Foto: Pressestelle Bistum Passau

So verliert der Tod seinen Stachel

So verliert der Tod seinen Stachel: Die Predigt von Bischof Stefan Oster zur Feier von Allerseelen im Passauer Stephansdom 2015.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
mit dem Tod ist das so eine Sache in unserem eigenen Leben, in unserer Gesellschaft, im öffentlichen Leben. Es ist so ganz ambivalent, so ganz zweideutig oder besser noch vieldeutig. Auf der einen Seite sprechen wir gar nicht gerne und gar nicht viel darüber. Wir meiden die Erinnerung an den Tod und beschäftigen uns in der Regel nur mit ihm, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Wenn er in unser eigenes Leben einbricht und es bedroht oder wenn eine vertraute oder öffentlich bekannte Person stirbt. Ansonsten halten wir ihn uns so gut es geht vom Leib. So gut es geht, sage ich, denn wenn wir sehr, sehr ehrlich mit uns wären, dann würden wir vermutlich verstehen, dass der Tod hintergründig, untergründig, unbewusst sehr stark und oft sehr dominierend in unserem Leben gegenwärtig ist.

Der Tod ist in unserem Leben gegenwärtig

Warum ist das so? Nun, wenn wir in unser Leben schauen, dann merken wir, dass wir von vielen Antrieben stark bestimmt sind: Wir sind sehr auf Sicherheit aus. Wir sind oft von nicht wenigen Ängsten getrieben. Wir fürchten zum Beispiel, unseren Besitz, unsere Beziehungen, unsere Gesundheit unsere Mitmenschen oder uns selbst zu verlieren. Und all solche Befürchtungen führen dann wiederum sehr stark dazu, dass wir oft nicht besonders frei sind.

Wir sind oft erst einmal besorgt, vor allem um uns selbst. Oft ängstlich besorgt. Der Selbsterhaltungstrieb, das sagen uns auch Biologen, Psychologen und Verhaltensforscher, ist einer der stärksten, wenn nicht der allerstärkste Trieb in unserem Leben. Unser Denken und Handeln kreist bei uns normalen Menschen zuerst einmal um uns selbst – und selbst wenn es sich um andere dreht, dann hintergründig doch oftmals auch noch deshalb, weil die anderen unserer eigenen Sicherheit dienen.

Die Angst vor dem Tod

Alles das, liebe Schwestern und Brüder, kennt jeder in sich selbst. Es ist das Normale. Meine These ist aber nun, dass der innerste Motor dieses Antriebs, unsere eigene Angst vor dem Tod ist, unsere Angst vor dem Vergehen. Der Tod und mit ihm die Angst vor Vergänglichkeit hat sich eingegraben in unser seelisches und leibliches Leben.

Wir wollen festhalten, wir wollen bleiben, wir wollen nicht vergehen. Wissen Sie, warum wir uns so schwer tun, wirklich zu lieben? Weil Liebe auch bedeutet: Sich wegzugeben, sich zu verschenken. Und zwar irgendwie ganzheitlich, mit ganzem Herzen und ganzer Seele und nicht nur gedacht oder nicht nur kontrolliert.

Die Angst, sich zu verlieren

Aber unsere Angst ist: Wenn wir uns hergeben, dann könnten wir uns doch verlieren. Wir meinen, den inneren Boden, den inneren Halt in uns selbst nur dann zu spüren, wenn wir ihn selbst kontrollieren, wenn wir ihn selbst zusammenhalten, wenn wir also an uns selbst festhalten.

Das Gegenteil von Sich-selbst-festhalten ist Sich-verlassen. Das sieht man schon am Wort selbst: Sich-verlassen heißt: von sich selbst weggehen und wegsehen. Es heißt vertrauen, vertrauen, dass ich getragen bin, auch wenn ich mich verschenke. Es heißt, sich öffnen, obgleich ich die Erfahrung gemacht habe, dass wir dann riskieren, auch verletzt zu werden oder nur ausgenutzt.

Der innerste Vollzug des Glaubens ist das Vertrauen

Wissen Sie, Schwestern und Brüder, dass die innerste Bewegung, der innerste Vollzug dessen, was wir Glauben nennen, das Vertrauen ist, ein Vertrauen, dass wir uns auf Jesus wirklich verlassen können? Ein Vertrauen, dass Er da ist, ein Vertrauen, das immer mehr lernt, dass der Mensch sich gar nicht selbst halten muss und auch gar nicht halten kann.

Ein Vertrauen, in dem wirkliche Liebe zum Anderen wachsen kann – und nicht nur die Liebe, die den Anderen für sich braucht. Ich lerne dann selbstloser lieben, weil ich ja selbst schon getragen bin. Der Glaube, das Vertrauen auf die Gegenwart Jesu wird ums so wirksamer in unserem Leben je tiefer es in unserer Seele Grund nimmt, je mehr es vom Kopf ins Herz rutscht.

Liebesfähig, weil Jesus uns trägt

Und wenn wir dann noch lernen, zu vertrauen, dass Jesus nicht einfach nur irgendwo in unserer Seele wohnt, sondern gewissermaßen noch einmal darunter steht, dass er uns trägt – und zwar immer und ganz, dann wächst von unten her wirkliche Liebesfähigkeit.

Dann wächst uns von unten her die Kraft zu, uns wegzugeben, uns zu verlassen. Dann wächst uns von unten her wahre Freiheit zu und die Fähigkeit, in einer Wahrheit zu stehen, die wir uns nicht selbst gegeben und nicht selbst gemacht haben. Und dann lernen wir nach und nach, die Welt mit Seinen Augen zu sehen.

