Glauben wir noch, was wir glauben?

Glauben wir noch, was wir glauben? Ein kritischer Blick von Bischof Stefan Oster auf das Papier „Geschaffen, erlöst und geliebt. Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule“ der Schulkommission der Deutschen Bischofskonferenz.

In den vergangenen Wochen sind zahlreiche Rückfragen und Stellungnahmen zum jüngst veröffentlichten Papier der Schulkommission der Deutschen Bischofskonferenz eingegangen. Das Dokument mit dem Titel „Geschaffen, erlöst und geliebt. Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule“, erschienen am 1. Oktober 2025, hat zudem eine breite innerkirchliche und öffentliche Diskussion ausgelöst. Angesichts dieser Debatte nimmt Bischof Stefan Oster zu dem Papier Stellung und bietet eine kritische Analyse der zentralen Aussagen und theologischen Implikationen:

 

Glauben wir noch, was wir glauben?

Ein kritischer Blick auf das Papier „Geschaffen, erlöst, geliebt“, das die Schulkommission der deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht hat. Es geht dabei, so der Untertitel, um „Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule“ – erschienen am 1. Oktober 2025.[1]

Über Realpräsenz

Zu Beginn des Synodalen Weges war ich eingeladen, im Frankfurter Dom ein Statement über meinen Glauben und meine Erwartungen an den Synodalen Weg abzugeben. Ich habe dabei erklärt, dass ich das, was wir theologisch „Realpräsenz“ nennen, für das alles entscheidende Thema in unserer Kirche halte. Wir verbinden mit diesem Wort insbesondere den Glauben an die echte, konkrete Gegenwart Jesu Christi in Leib und Seele, Gottheit und Menschheit in der Eucharistie. In der Eucharistie geschieht wahrhaftig Wandlung – und sie geschieht, damit wir als Gläubige uns wandeln und mit uns die Welt. In der Eucharistie werden wir Leib Christi, wir werden mit Paulus gesprochen „Tempel des Hl. Geistes“ (1 Kor 3,17), wir werden „neue Schöpfung“ (Gal 6,15), „Kinder Gottes … mitten in einer verdorbenen und verwirrten Generation“ (Phil 2,15). Jesus spricht im Johannesevangelium, dass es um eine Neugeburt (vgl. Joh 3,3) geht – als Voraussetzung dafür, das Reich Gottes schauen zu können. In moderner Terminologie gesprochen, können wir also davon sprechen, dass die christliche Grunderfahrung in eine neue Identität führt. Der Mensch, der in Christus ist, erkennt sich selbst, erkennt die anderen Menschen und erkennt Gott als Vater in neuer, tieferer, ungeahnter Weise. Er findet in ein anderes Selbstverhältnis, weil er nun mit und durch Jesus mit dem Vater versöhnt ist und sich als Familienmitglied, als Kind Gottes erfahren darf. Paulus mahnt also: „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ (Eph 4,24)

Neue Schöpfung

Das Neue Testament, wie auch die große christliche Tradition, sprechen immer schon davon, dass diese „Neugeburt“ aus Christus, der unsere Taufe sakramental zugrunde liegt, einen gläubigen Wachstumsprozess einleiten kann. Dieser führt zu einer je tieferen Integration des ganzen Menschen, zur größeren Freiheit, zur tieferen Eingründung in Christus/im Vater, zur beginnenden Heilserfahrung schon jetzt, zur größeren Liebesfähigkeit und anderem mehr. „Heil“ ist das Wort, das das Neue Testament neben anderen dafür bereithält und das in dieser Welt schon befähigt, nicht mehr „Sklave“ von triebhaften Antrieben oder äußeren Motivationen wie der Sucht nach Anerkennung, Macht oder Reichtum zu sein. Heil und Heiligung sind daher auch vom Begriff her nicht weit auseinander. Das II. Vatikanische Konzil spricht daher von der Berufung zur Heiligkeit alle Menschen[2] – durch Christus, durch seine reale Gegenwart, besonders in der Eucharistie. Und davon abgeleitet immer mehr erfahrbar und erkennbar auch in den übrigen Sakramenten, in Gottes Wort, in den anderen Menschen, in der Schöpfung insgesamt. „In allen Dingen“ will Ignatius von Loyola Gott suchen – aber das Herz, das Ihn schauen kann, setzt die eigene Reinigung, die „via purgativa“ voraus (vgl. Mt 5,8).

