Foto: Pressestelle Bistum Passau

Von dem, was wirklich lebensnotwendig ist

Von dem, was wirklich lebensnotwendig ist. Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum 1. Weihnachtsfeiertag im Passauer Stephansdom 2017.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, liebe weihnachtliche Festversammlung,
an diesem festlichen Weihnachtsmorgen möchte ich Sie einladen zu einer kleinen, gedanklichen Reise in Ihr Inneres. Ich möchte Sie bitten, mit mir kurz nachzudenken über das, was wir Herz nennen oder auch die Mitte unserer Seele, oder den Personkern; also das, was mich im Innersten ausmacht. Da sind viele Regungen und Bewegungen in uns, schöne und gute, Sehnsüchte, Freudiges, gute Antriebe.

Aber in jedem von uns sind auch Abgründe, Regungen unter denen vielleicht sogar leiden: Ängste, schlechte Angewohnheiten, Begierden und Gefühlsausbrüche, negative Gedanken, die wir nicht im Griff haben. Das Herz des Menschen ist ein Abgrund, sagt die Hl. Schrift. Und wir sind oft Gefangene unserer selbst. Wir sagen, wir können nicht raus aus unserer eigenen Haut. Wir meinen damit aber eigentlich: Wir können uns nicht einfach von dem befreien, was uns im Innersten ausmacht – und zwar im Guten wie im Schlechten.

Lebensnotwendig? Welche Herzensregungen sind unverzichtbar?

Aber wenn wir uns nun miteinander fragen: Welche Regungen, welche Antriebe und Haltungen braucht es eigentlich unbedingt in uns, um sagen zu können: Es ist gut. Mein Leben ist sinnvoll, wertvoll – auch aus meiner eigenen Sicht. Was wäre unverzichtbar? Lebensnotwendig?

Ich würde folgendes Vorschlagen: die innere Erfahrung, geliebt zu sein und lieben zu können. Die Erfahrung im Herzen von Freundschaft, von Treue, von Geborgenheit. Die Fähigkeit, wirklich Freude zu empfinden. Die Fähigkeit, dankbar und zufrieden zu sein, die innere Erfahrung, wirklich Sinn gefunden zu haben – und sich einsetzen zu können für das, was wirklich Sinn macht.

Lebensnotwendig: Das Wichtigste kann man nur empfangen!

Ohne Liebe, ohne Freude, ohne Sinn, ohne Dankbarkeit und anderes mehr wird ein Leben traurig und leer. Wir können im Grunde nicht ohne das leben – oder zumindest nicht gut leben, nicht menschlich leben. Aber das Problem ist: All diese Dinge kann man im Grunde nicht machen, nicht herstellen und schon gar nicht kaufen. Man kann sie im Grunde nur empfangen, man kann sich davon beschenken lassen. Oder man findet sich darin ein. Ein tiefes Wort, dass der jüdische Philosoph Martin Buber einmal gesagt hat, lautet: „Der Mensch hat Gefühle, aber er steht in seiner Liebe“.

Wie meint Buber das? Nun Liebe ist etwas, in dem ich mich finde, erstaunt, dankbar, dass es so ist: dass ich lieben kann oder auch, dass ich wirklich geliebt werde. Aber zweitens entscheide ich mich dann auch dazu. Ich sage ja, zu dieser Liebe, die da ist. Liebe schenkt also nicht nur Gefühl, sondern Liebe erweckt die Fähigkeit, ein tiefes Ja zum anderen zu sagen und darin auch zu bleiben. Und zwar unabhängig davon, welches Gefühl ich gerade habe. Denn Gefühle sind launisch. Mal bin ich gut, mal schlecht drauf, mal ärgere ich mich über den anderen, mal hab’ ich Spaß mit ihm. Aber das innere Ja lebt aus der Liebe, aus der Tiefe des Herzens, aus einem Grund, der tiefer liegt als jedes Gefühl.

Je mehr wir selbst machen wollen, desto ärmer werden wir

Unser Problem ist nun, vor allem dann, wenn wir schon verletzt und enttäuscht worden sind, dann trauen wir dem tiefen Grund unseres Daseins nicht mehr. Wir wollen uns dann Liebe sichern, oder gar Liebe machen, wie wir sagen. Und wir wollen Freude und Geborgenheit kaufen, wir wollen Sinnerfahrung selbst kontrollieren. Wir wollen unser verletztes und vertrauensloses Ego anreichern und so die vermeintliche Tiefenerfahrung herstellen.

Aber sie stellt sich so nicht ein, ich kann sie nicht machen. Und so wird unser Herz, je mehr wir machen, kaufen, kontrollieren, besitzen wollen, ärmer und leerer. Wir sind tatsächlich Gefangene unserer selbst. Wir kommen nicht über uns hinaus. Ja, wir können uns nicht mehr einfach überlassen, nicht gelassen sein. Wir können uns so oft selbst nicht loslassen und auch nicht selbstvergessen einfach da sein wie ein Kind.

Woher kommt der Sinn? Ist er lebensnotwendig?

Könnten wir es, so bräuchten wir alles andere eben nicht. Denn wenn wir es könnten, würden wir spüren: Alles, was in der Welt Sinn macht, Liebe schenkt, Freude bewirkt, alles das ist schon da, in uns und um uns herum. Könnten wir uns einfach so der Welt öffnen wie ein Kind, voller Staunen, voller Vertrauen, wir würden so eine Frage niemals stellen, woher denn der Sinn und die Freude kommen.

