Das Gewissen und die Freiheit im Geist

Knechtschaft durch das Gewissen oder Freiheit im Geist – eine Pfingstbetrachtung von Bischof Stefan Oster im Jahr 2016.

In unserem Bild vom Menschen gibt es etwas, was viele Religionen aber auch andere weltanschauliche Überzeugungen teilen: Wir glauben, dass jeder Mensch ein Gewissen hat. Und deshalb verbindet auch fast jeder etwas mit diesem Wort. Aber wenn wir fragen, was das genau ist, dann kommen wir leicht ins Schleudern.

Was ist das Gewissen?

Es ist nicht leicht herauszufinden, was es ist und was es sagt, das Gewissen. Aber wir sind immerhin gewiss, dass jeder Mensch, der sich wirklich um ein Leben bemüht, das wahrhaftig und gerecht ist, sich auch am Spruch seines Gewissens orientiert.

Und so ein Mensch wird im Gehen des Weges der Wahrhaftigkeit mehr und mehr merken: „Mein Gewissen ist nicht identisch mit meinem Ich. Ich merke vielmehr, ich stehe unter einem Gesetz, das mir befiehlt. Und das bin ich nicht selbst. Es gibt etwas in mir, das in bestimmten Situationen weiß: Jetzt musst Du so oder so handeln. Es geht im Grunde nicht anders.“

Das Gewissen kann loben und tadeln

Je genauer wir nun hinsehen, merken wir, dass das Gewissen auch loben kann und tadeln kann, es kann drohen: „Wenn Du das und das tust, hat das diese Konsequenzen.“ Es kann auch verheißen: „Wenn Du so handelst, dann bleibst Du Dir wirklich treu.“ Und wir merken, je genauer wir danach zu leben versuchen, desto weniger Einfluss oder Gewalt haben wir tatsächlich über unser Gewissen.

Wir können es ignorieren, wir können es verdunkeln, zum Beispiel indem wir uns bestimmte Bereiche reservieren, in den wir den Gewissensspruch nicht hineinlassen. Wir können in manchen Bereichen unserer Gier folgen, unserem Stolz, unserer Eifersucht, aber das Gewissen bleibt da und sagt: „Es ist nicht recht.“

Je feiner das Gewissen, desto deutlicher der Befehlston

Und nun gibt es noch einen weiteren, schwierigen Aspekt bei der Frage nach dem Gewissen: Je mehr ein Mensch lernt, seinem Gewissen zu folgen, es zu verfeinern, es besser zu verstehen, desto mehr wird er nicht einfach zu sich sagen können: „Bin ich großartig, ich folge immer meinem Gewissen.“ Nein, er macht vielmehr die Erfahrung, dass das Gewissen strenger wird. Er hört es mit mehr Autorität. Der Befehlston wird klarer.

Er merkt: Es gibt in mir ein Gesetz, dem ich immer besser folgen sollte. Und das Dilemma ist, er merkt gleichzeitig: „Ich kann gar nicht allem folgen, was mein Gewissen mir sagt!“ Denken wir etwa an Uli Hoeneß, der von vielen Leuten vor dem öffentlichen Skandal als großer Wohltäter gepriesen worden war. Wenn er das tatsächlich ist, dann bin ich sicher, dass er in dem Bereich, in dem er sich verfehlt hat, trotzdem sein Gewissen gehört hat, aber die Gier war irgendwie größer und hat ihn offenbar übermannt.

Man kann sich nicht selbst zu einem besseren Menschen machen

Mein Gewissen lässt mich also erkennen: In mir bleiben Stolz, Eigensinn, ungeordnete Leidenschaften, Gier, Lästereien, Eifersucht und vieles mehr. Ich bring das nicht einfach los, obwohl mein Gewissen etwas anderes sagt. Ich kann mich nicht einfach selbst zu einem besseren Menschen machen. Wir erkennen folglich, dass wir im Grunde wirklich ein Problem mit unserem Gewissen haben.

Je mehr wir ihm zu folgen versuchen, desto mehr machen wir auch die Erfahrung, dass wir scheitern. Das heißt, es gibt ein Gesetz in mir, das von meinem Ich unabhängig ist, das mich einlädt, wahr und gut zu sein, in allen Bereichen meines Lebens. Und dieses Gesetz ist gleichzeitig mein Richter, der den Daumen über mich senken lässt. Es gibt Bereiche in meinem Leben, da kann ich es nicht, soviel ich vielleicht auch will. Das Gewissen ist ein Spruch an mich, der meine Kräfte übersteigt.

Gefangener – vom Fleisch bestimmt

Aber wenn das nun stimmt, dann bleibe ich auch ein Gefangener, ich bleibe in den Worten des Apostels Paulus vom Fleisch bestimmt, also von all den Seiten in mir, die sich eigenmächtig behaupten wollen. Und zwar in zwei Richtungen: Mal meinen wir, wir können stolz auf uns sein, weil wir aus uns selbst so gut sind.

Aber wenn es mir nicht gelingt, dem Gewissen zu folgen, dann tendiere ich dahin, von ihm gar nichts wissen zu wollen. Ich neige dann dazu, es zu verdunkeln, es auszublenden. Und selbst dann, wenn es mir gelingt, meinem Gewissen zu folgen, bin ich noch längst nicht an dem Punkt, jemandem danke zu sagen. Das Gewissen fühlt sich nämlich zunächst einmal an, wie ein abstraktes Gesetz, wie der Spruch einer Autorität. Und nicht wie die Stimme eines liebenden Vaters.

