Bild: Pressestelle Bistum Passau

Jerusalem und der vierfache Schriftsinn

Das biblische Jerusalem kann auf vierfache Weise gedeutet werden. Die Predigt von Bischof Stefan Oster zum Palmsonntag 2015 im Passauer Stephansdom.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
wenn in der Alten Kirche und im Mittelalter diskutiert worden ist, wie man eigentlich in der Bibel lesen soll, dann war eine Antwort: Es gibt einen vierfachen Schriftsinn. Eine einzelne Bibelstelle hat im Idealfall in sich selbst vier verschiedene, aber doch aufeinander bezogene Sinngehalte. Man hat gesehen, dass es einfach den wörtlichen Sinn gibt, das, was buchstäblich da steht und wie es ein normaler Mensch versteht, der alle Sinne beinander hat. Der zweite Sinn hieß der allegorische. Da ging es um den Glauben. Was sagt die Stelle für meinen Glauben. Man dachte in Typologien. Ich werde gleich noch ein Beispiel dafür geben. Dann der dritte Sinn, das war der moralische Sinn, da ging es um die Frage nach dem Tun, nach der Liebe. Und schließlich der vierte Sinn, der drehte sich um die Zukunft: Was darf ich hoffen? Was wird kommen?

Warum erkläre ich Ihnen das heute am Palmsonntag? Weil das Lieblingsbeispiel für die Schriftgelehrten von damals immer Jerusalem war. Mit der Hilfe von Jerusalem haben sie ihre Weise erklärt, die Bibel zu lesen. Und heute feiern wir den Einzug Jesu in Jerusalem. Und auch wir vergegenwärtigen diesen Einzug in Prozessionen, um uns der Tiefe der Bedeutung des Geschehens gewissermaßen mit allen Sinnen und in mehreren Sinnschichten bewusst zu werden.

Jerusalem und der vierfache Schriftsinn

Aber warum ist Jerusalem ein Paradebeispiel für den vierfachen Sinn der Bibel? Nun, da gibt es einmal einfach wörtlich die konkrete Stadt in Israel. Sie ist gemeint, wenn von ihr die Rede ist, buchstäblich. Die Stadt, die es heute noch gibt, in diese Stadt ist Jesus damals eingezogen. Der zweite Sinn, den ein gläubiger Christ in dieser Stelle gelesen hat, ist der des Glaubens: Der Christ sieht in Jerusalem ein Bild für die Kirche. Die Kirche ist das neue Jerusalem, der Ort, die Gemeinschaft, in die hinein Christus die Seinen sammelt. Wir sind hier und heute als Gemeinschaft in ein Haus aus Stein eingezogen, in eine Kirche, in ein Sinnbild für das neue Jerusalem, das wir alle zusammen sind.

Der dritte Sinn ist der Sinn, in dem es um die Frage nach der Bedeutung für mich persönlich geht. Die Frage nach der Liebe. Die Kirchenväter haben gesagt: Im Grunde ist die Seele jedes einzelnen Menschen ein Bild für Jerusalem oder auch für die Kirche. Paulus mahnt und fragt uns: „Ihr seid Tempel Gottes. Jeder einzelne. Wisst Ihr das nicht?“ Darf Christus in unserer Seele wirklich einziehen, darf er in ihr wohnen? Ist meine Seele schon mit ihm vertraut? Ahne ich, dass er anfangen wird, in meiner Seele aufzuräumen, gleichsam sauber zu machen, wenn ich ihn wirklich einlasse? Hat er vielleicht schon längst angefangen, in mir aufzuräumen?

Christus gibt sich selbst

Aber, keine Bange, Schwestern und Brüder, Christus räumt in der Seele nicht so auf, dass er uns einfach etwas wegnimmt. Er räumt so auf, dass er sich selbst gibt und immer mehr geben will. Er will uns mit seiner Freude und mit seinem Leben erfüllen. Aber in uns gibt es die zwei Seiten, auf die Christus auch in Jerusalem treffen wird: Heute das „Hosianna!“ – gegen Ende dieser Woche schon das „Kreuzige ihn“. Das geht schnell und es geht auch – um ehrlich zu sein – manchmal in unserer eigenen Seele schnell. Wir alle kennen in uns Verhaltensmuster, schlechte Angewohnheiten, schlechte Rede und Gedanken, die sind mit Christus nicht vereinbar. Und wenn ich mich innerlich auf diese Seite schlage, dann geht es innerlich auch ganz schnell, dass ich sage: „Weg mit Dir, Jesus, aus meinem Gedanken und Herzen. Ich will mit Dir gerade gar nichts zu tun haben!“

Und weil wir hier immer neu zu kämpfen haben, schenkt uns die Kirche eben immer neu die Angebote, die uns helfen, Ihm den inneren Weg wieder neu zu bereiten. Der Gottesdienst, das persönliche Gebet, der selbstlose Dienst am Anderen, die Gemeinschaft derer, die ihn schon tiefer kennen, sein Wort der Schrift und anderes mehr. Unsere Seele ist nicht immer schon so sehr heiliger Tempel, dass sie nicht immer neu der Reinigung bedürfte. Schwestern und Brüder, das Sakrament der Versöhnung ist eine wunderbare Übung, den Herrn neu zu bitten, in uns einzukehren. Vielleicht können Sie das ja in dieser Woche auf Ostern hin noch einmal wahrnehmen. Zum Beispiel bei den zahlreichen Beichtzeiten hier im Dom.

Jerusalem: Worauf darf ich hoffen?

Schließlich der vierte Sinn, Schwestern und Brüder, der vierte Schriftsinn bezieht sich auf die Frage: Worauf darf ich eigentlich hoffen? Und die Antwort von Jerusalem her gedacht, lautet: Du darfst auf das himmlische Jerusalem hoffen. Diese Welt, auch diese Kirche ist nur ein Vorschein davon. Und – sagen wir es ehrlich – oft auch nicht ein allzu glänzender. Allzu viele Flecken und Runzeln hat die alte Mutter Kirche in ihrer äußeren Gestalt, um uns schon wie das himmlische Jerusalem zu erscheinen.

Aber da geht es ihr ähnlich wie unserer eigenen Seele. Da gibt es eben auch diese Flecken und Runzeln und die allermeisten von uns sind doch noch weiter davon entfernt, ein wirklich angemessener innerer Wohnort für den Herrn zu sein. Unsere Erfahrung unterwegs durchs Kirchenjahr, immer neu auch auf die Osterzeit zu, auf die Auferstehung, diese Erfahrung ist immer neu Einübung. Einübung in das Leben mit Jesus, Einübung darin, ihm dem König eine Wohnung in uns und unter uns zu bereiten. Damit Ostern werde, damit Licht werde in unserer Seele, damit ewiges Leben Einzug halten kann und unsere Seele und unsere Gemeinschaft der Kirche von allen Ängsten, von aller Verzagtheit befreit werden kann. Damit wir alle miteinander voll Freude ein Hosianna unserem König singen können. Amen.