Tiefere Integration bedeutet also zugleich: mehr Ganzheit. Bei Thomas von Aquin lernen wir, dass die Liebe, die von Gott ins menschliche Leben einwirken darf, eine „vis unitiva et concretiva“ ist, eine Kraft also, die konkret macht, die zusammenwachsen lässt und eint (= con-crescere).[3] Und wenn das tatsächlich ein fundamentum in re hat, ließe sich ein solches Phänomen auch mit den moderneren Begriffen benennen wie „größere Authentizität“, aber eben auch „Identität“  als tragende, die Person neu konstituierende oder auch stabilisierende Phänomen, das tiefer in seinem Sein liegt als nur in seinen Eigenschaften. „Werde, wer du bist“ – haben die antiken Philosophen den Menschen deshalb aufgefordert und die Christen haben diesen Imperativ gerne aufgegriffen, aber ihm im Blick auf das Erlösungsgeschehen in Christus eine neue Deutung gegeben. Denn dem heidnischen, antiken Menschen war weit weniger bewusst als den Christen, dass es im Menschen eine Macht gibt, die ihn fortwährend nicht in die größere Integration, sondern in die tiefere Desintegration treibt, nämlich die Sünde. Paulus beschreibt dieses Phänomen in einem abgründigen Abschnitt des Römerbriefs als eine Macht, die in ihm bewirkt, dass er das tut, was er nicht will (vgl. Röm 7,14 ff)  – obwohl er es in seiner Vernunft anders einsieht. Der nur „natürliche“ Mensch ist nach Paulus „Fleisch“ bzw. „vom Fleisch bestimmt“, was im Wesentlichen bedeutet, dass er in den eigenen egozentrischen Bedürfnissen und Antrieben lebt, als ob es Gott nicht gäbe.

Die Sünde desintegriert den Menschen, treibt ihn innerlich auseinander. Christus integriert in neuer Identität. Und weil Christus ganz Mensch geworden ist, Geist in Leib geworden ist, vermag auch der von ihm erlöste Mensch auch in ein erneuertes Selbstverhältnis zu finden, dass das Verhältnis zum eigenen Leib, zum eigenen Fühlen, zum eigenen Wollen und Denken neu macht, neu zueinander integriert, also mehr ganz, mehr zu dem, was ein Mensch vor Gott ist und sein kann, nämlich heiler und heiliger. Ich will damit sagen, dass uns das biblisch-christliche Menschenbild zugleich ein spezifisch christliches Verständnis von „Identität“ gibt, von neuem Menschsein, vom erlösten Menschsein, vom Kind-Gottes-Sein.  Der gläubige Weg des Christen ist identisch mit dem Drama der Selbstwerdung in Gott, der gerade nicht von Anfang an schon gelungen ist, sondern vielmehr mit Hilfe der Gnade Gottes errungen werden will.

„Identität“ – was ist gemeint?

