Märtyrer: Ein Spiegel, in den wir nicht gern schauen

Märtyrer: Ein Spiegel, in den wir nicht gern schauen. Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Patroziniumsfest des Hl. Stephanus im Dom zu Passau 2017.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
im Grunde feiern wir schon noch Weihnachten – auch wenn uns heute dieser Stephanus ziemlich in die Quere kommt – und auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Das Evangelium von heute, von seinem Festtag klingt jedenfalls gar nicht weihnachtsromantisch. Jesus warnt seine Jünger darin vor den Menschen: Sie werden von ihnen vor die Gerichte gebracht, sie werden gefoltert werden, sie werden getötet werden.

Auch Statthalter und Könige werden sich gegen die Christen stellen, ebenso wie es in den Familien Streit um den Glauben geben wird – bis hin zu Mord und Totschlag. „Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden, sagt der Text, wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet werden.“ An Stephanus erfüllt sich diese Prophezeiung ganz früh, ganz brutal – aber er stirbt wie sein Herr: Indem er für seine Mörder betet.

Märtyrer: Ein Spiegel, in den wir nicht gerne schauen

Vielleicht kann man dieses Ineinander von Weihnachten und Martyrium, von der Geburt Jesu und dem Sterben für Jesus so deuten: Der Glaube an das Kind, das Geschenk des Kindes ist anspruchsvoll. Dieses Geschenk wirklich anzunehmen, fordert mich auch zu Konsequenzen heraus, die nicht nur Freude machen.

Zunächst, liebe Schwestern, liebe Brüder, ist das im Grunde mit fast jeder persönlichen Entscheidung so, mit jedem Ja, das wir geben: Etwa, wenn Sie einen Ehepartner, eine Ehepartnerin wählen – und Ja sagen zu dieser Lebensform mit allen Konsequenzen. Sie heiraten freilich zuerst aus Freude, aus Liebe, aus dem Wunder des Geliebtseins. Es ist ein Geschenk.

Märtyrer übernehmen Verantwortung

Aber natürlich spüren Sie im Laufe der Zeit die Herausforderungen und Konsequenzen, die es mit sich bringt: die Forderung der Treue, die Forderung, auch die Schwächen des Partners mitzutragen, die Forderung, in Freud und Leid zusammenzuhalten und anderes mehr. Wir Menschen können verbindliche Antworten geben und übernehmen so Ver-antwortung. Und im Grunde ist es dann so, dass wir gerade darin und dadurch reifere Menschen werden.

Der Mensch ist das einzige Wesen auf diesem Planeten, das wir kennen, das ein Versprechen halten kann. Und Versprechen halten wird erst dann relevant, wenn es nicht immer nur leicht läuft. Die Menschen aber, das spüren wir auch, die Menschen, die vor Verantwortung immer nur weglaufen, bleiben im Grunde ihres Herzens unreif – und verpassen am Ende tiefe Möglichkeiten ihrer Menschwerdung.

Mehr christliche Tradition gewünscht, aber weniger Glaube?

Damit zurück zum Christkind und zu seinem Verhältnis zum Hl. Stephanus. Wir haben in diesen Tagen gelesen, dass über 60 Prozent der Menschen in unserem Land einerseits glauben, dass unsere Kultur christlich geprägt ist und dass sie wollen, dass es auch christlich geprägt bleiben soll. Und diese Zahl ist deutlich gestiegen, in den letzten Jahren. Gerade angesichts der Begegnung mit vielen Menschen aus anderen Kulturen gibt es die Sehnsucht nach dem Bewahren von Traditionen.

Andererseits ist ganz vieles eben auch nur noch Tradition und nicht mehr persönlicher Glaube: Immer mehr Menschen, beinahe 70 Prozent nämlich, beantworten die Frage, ob Sie den Gottesdienst besuchen, mit „selten oder nie“. Auch diese Zahl wächst stetig und deutlich an.

Segen ja, aber Dialog mit Gott?