Glaube heißt auch Entscheidung

Freilich: Wir spüren das nicht immer gefühlsmäßig, nur manchmal. Denn der Glaube ist auch ein Akt der Entscheidung! Jesus will Bekenntnis, er will, dass wir vertrauen, auch wenn wir nicht sehen und spüren.

Und wir merken zusätzlich, dass es da auch eine andere Seite gibt in uns und außer uns, eine Seite, die uns immer neu Angst machen will. Die uns immer neu suggeriert: Lass es! Alles Einbildung, alles Illusion! Glaube, Vertrauen, papperlapapp. Kümmer Dich erstmal um Dich!

Der Tod und sein Vater: der Teufel

Liebe Schwestern und Brüder, der Teufel ist in der Bibel der Vater des Todes und der Vater der Lüge. Er ist auch der Vater der Angst. Aber oft und oft in der Schrift, wenn Jesus erscheint, sagt er genau dies: Fürchtet euch nicht, ich bin es. Und im heutigen Evangelium sagt er uns in unüberbietbarer Klarheit: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt!

Liebe Schwestern und Brüder, es gibt eine Liebe, ein Leben, das unseren oft so egozentrischen Trieb nach Selbsterhalt noch einmal unterfangen und aufbrechen will. „Sorgt euch nicht um euer Leben, nicht darum, dass ihr zu essen und anzuziehen habt. All das weiß euer Vater im Himmel und diese Sorgen machen sich deshalb die Heiden, die den Vater nicht kennen“ sagt uns Jesus in der Bergpredigt. „Sorgt euch zuerst um Gott und sein Reich, dann wird euch alles andere hinzugegeben werden.“

Die Angst und der Tod sollen keine Chance mehr haben

Diese Aufforderung Jesu bedeutet nun nicht einfach Sorglosigkeit im Sinne von Verantwortungslosigkeit. Er hat uns allen Aufgaben für uns und andere gegeben, damit wir sie verantwortungsvoll und gut wahrnehmen. Aber diese Aufforderung bedeutet, dass es möglich ist, im Glauben einen Grund zu finden, von dem aus die Angst keine wirkliche Chance mehr hat.

Sie bedeutet, mit einem Vertrauen durch die Welt gehen zu können, dass selbst der Tod keinen letzten Stachel mehr hat. Sie bedeutet, dass Jesus mein Leben trägt und dass Kraft und Sinn und wirkliche Liebe aus seiner Gegenwart kommen. Ihm vertrauen, Ihn lieben lernen bedeutet also auch: Immer mehr von Ihm getragen werden.

Jesus ist nicht abstrakt

Er ist nicht einfach nur abstrakt und nur in Gedanken die Auferstehung und das Leben. Er sagt es zu mir und dir: „Ich bin für Dich die Auferstehung und das Leben. Wenn Du in mir bleibst und ich in Dir, dann komme, was wolle: Du bist im Leben und Deine Kraft zur Liebe wird unerschöpflich.“

Meine Lieben, wenn ich so spreche, dann wissen wir alle, dass wir selbst meistens in einer Verfassung sind, in der doch nicht so sehr der Glaube, sondern unsere Alltagssorgen und natürlich unser Selbsterhalt das Bestimmende unseres Lebens sind.

Wir sind alle verbunden

Und wir ahnen vielleicht auch, dass viele unserer lieben Verstorbenen von uns gegangen sind in einer Verfassung, in der ihr Glaube noch nicht die Tiefe erreicht hat, dass wir sicher sein dürfen: Sie sind schon bei dem, der ihr ganzes Leben getragen hat, sie haben ihm ja zutiefst vertraut. Wir spüren sehr, dass der Glaube ein Weg ist, ein Wachsen – und unsere Kirche glaubt zutiefst, dass wir auf diesem Weg alle miteinander verbunden sind.

Miteinander verbunden heißt aber: Wir können füreinander beten. Wir können die anderen mit unserem Glauben mittragen – und wir können uns von den anderen tragen lassen. Der Glaube an Christus ist also auch etwas, das uns in Herz und Seele verbindet. Er verbindet uns, er gliedert uns in seine Gemeinschaft ein, in seinen Leib! Und deshalb können wir auch füreinander beten, auch für diejenigen, die von uns gegangen sind und noch auf dem Weg sind hin zum Herrn, auf dem Weg ins volle Licht, ins volle Gegenüber.

Wir beten für die, die der Tod auf den Weg zu Gott geschickt hat

Gestern, liebe Schwestern und Brüder, an Allerheiligen, da haben wir all diejenigen angerufen, von denen wir zuversichtlich sagen, dass sie schon ganz bei Gott sind. Und dass sie von dort her für uns beten mögen. Heute beten wir für diejenigen, die noch unterwegs sind, auf dass sie ankommen in der Herrlichkeit Gottes, in seiner Fülle, in seinem Leben.

Und so hoffen wir an diesem Tag inständig, dass uns heute nicht zuerst die Angst vor dem Tod umtreibt, sondern die Hoffnung, das Vertrauen, dass der Herr unser Leben trägt und öffnet und heilt und befreit. Und dass wir einst alle – so wie wir hier sitzen – zusammen mit unseren lieben Verstorbenen in seiner Freude zusammen sein dürfen. Wie lange? Ewig! Wird das nicht langweilig? Nein, immer neu, unerschöpfliche Freude! So wird es sein. Amen.