Der Begriff „Identität“ wird nun in dem oben genannten Text der Schulkommission beinahe inflationär verwendet – zumeist in den Zusammensetzungen „geschlechtliche Identität“ und „sexuelle Identität“. Dabei macht der Text schon in der Einleitung klar, dass „sexuelle Identität“ der Oberbegriff ist, der inhaltlich die beiden anderen Begriffspaare umfasst, nämlich „geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung“. Gleich zu Beginn legt der Text auch offen, woher er diese Begriffsbestimmungen nimmt, nämlich „analog zum deutschen Rechtssystem (vgl. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) als Sammelbegriff für sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität“[4]. Interessant ist dabei, dass die komplexen Sachverhalte, die mit den genannten Begriffspaaren gemeint sind, an keiner Stelle des Textes ausführlicher diskutiert oder gar problematisiert werden. Sie sind gesetzt und setzen damit ein Menschenbild der Vielfalt voraus, das fortwährend insinuiert, dass in jungen Menschen ihre sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten wie naturhaft zugrunde lägen – und dass es dann auch im Schulkontext vor allem darum gehe, diese zu entdecken und in gelingender Weise zur guten Entfaltung zu bringen. Von dem viel umfassenderen Verständnis von Identität aus christlicher Sicht: kein Wort. Auch in dem kurzen Abschnitt, in dem es ausdrücklich um den Religionslehrkräfte und ihren Unterricht geht, kein Wort dazu. Aber es wird umgekehrt im Geleitwort ausdrücklich Bezug auf den Synodalen Weg in Deutschland (S. 5), der sich in zwei Handlungstexten zu Fragen der Vielfalt sexueller Identität geäußert habe. Die Ironie dabei ist, dass das Forum IV des Synodalen Weges zum Thema „Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“, dessen Mitglied ich auch war, als einziges der vier Foren keinen gültigen Grundtext verabschieden konnte. Denn ursprünglich sollten die so genannten Handlungstexte auf den Einsichten eines Grundtextes aufbauen. Ein Grundtextentwurf dazu hatte die Absicht, die Grundlinien einer neuen katholischen Sexualethik aufzuzeigen, aber der Textvorschlag hatte nicht die nötige Mehrheit gefunden und war deshalb gescheitert. Jetzt aber legt man einen schulpädagogischen Text vor, der überaus selbstverständlich unter Bezugnahme auf den Synodalen Weg mit dem Begriff „sexuelle Identität“ hantiert, ohne diesen in irgendeiner Form zu diskutieren, geschweige denn zu problematisieren.

Die Schule als eine Art Geburtshelfer – für welche Geburt?

Demnach soll sich nun eine Schule so aufstellen, dass sie so etwas wie Geburtshelferin der Entdeckungsreise werden kann zu einer – wie es programmatisch heißt – „ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung“ (S.24ff). Die Ironie dabei ist, dass wir es immerhin mit einem Papier zu tun haben, das auf dem Titel „Die deutschen Bischöfe“ stehen hat – ohne dass unser christliches Verständnis von „ganzheitlichem“ Personsein und Personwerden in irgendeiner Form zur Sprache käme. Jugendliche sollen nach dem Duktus des Papiers in der Schule sensible Begleitung und positive Bestärkung finden können, in dem, was sie sind und sein wollen: „Eine Schule, die die Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung aller Schülerinnen und Schüler fördern will, kann die Situation von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans-, intergeschlechtlichen und non-binären Jugendlichen nicht ignorieren. …. Sie muss die Situation und Bedarfe dieser queeren Personen berücksichtigen“, heißt es auf Seite 9. Und auch wenn im Geleitwort zum Text vorher betont wurde, dass man „keine moraltheologische Analyse und Beurteilung der Vielfalt sexueller Identitäten“ leisten wolle, erhebt sich an dieser Stelle nun plötzlich doch eine massiver „moralische(r) Anspruch, der Teil eines umfassenden, vom Glauben inspirierten und darin orientieren (schul-)pädagogischen Ethos ist. Dieses gipfelt – wie das christliche Ethos insgesamt – in der Nächstenliebe als Ausdruck der Liebe Gottes zum Menschen und der Menschen zu Gott (Vgl. 1 Kor 13,13b).“ Zugleich nennt der Text eher beiläufig, dass es vom Lehramt her „erhebliche Vorbehalte“ gebe „in Bezug auf die Lebensführung vieler queerer Menschen“, sagt aber selbstverständlich sofort, dass diese „im Licht humanwissenschaftlicher wie theologisch-anthropologischer Erwägungen angefragt werden“ (S. 10). Deshalb auch habe ein Religionslehrer „die Sexualmoral der Kirche differenziert“ darzustellen und „das Kontroversitätsgebot“ zu befolgen – was bedeutet, dass die Lehre als „umstritten“ gelte und daher auch so dargestellt werden solle, „damit die Schülerinnen und Schüler sich ein eigenes begründetes Urteil bilden können“ (S. 38f.) Die Zielrichtung des Textes scheint mir damit klar vor Augen zu liegen: Insgeheim wird suggeriert, dass das eigentliche Ziel der jugendlichen Identitätsfindung schon in ihnen selbst vorliegt – und die pädagogische Begleitung eine Art sensiblen Geburtshelferdienst leisten soll. Daher werden die sehr wenigen Bemerkungen zur Lehre der Kirche in diesem Feld in einer Weise problematisiert, dass klar ist, dass sie im Grunde nicht für diesen Dienst taugen, sondern den Prozess der Identitätsfindung eher mit dem Verdacht belegen, diesen zu behindern, statt zu befördern.[5] Sie taugen eher dazu, Fremdbestimmung durch veraltete Moral zu fördern, statt Selbstbestimmung durch moderne Pädagogik zu erreichen.