Wenn wir also diese beiden Umfrageergebnisse  zusammenbringen, dann spüren wir: Viele Menschen wünschen sich offenbar irgendwie das, was sie christlich nennen, und das möge doch bitte bleiben. Aber sie wünschen es ohne Konsequenz für einen persönlichen Glauben und ohne innere Verbindlichkeit im Blick auf die Gemeinschaft der Glaubenden, auf die Kirche. Man glaubt vielfach, man sei schon Christ, wenn man irgendwie Werte für gut heiße wie Solidarität und Mitgefühl.

Aber man meint, dafür brauche man weder den Gottesdienst, noch die Gemeinschaft, noch die Institution, noch die Bibel. Und trotzdem wünscht man sich dann gelegentlich das Angebot, wenn man es braucht: den Segen zum Beispiel für die Kinder oder für die Brautleute oder für die Toten. Einen Segen, ein Gebet, das aber wiederum als Dienstleistung gedacht und gewünscht wird, aber nicht als ein Geschehen des Dialogs zwischen Gott und Mensch in der Kirche.

Märtyrer zeigen: Konsummentalität ist nicht Glaube

Diese Mentalität dringt in unsere Herzen ein, sie lässt uns alle nicht unberührt, sie ist ja auch Teil dieser Konsumgesellschaft und ihrer Individualisierung und Entsolidarisierung und ihres Materialismus – und wir sind Teil davon. Und wir spüren das als Kirchenvertreter auch im Blick auf die Glaubenspraxis in unseren Pfarreien, unter Kindern, Jugendlichen, jungen Familien und im Grunde unter allen Gläubigen.

Nur ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, wir würden heute unter allen unseren Kommunionkindern und Firmlingen eine Umfrage machen – und sie würden wirklich ehrliche Antworten geben. Und die Frage wäre: Du hast nun das Sakrament empfangen, nach langer Vorbereitung, damit du in Freundschaft mit Jesus tiefer verbunden leben kannst – und lernen kannst, davon auch selbst zu sprechen. Und du bist nun eingeladen die Freundschaft zu pflegen vor allem in der Kirche, weil dort Jesus da ist.

Taufe und Tschüss

Wirst Du also ab jetzt das Leben der Kirche so leben, wie es zu diesem Sakrament normalerweise gehört, nämlich zum Beispiel den sonntäglichen Gottesdienstbesuch pflegen, das persönliche, regelmäßige Gebet, die regelmäßige Beichte? Ich bin ziemlich sicher, liebe Schwestern und Brüder, eine ehrliche Antwort von fast 100 Prozent der Kinder wäre: Nein, ich würde das nicht pflegen wollen und auch nicht können.

Es ist mir zu viel, zu viel Verpflichtung, zu anstrengend, außerdem wollen und tun es meine Eltern auch nicht. Und auch das stimmt: Junge Eltern bringen ihre Kinder zwar gern zur Taufe, versprechen dabei, dass sie das Kind christlich erziehen – aber nicht selten war die Taufe dann trotz Versprechen auf Jahre hinaus der letzte direkte Kontakt mit Kirche.

Märtyrer aktuell: Mehr verfolgte Christen als je zuvor

Aber liebe Schwestern und Brüder, wie viel Verständnis ist da gewachsen über das, was Glaube eigentlich heißt? Wir alle kommen ja heute hierher in den Gottesdienst nicht deshalb, weil es einfach nur eine Pflicht ist, sondern weil der Glaube, weil die Seele sonst austrocknet, weil sie sich innerlich von Jesus entfernt. Und weil wir als Gemeinschaft alle einander brauchen. Jeder der fehlt, fehlt denen, die glauben wollen! Und die im Glauben wachsen wollen.

Liebe Schwestern und Brüder, heute am Festtag des ersten Märtyrer der jungen Kirche begehen wir auch den Gedenktag für die verfolgten Christen weltweit. Und wir spüren in Deutschland, dass wir zwar irgendwie im Kopf wissen, dass es heute mehr verfolgte Christen gibt als je zuvor in der Geschichte. Aber irgendwie scheint uns das in der Kirche bei uns auch nicht so wahnsinnig umzutreiben. Das Schicksal der Bedrohung und Verfolgung unserer eigenen Glaubensgeschwister scheint uns gar nicht so zu betreffen, so als wären es eben keine Geschwister, sondern eben schlicht Opfer von Gewalt, wie es unzählige auf der Welt gibt, um die ich mich ohne ja nicht alle kümmern kann. Die Tatsache, dass es Christen sind, Glaubensgeschwister, wollen wir nicht so gerne an uns heranlassen.

