – auf zu neuen Ufern! – Der Herr würde uns sicher wohlwollend Begleiten – Amen.
MfG
R.Berger
Sehr geehrter Herr Berger,
es ist uns Christen ja bekannt, daß der menschliche Wille schon recht seltsame Blüten treibt. Nun ist es hier aber so, daß wir im kath. Glauben nach dem Willen Gottes suchen, Ihn versuchen zu erkennen, in Worte zu fassen und weiterzugeben. Das hat Hochwürden in seinem Vortrag doch eindrucksvoll nachvollzogen. Man muß ja nicht ad hoc zu allem Ja sagen, doch wenigstens darüber nachdenken, daß von der menschl. Natur aus die absichtslose Liebe nicht in die Wiegen gelegt erscheint. Das beweist sich nicht nur in der Theorie, vor allem nicht den jener der Welt zugewandten, sondern sofort hier in Ihrem Beitrag. Die absichtslose Liebe ist nicht in unternehmerischen Strukturen oder der Ökonomie zu finden. Sie ist auch nicht auf den eigens präparierten Wegen zu finden, die man sich gerne großflächig und bequem anlegt.
Ihre Abwertung der Liebe zu Christus kann ich nur aus meiner Heidenzeit nachvollziehen. Dennoch war der Herr im rechten Moment bei mir, als es mir richtig dreckig erging. Wohin sonst sollte auch ein richtig queeres Leben auf ewiger Identitätssuche hinführen, als in den gottlosen Abgrund! Christus war trotzdem da, er hat mich nie zur Verdammnis verurteilt und fallengelassen – obwohl ich voller Verachtung war. Seien auch Sie Herr Berger nicht so hart im Herzen und gönnen sich allmählich die Vorstellung, nicht automatisch im Besitz des Willen Gottes zu sein. Der Herr meldet sich dann schon bei Ihnen.
Herzlichen Dank Herr Bischof Oster für Ihre Worte.
May Tupac