Die Humanwissenschaften und ihre Perspektive

Das Problematische dabei ist, dass das Papier zwar einerseits nicht moraltheologisch argumentieren will (vgl. S. 5, „keine umfassende moraltheologische Analyse“), dann aber doch massiv theologisch daherkommt, und damit in jedem Fall indirekt deutlich macht, dass es lehramtliche Positionen für keineswegs hilfreich hält. Das erste Argument kommt schon mit der Überschrift des gesamten Textes: „Geschaffen, erlöst, geliebt“ heißt das ganze Papier. Nirgendwo wird dabei der Begriff „erlöst“ erläutert, sondern selbstverständlich vorausgesetzt: Im Grunde sind alle Menschen in all ihrer Diversität, so kann man das lesen und so zieht es sich auch durch den Text, je schon erlöst. Dieses Erlöst-sein bezieht sich deutlich auf das So-geschaffen-sein in aller Diversität, zugleich erklärt der Text: „die Vielfalt sexueller Identitäten ist ein Faktum“ (S. 5). Von der Aufgabe menschlicher Selbstwerdung in Christus und durch Christus ist an keiner Stelle die Rede. Dafür werden umso deutlicher humanwissenschaftliche Erkenntnisse betont, ohne zu spezifisch zu sagen, welche das wären. Das Problem dabei ist: Humanwissenschaften nehmen den Menschen in ihrer konkreten Vorfindlichkeit wahr – und haben qua Methode keinen Zugang zum genuin christlichen Menschenbild mit seinen Voraussetzungen von Glaube, Gottesbeziehung, Erlösungsbedürftigkeit, Gnade, Sünde, Heil und der Aufgabe und Einladung, Christus ähnlicher zu werden. Daher wird zwar im Text dennoch der „Primat der Liebe Gottes“ stark betont (S.11), aber zugleich wird er von dem abgelöst, was als Wahrheit und Lehre über den Menschen tradiert ist. Mit diesem Kniff kann dieser „Primat der Liebe Gottes“ dann unterschiedslos über alles an „Vielfalt“ ausgegossen werden, was sich so zeigt. Gemeint ist selbstverständlich die Vielfalt in der Diversität der sexuellen Identitäten. Diese müssen – eben, weil Gott sie so liebt und mutmaßlich so geschaffen hat (siehe Titel) – eben auch anerkannt werden. Der Mensch in seiner Vorfindlichkeit ist das Maß der Dinge. Die Deutung der Offenbarung hat sich offensichtlich danach zu richten, was sich als angebliches „Faktum“ neu zeigt.