Liebe Schwestern und Brüder, vielleicht konnte ich etwas klar machen von der Verfassung des Menschen, im Grunde jedes Menschen, vor allem von uns Erwachsenen: eine Art Gefangenschaft an der Oberfläche, die sich so schwertut, zum Grund des Daseins, zur Freude, zur Liebe durchzudringen. Ich weiß, ich müsste mich einfach verschenken können, dann würde in meinem Herzen der Geschmack einer Freiheit und Dankbarkeit aufleuchten, die ich nicht habe.

Und wenn ich nun fleißig alle religiösen Pflichten erfülle?

Aber nun: Wenn ich nun zum Beispiel beschlösse, religiös zu werden – mit so einem unfreien Herzen und mir deshalb ganz viele religiöse Pflichten auferlege, damit ich endlich ein offenes Herz bekomme, ein freies Herz, ein liebendes Herz. Ich mache das und das und das, ich gehe in die Kirche oder in den Tempel wie der Pharisäer im Evangelium, ich bete, ich gebe den Zehnten für die Armen. Und spreche dann wie der Pharisäer: „Schau doch, Gott, was ich alles tue – musst Du mir nicht die innere Freiheit schenken?“

Würde das wirklich helfen? Oder wäre es wieder so wie mit dem Kaufen und Verkaufen: Wir können uns die Freiheit zu lieben und zur tiefen inneren Freude auch nicht einfach durch Gebet und Almosen erleisten. Wir können sie nicht selbst machen. Wir bleiben auch dann noch oft Gefangene unseres inneren Zustandes. Das Gesetz des „du sollst“, das Gebot alleine macht es noch nicht. Das Volk Gottes, das jüdische Volk, hatte ja das Gesetz, hatte sogar den Bund am Sinai, aber irgendwie spüren wir mit Jesus im Evangelium: Die religiösen Menschen damals sind trotzdem noch unerlöst oder gefährdet, sich durch Leistung selbst erlösen zu wollen – aber es funktioniert nicht. Die religiöse Leistung allein erlöst uns nicht. Auch heute nicht, auch für uns nicht.

Lebensnotwendig: Wir gehen zu dem hin, der schon da ist!

Was erlöst dann dann, liebe Schwestern und Brüder? Meine tiefste Überzeugung ist: Wir treten hier ein in die Kirche. Und viele von uns glauben fest, dass Jesus hier schon da ist, dass er hier gleichsam wohnt. Er wohnt in den Menschen, die schon getauft sind, schon angefangen haben zu glauben, sich nach ihm zu sehnen. Und wir feiern dankbar, dass wir ihn nicht zuerst durch Leistung vom Himmel herunterbeten müssen, sondern dass er von sich aus schon gekommen ist. Zu Maria, zu Joseph, zu den Hirten, später zu den Aposteln und noch später zu so vielen Menschen, tausenden, Millionen.

Er ist schon da in seiner Kirche – und im Herzen derer, die ihn kennen. Und er will sich schenken, wieder und wieder. Und wir gehen vielleicht zögerlich, vielleicht schon vertrauend in diesen Raum, den schon andere mit ihrem Vertrauen ausfüllen und eröffnen. Wir lassen uns davon tragen – und gehen innerlich zur Krippe hin.

Maria legt uns das Kind ans Herz

Und nun dürfen Sie sich im Herzen vorstellen: Mitten unter all den Glaubenden hier, da steht auch Maria an der Krippe. Sie ist ja ein Urbild von Kirche, sie ist die Mutter der Gemeinschaft dieser Glaubenden. Maria ist die erste unter den Menschen, deren Herz dieser herunterkommende Gott erobert und gewonnen hat. Sie ist voller Freude, voller Offenheit, voller Reinheit in sich – und sie schaut Dich voll Hoffnung an und hält Dir das Baby hin und sagt: Nimm es, in deine Arme, drück dir den Jungen ans Herz.

Er ist auch für Dich Mensch geworden, er ist auch für Dich klein geworden, damit dein Herz wieder groß wird, großherzig wird. Liebe-voll wird. Voller Liebe, Freude, Sinn, Tiefe, Dank: Das Wort, der Logos heißt es griechisch, der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. So lesen wir heute im Evangelium. Logos kann man auch mit Sinn übersetzen. Der tiefste Sinn der Welt hat in einem Menschen Wohnung genommen.

Wer Christus hat, gewinnt alles und verliert nichts, was wichtig ist

Liebe Schwestern und Brüder, Weihnachten sagt uns also: Wir empfangen nicht nur Freude, Sinn, neue Liebesfähigkeit. Wir empfangen den Urheber von alledem. Wir empfangen den Sinn der Welt schlechthin. Die fleischgewordene Liebe, den einzigen, der in der Lage ist, unser krankes, verlorenes, ängstliches und vertrauensloses Ego wirklich zu heilen. Wir empfangen den, ohne den die Welt als Ganze letztlich sinnlos wäre.

Wir singen: „Welt ging verloren, Christ ward geboren, freue dich, o Christenheit“. Liebe Schwestern, liebe Brüder, die Erfahrung der Christen heißt: Wer sich Christus hat schenken lassen, ans Herz legen lassen – und wer im Vertrauen mit ihm fortan durchs Leben geht, mit ihm wächst, der verliert auf diesem Weg nichts, was wirklich wichtig wäre. Und er gewinnt alles, was das Leben tief macht und schön, sinnvoll und liebesvoll. Und dieses Geschenk, Er, ist letztlich das Einzige, das heute an diesem Festtag wirklich das Wichtigste ist – und er bleibt es von heute bis in alle Ewigkeit. Ich wünsche Ihnen allen dieses Geschenk wirklich von Herzen. Amen.