Sind Märtyrer ein Spiegel, in den wir nicht gern hinein sehen?

Kann es sein, dass das damit zu tun hat, dass hier einerseits Menschen ihren Glauben an Jesus mit der Konsequenz ihres Lebens zu bezahlen bereit sind. Aber wir selbst tun uns schon vielfach schwer darin, auch nur ein wenig konsequent zu sein – im Blick auf unser eigenes geistliches Leben?

Kann es sein, dass im Glauben so standhafte Menschen wie die verfolgten Christen ein Spiegel für uns sind, ein Spiegel für mich, in den ich aber gar nicht so gerne hineinsehen will, weil ich darin selbst nur einen Mangel an eigener Konsequenz entdecke?

Wirklicher Glaube wächst durch Beziehungspflege

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wirklicher Glaube ist nicht nur Romantik und schöne Gefühle am Weihnachtsabend, wirklicher Glaube hat ein Gegenüber, ein Du. Wirklicher Glaube sucht dieses Du, er sucht das Kind in der Krippe ebenso wie den Gekreuzigten und Auferstandenen und er lebt aus der Tiefe und Kraft dieser Beziehung und dieser Überzeugung.

Wirklicher Glaube weiß, dass ihm aus dem Jesuskind das Leben selbst geschenkt ist. Ein Leben, das auch durch ein Martyrium nicht mehr tot zu kriegen ist. Wirklicher Glaube wächst durch die Beziehungspflege, und er wächst  in der Kirche, auch durch Fragen und Zweifel hindurch, aber auch durch Beschäftigung und Auseinandersetzung und vor allem durch persönliches und gemeinschaftliches Gebet.

Geistlicher Stillstand bedeutet Rückschritt

Und ja, die großen geistlichen Lehrer wissen alle: Ein Glaube, der nicht gepflegt wird oder einfach nur stillsteht, der nimmt ab. Geistlicher Stillstand heißt immer Rückschritt. Und schwächer werdender Glaube überlässt die tiefen Bereiche seiner Seele dann den Kräften, die nur vermeintlich echten inneren Frieden schenken: dem Konsum, der Ablenkung, der Suche nach körperlichem Wohlergehen, nach äußerer Anerkennung, nach materieller Sicherheit und anderem mehr.

Alles das nährt den Leib oder auch unser Ego, aber es nährt nicht die Seele. Aber ein Glaube, der tiefer und fester wird, weiß um das Geheimnis der Freiheit, des Friedens und der Freude, die Christus schenkt. Und ein Mensch solchen Glaubens weiß, dass er das Wichtigste in der Welt verlieren würde, wenn er seinen Glauben verrät. Davon sprechen wir, liebe Schwestern und Brüder, wenn wir vom Hl. Märtyrer Stephanus an Weihnachten sprechen und von den vielen Märtyrern, für die wir heute auch beten.

Mut zum Bekenntnis ist gefragt

Liebe Schwestern und Brüder: Weihnachten ist das Fest der Liebe – einer göttlichen Liebe, die für uns arm wird, damit wir durch sie reich werden. Aber wie jede Hochzeit Konsequenzen hat, so fordert uns auch das Angebot dieser Liebe heraus, in einer Gesellschaft wie der unseren auch Bekenner zu werden: Menschen, die wirklich wissen, zu wem sie gehören – und die deshalb auch wissen, was sie in dieser Gesellschaft bejahen können und wo sie nicht mitgehen können.

Die Liebe des Herrn will aus uns Menschen machen, die zum Glauben stehen können auch dann, wenn es schwer wird. Wir beten zum Heiligen Stephanus und allen unseren Märtyrern des Glaubens: dass auch wir immer neu bewegt werden, neu zu denken und zu suchen, warum der Glaube so lebenswichtig und so lebensbereichernd ist. Hl. Stephanus, bitte für uns.


Das Bild zeigt den Hochaltar im Passauer Dom, der den Märtyrer darstellt: „Steinigung des Stephanus“ von Josef Henselmann