Der Trick mit der Vorverlegung von Gottes Schöpferwillen

Aber dass die geschaffene Welt und in ihr vor allem jeder Mensch keineswegs schon erlöst, sondern als ganzer Mensch dringend erlösungsbedürftig ist – wird mit keinem Wort erwähnt. Denn eine Problematisierung von „Erlösung“ würde ja den Grundansatz: „Ich bin, wie Gott mich schuf“ zunichte machen. Es braucht also in der Begründung die unausgesprochene Zurückverlegung aller queeren und sexuellen Identitäten schon in den Schöpfungswillen Gottes. Eine solche Rückverlegung erreicht damit auch die Eliminierung kritischer Anfragen, die aber tatsächlich aus der Offenbarung kommen. Wenn es die Erlösung durch Christus nicht mehr braucht, weil der Mensch ja schon kraft Schöpfung in jeder Art seines Soseins schon in Ordnung ist, dann hätte es das Drama des Kreuzes auch nicht gebraucht. Und wenn das Drama des Kreuzes so interpretiert wird, dass sich darin schon die Erlösung aller wie in einer Art Automatismus auf jeden Menschen in seinem vielfältigen So-sein erstreckt, dann hätte auch das mit dem Evangelium wenig zu tun. Der Mensch, ausnahmslos jeder Mensch, ist – nicht nur aber auch – ein gebrochenes, desintegriertes Wesen. Jeder Mensch braucht daher die Begegnung mit Christus für sein Heil, für sein Mehr-ganz-werden. Christus ist der Erlöser aller Menschen. Der vorliegende Text der Schulkommission aber scheint davon auszugehen: Jede Diversität im Blick auf sexuelle Orientierung und sexuelle Identität ist schon gottgewollt, weil: „geschaffen, erlöst und geliebt“ (=Gesamtüberschrift). Daher suggeriert er mit nahezu jeder Zeile: „Ja nicht zuviel Sexualmoral, schon gar nicht der Anspruch auf Wahrheit“ – dafür eine Überdosis eines gefühlsbeladenen Superdogmas: „Gott hat alle genau so lieb, wie sie sind“. Deshalb darf auch keiner in seiner Diversität kritisch angefragt werden, das wäre ja schon Diskriminierung. Tatsächlich aber gilt auch hier wieder christlich für ausnahmslos jeden Menschen: „Ja, Gott liebt Dich wie Du bist – aber er will nicht, dass Du bleibst, wie Du bist. Er will, dass Du durch Seine Gnade Christus ähnlicher wirst.“ Auf die Idee freilich, dass die Botschaft des Glaubens in ihrer existenziellen Tiefe wirklich ein lebensveränderndes Heilsangebot sein kann, kommt in diesem Text niemand mehr. Glauben wir also noch, was wir glauben?

Paradoxerweise soll das „Genau so von Gott gewollt und geliebt“ auch für transidente Menschen gelten, die sich Angleichung ihrer leiblichen Geschlechtsmerkmale an das neue Geschlecht wünschen. Aber wenn Gott den Menschen so gewollt hätte, wie er sich fühlt – nämlich im falschen Körper – bezieht sich dann das Wollen Gottes nur auf die innere Selbstidentifikation, im verkehrten Körper zu sein? Ist also auch der hier hochproblematische Begriff von „Identität“ in allererster Linie identisch mit dem, wozu ich mich selbst bestimme – und bestimmen kann? Würde dann der göttliche Schöpfungswille nur diese innere Selbstwahrnehmung meinen, aber nicht den Leib, den er zwar auch geschaffen hat, aber womöglich nur zufällig oder gar fehlerhaft wie verfügbares Leibmaterial hinzugefügt hat, weil er nicht ganz so wichtig ist? Wenn das die Logik wäre, würde sich auch ein solcher Gedanke nicht in die gläubige katholische Tradition einfügen, denn menschliches Person-sein bedeutet in dieser großen Tradition hier immer die Einheit von Leib und Seele, die das Sein des ganzen Menschen ausmacht. Vielmehr wäre eine solche Deutung längst auf dem Pfad der Gnosis, dem die Kirche aber seit zweitausend Jahren widerspricht.

Keine Problematisierung der Transidentität

Was auch noch erschreckend ist: Gerade das Feld der Transidentität wird als ein selbstverständlich unter jungen Menschen auftauchendes Phänomen benannt, als eine unter vielen möglichen Weisen seine Identität zu entdecken. Soweit ich sehe, wird es an keiner Stelle problematisiert, vielmehr scheint der Text durchgehend einen affirmativen Grundton im Blick auf Trans-Jugendliche anzuschlagen, um eben das Ziel einer gesunden Identitätsfindung im Werden einer Persönlichkeit zu erreichen – in diesem Fall einer Transpersönlichkeit. Dabei ist in jüngerer Zeit gerade dieses Phänomen vielfach aufgegriffen und in Medien, politischen Auseinandersetzungen im In- und Ausland, in populärer Literatur, in Fachliteratur und in zahllosen Netzforen massiv problematisiert worden. Es gibt im Text beispielsweise keine Warnung davor, zu schnell die Entwicklung hin zu einer jugendlichen Transidentität affirmativ zu unterstützen. Und das, obwohl sich in einigen anderen Ländern um uns der Wind längst gedreht hat – und geschlechtsangleichende Operationen oder Hormontherapien bei Jugendlichen angesichts der Folgeprobleme wieder massiv eingeschränkt oder verboten worden sind, z.B. in Großbritannien, Norwegen, Finnland, Schweden, Dänemark. Dies sind aber besonders jene Länder, die in diesem Feld zunächst progressiv vorangegangen waren. Sollte also mit diesem „Bischofspapier“ beabsichtigt worden sein, auf der Höhe der Zeit im gesellschaftspolitischen Diskurs zu sein, dann ist der Text vor allem in diesem Punkt bereits deutlich veraltet. Leider ist aber gerade das ein Punkt, eine Thematik, bei der vulnerable Jugendliche besonders schutzbedürftig wären und besonders sensibler Begleitung bedürften.

Waren oder sind wir gut im Umgang mit der Thematik bei Jugendlichen? Nein!

Dann noch einige persönliche Anmerkungen: In einer ersten Lektüre des ersten Textenwurfs konnte und wollte ich in einer Hermeneutik des Wohlwollens das ehrliche Bemühen erkennen, jungen Menschen auf dem gerade heute so herausfordernden Weg der Suche nach ihrem eigenen Selbststand behilflich zu sein. Hier verdient jeder Schüler, jede Schülerin tatsächlich sensible, aufmerksame Begleitung. Und er verdient, dass die Schule sich bemüht ein Ort zu sein, an dem auch seine Fragen, Sehnsüchte und Probleme zur Sprache kommen können, in einer Atmosphäre des grundsätzlichen Wohlwollens und Respekts vor ausnahmslos jedem Menschen. Und wenn wir uns als Menschen der Kirche ehrlich fragen, ob wir in früheren Zeiten gut darin waren, uns selbst solchen Fragen zu stellen oder ob wir gut darin waren, Menschen zu begleiten, die außerhalb dessen leben, was wir als das „Richtige“ erkannt zu haben meinen, dann müssen wir ehrlich sagen: Wir haben oft genug genau darin versagt. Das heißt, in unserer theologischen und pädagogischen Kompetenz, in der es auch um sexualethische Fragen bei Jugendlichen geht, haben wir tatsächlich intensiven Nachholbedarf. Wie auch in der Frage: Wie sind wir grundsätzlich und in einem guten Sinn mit allen Menschen gemeinsam Kirche, auch dann, wenn Menschen sich für einen anderen Lebensstil entscheiden, als ihn der Glaube und seine Moral vorschlagen?

 

Der Nachholbedarf in diesen Feldern kann aber nicht darin bestehen, dass wir auf unsere eigenen, sehr grundsätzlichen Positionen zum Menschenbild verzichten. Vielmehr sind wir im Glauben herausgefordert, das uns eigene so einzubringen, dass es ein ehrliches Angebot sein kann, Menschen in eine tiefere Freiheit, Sinnerfüllung, Liebesfähigkeit und Ganzheit zu führen. Und zwar als ein Angebot, das von der Tiefe und Schönheit seines Gehalts nirgendwo sonst auf der Welt zu bekommen wäre. Im vorliegenden Text scheinen wir junge Menschen genau von diesem Angebot ausdrücklich verschonen zu wollen.

„Mit Christus kommt immer wieder die Freude“

Selbstverständlich wird ein solcher Weg in die größere Ganzheit mit Christus in dieser Weltzeit nie zu einer Vollendung kommen. Zu sehr spüren wir allein durch die Sterblichkeit unseres biologischen Lebens bleibende Kräfte der Desintegration. Aber Paulus spricht auch davon, dass wenn auch der äußere Mensch aufgerieben wird – sich der innere Mensch dennoch Tag für Tag erneuert (vgl. 2 Kor 4,16). Es ist also möglich, gerade auch unter den Bedingungen der Sterblichkeit und des Kreuztragens immer noch ein reiferer, heilerer Mensch in diesem Sinn zu werden. Und angesichts unserer biologischen Sterblichkeit und Schwäche bin ich auch nicht so naiv zu glauben, dass das Hineinfinden eines Menschen in ein gläubiges Leben sogleich alle Fragen seiner Identitätssuche oder sexuellen Orientierung beantworten würde. Aber was ich aus Erfahrung mit vielen Menschen sagen kann: In mehr inneren Frieden und in tiefere Integration in der eigenen Selbstwerdung kann und wird ein Leben mit Christus immer führen. Oder wie Papst Franziskus es sagte: „Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder -die Freude.“ (Evangelii Gaudium, 1)

Im Grunde dreht der vorliegende Text – unter dem Schein des Glaubens oder des „christlichen Ethos“ diese Perspektive genau um. Er verwendet innerweltlich aufgefundene menschliche Zustände, lädt sie normativ auf – als von Gott geliebte und gewollte Vielfalt, die zugleich „Identitäten“ sind – und versucht dann die Glaubensperspektive so weit wie möglich draußen zu halten – vor allem, wenn sie mit einem vermeintlich veralteten Wahrheitsanspruch daherkommt. Oder er verkürzt die Glaubensperspektive derart, dass sie in ein neues, vor allem ideologisch geprägtes Menschenbild hineinpasst: Menschwerdung heißt dann, die eigene queere Identität finden und die Offenbarung so deuten dürfen, dass sie mich darin vor allem bestätigt.

Eine genuin christliche Deutung der Phänomene würde aber genau andersherum argumentieren: Die Offenbarung erzählt uns vom gelingenden Menschsein und der Neuwerdung des Menschen in Christus – und wir fragen uns, welche Antwort auf die heutigen Fragen der Selbstwerdung des Menschen daraus gegeben werden können. Hieße das dann aber, dass wir von der Welt und den Menschen in ihrem Sosein und von den Humanwissenschaften nichts mehr lernen könnten? Nein, keineswegs. Denn die Probleme sind groß und tief – und jedes tiefe Problem, das wir ins ehrliche Gespräch mit dem Glauben bringen, ist geeignet, uns auch den Glauben und uns selbst tiefer verstehen zu lassen.

Außerdem: Nach einer ersten Lektüre des Textentwurfs hatte ich versucht, als einen ergänzenden Modus die Position zum Thema „christliche Identität“ einzubringen, die ich oben in den ersten drei Abschnitten entfaltet habe. Die Antwort war im Wesentlichen ablehnend. Ich habe dann noch einmal mit Nachdruck eingebracht, dass wir doch nicht einfach das preisgeben dürften, was uns in solch wesentlichen Fragen das Wichtigste sei. Das Ergebnis dieses Nachfassens war, dass nun im Geleitwort zum Text (und nicht im Text selbst) ein paar Zeilen über die „Freundschaft mit Christus“ stehen, die dort aber wiederum anders ausgelegt werden, als ich sie versucht hatte im Blick auf die Grundproblematik darzustellen.

Der Hintergrund: Das grundsätzliche Ringen um die Anthropologie

Dieses Hin und Her und der ganze Text machen final ein gewaltiges Hintergrundproblem deutlich, das nach meiner Ansicht auch das Grundproblem in der Auseinandersetzung um die Themen des Synodalen Weges ist – auch unter uns Bischöfen. Ich bin der Überzeugung, dass wir vor allem im Westen in einer Zeit leben, in der sich die entscheidenden Debatten und Auseinandersetzungen um die Anthropologie, um die Lehre vom Menschen, drehen. Für uns als Katholische Kirche geht es dabei um das Verständnis des Menschen als einem sakramentalen Wesen, das heißt als eine endliche Wirklichkeit, in der und durch die sich der unendliche Gott als real präsent offenbaren kann. Im Grunde kann man in einem abgeleiteten Sinn des Begriffes „Sakrament“ sagen: Die Berufung des Menschen ist es, Sakrament zu sein und immer mehr zu werden. Sexualethische Fragen und Fragen der Identität gehören mitten in diese umkämpfte Debatte hinein, weil sie so grundlegend unser Selbstverständnis, unser Leibverständnis und unsere Weltauffassung berühren. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass es in dieser Debatte auch prinzipielle Grenzen gibt, die nicht einfach graduell verschiebbar sind. Die weite Mehrheit – auch in der Kirche in unserem Land – denkt diese Fragen dagegen wohl eher in einem Entwicklungsparadigma. Das heißt, bei den meisten herrscht etwa folgende Überzeugung vor: „Irgendwann wird es auch in der Katholischen Kirche so weit sein, dass z.B. Frauen die Priesterweihe empfangen oder Paare außerhalb einer Ehe von Mann und Frau auch liturgisch gesegnet werden können. Noch sind wir eben noch nicht so weit.“ Irgendwann, so folgern die meisten dann auch, würden diese Grenzen ohnehin überschritten – und genau deshalb könne man diese Überschreitung auch jetzt schon für wahr halten und als Wahrheit ausgeben.

Ich halte diese Grenzen dagegen für prinzipiell gegeben[6] und nicht für graduell allmählich verschiebbar. Ihre Überschreitung würde nach meiner Überzeugung am Ende zu einer anderen Kirche führen. Denn eine andere Lehre vom Menschen führt zu einer anderen Lehre von der Offenbarung, von den Sakramenten, von der Erlösung – und damit notwendig zu einer anderen Lehre von der Kirche und ihrer Existenz – im letzten sogar zu einem anderen Verständnis vom dreifaltigen Gott. Papst Franziskus hatte mehrmals in Richtung von uns Deutschen im Blick auf den Synodalen Weg etwas lapidar gewarnt: „Es gibt schon eine evangelische Kirche in Deutschland, es braucht nicht noch eine“. Weil uns als Glaubensgemeinschaften gerade das Verständnis von Sakramentalität im Kern unterscheidet, hat Franziskus hier einen wichtigen Punkt gesehen: Die Auffassung von Mensch und Kirche als Sakrament steht in dieser Debatte zur Disposition. Und der hier verhandelte Text der Schulkommission der Bischofskonferenz ist in der vorliegenden Fassung auf dem besten Weg zu einem entsakramentalisierten Verständnis des Menschen.

Daher möchte ich zunächst die dem Text spürbar zugrunde liegende Sorge um die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen und auch von Menschen, die sich als queer identifizieren, in der Schule ausdrücklich bejahen und würdigen. Aber von seinen inhaltlichen Voraussetzungen und seinem theologischen, philosophischen, pädagogischen und entwicklungspsychologischen Gehalt möchte ich mich aller Form distanzieren. Wenn auch auf dem Umschlag der Broschüre steht: „Die deutschen Bischöfe“, dann spricht der Text trotzdem nicht in meinem Namen.

 

Bischof Stefan Oster SDB

Passau


[1] Die deutschen Bischöfe. Kommission für Erziehung und Schule, Nr. 58. Geschaffen, erlöst und geliebt. Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule. Bonn, 1. Oktober 2025. Einsehbar und zum Download hier: https://www.dbk-shop.de/media/files_public/166bf6581adb9d49f8f6460292162a6f/DBK_1258.pdf

[2] II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“, 11

[3] In De Div Nom 4, 12: „intelligimus per nomen amoris quamdam virtutem unitivam et concretivam“.

[4] Vgl. ebd. S. 8, Fußnote 3

[5] Die jüngsten lehramtlichen Äußerungen zum Thema: Vgl. https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20240402_dignitas-infinita_ge.html, hier besonders Abschnitte 55-60.

[6] Warum ich sie für prinzipiell halte, habe ich an anderen Stellen z.T. ausführlich dargestellt, etwa hier

https://stefan-oster.de/der-synodale-weg-v-die-absichtslose-liebe-und-die-frage-nach-dem-priestertum-der-frau/ oder hier: https://stefan-oster.de/der-synodale-weg-iv-die-absichtslose-liebe-und-unsere-sexualitaet/