Der Geist Gottes befreit

Damit sind wir bei der Frage, was diese Vorrede über das Gewissen in einer Abhandlung über Pfingsten zu suchen hat: Ich bin überzeugt, dass der Geist Gottes eine Erfahrung schenkt, die im tiefsten Sinne befreit. Paulus spricht im Römerbrief (8,15) davon, dass wir von jetzt an nicht mehr Sklaven sind, nicht mehr Gefangene des Fleisches, und eben auch nicht mehr unter der Knechtschaft eines nur abstrakten Gewissensspruches stehen.

Wir sind jetzt ins Haus eingeladen, und wohnen nicht mehr in der Sklavenhütte, wir sind Kinder unseres Abbas, unseres lieben Vaters. Wir glauben, dass es einen Geist gibt, der uns versöhnt mit Gott, der unsere Widersprüche hilft zu lösen, der uns befähigt, im besten Sinn des Wortes ein liebender, ein guter, ein herzensreiner Mensch zu werden.

Die Stimme des liebenden Vaters

Das bloße Gewissen lehrt uns zwar Wahrheit, aber zugleich lehrt es letztlich das Scheitern. Aber der Geist lehrt uns: „In all Deinem Scheitern will ein Mann in dein Herz hineinkommen, der für dich gestorben und auferstanden ist, der dein Leben von innen her heil machen will. Der tausendmal mehr ist als ein abstrakter Gewissensspruch, der jede Forderung des Gewissens für dich schon erfüllt hat. Es ist ein Mann, der dich erlöst, der dich liebt, der dich heimführt in das Haus des Vaters.“

Und dieses Geschenk des Geistes ist eine neue Qualität. Der Geist ist die Kraft in uns, die uns hilft, Jesus zu erkennen, zu lieben, ihn in unser Herz zu lassen und immer neu aus ihm die Vergebung der Sünden zu empfangen. Es ist sehr häufig so in der Schrift: Wenn in der Kirche das Herabkommen des Geistes geschildert wird, kehren die Leute um. Sie tun Buße, sie erkennen ihre Gefangenschaft und fragen: „Was müssen wir tun, um gerettet zu werden?“ Und die Antwort ist immer: „Geht zu Jesus. Lasst Euch taufen. Lernt ihn zu lieben, mit ihm zu leben, lasst euch ein auf die Freundschaft mit ihm.“

Aus Gott heraus will ich leben

Alles andere, sagt uns Paulus im Römerbrief, alles andere bleibt letztlich vom Fleisch bestimmt, also von der Seite in uns, die ohne Gott auskommen will. Warum? Weil nur der Geist mich selbst in bestimmter Hinsicht de-zentralisiert. Er hilft mir zu verstehen: „Je tiefer ich ins Vertrauen finde, desto mehr bin nicht mehr ich selbst der Mittelpunkt in meinem Leben, sondern du, Herr. Dir will ich alles übergeben, aus dir will ich leben.

Du hast jeden Spruch des Gewissens erfüllt und überboten, wenn ich dich lieben lerne, dann beginnt in mir das Vertrauen zu wachsen, dass Gott mehr ist als Gesetz, nämlich liebender Vater; dann will ich in deiner Nähe leben, aus deiner Kraft, weil ich hier spüre: Hier ist es hell und wahr und voller Geist. Und dann spüre ich, wie die Kraft auch in mir wächst, wahrhaftig und gut zu leben – und dann merke ich immer mehr, was es heißt, von innen her, vom Herzen erfüllt, ein Kind Gottes zu sein.“

Das Gewissen wird Vater statt Gesetzgeber

Dann wird in uns das Gewissen keineswegs überflüssig, aber wir spüren, dass der vermeintlich so strenge Gesetzgeber, der Urheber unsres Gewissens ein liebender, ein barmherziger Vater ist, der uns berühren will, der uns heraushelfen will, der uns beschenken und umarmen will.

Ich muss und kann mich nicht selbst besser machen, ich kann mich lieben lassen und im Geist eine Antwort geben, die mich spüren lässt: In diesem Geist werde ich nach und nach ein Mensch, der froh ist, liebesfähig ist, vertrauen kann, hoffnungsstark ist, geduldig ist, gütig ist und anderes mehr.

Gibt es in mir diese Sehnsucht?

Wir dürfen uns also besonders auch am Pfingstfest fragen: Ist in meinem eigenen Leben der Geist gegenwärtig? Gibt es eine Sehnsucht in mir, die sich nach Jesus sehnt, die sich danach sehnt, aus seiner Gegenwart zu leben und zu lieben – ihn und die Menschen? Gibt es in mir eine Sehnsucht danach, ihn immer besser kennen zu lernen, zum Beispiel indem ich wirklich ernst nehme, dass es da ein Wort Gottes gibt, eine Heilige Schrift, die von vorn bis hinten nur von ihm erzählt. Oder werde ich vom einem Geist bestimmt, der in mir sagt: „Nein, dieses Buch ist die langweiligste Lektüre, die man sich denken kann!“

Gibt es in mir eine Sehnsucht nach Begegnung mit dem Herrn im Gebet, dem Ort, wo ich Freundschaft mit ihm pflegen kann, wo ich auch so etwas wie Intimität mit Gott erleben kann? Oder gebe ich dauernd dem Geist in mir nach, der da sagt: „Lass das mit dem Gebet, das bringt überhaupt nichts.“

Kraft zur Umkehr

Und dann weiter: Merke ich in mir, dass die Fähigkeit wächst, auch Menschen zu ertragen oder gar gern zu haben, die mir schwer fallen? Oder suche ich mir dauernd Gründe, die mir rechtfertigen, warum es gar nicht geht, auch diesen Typen jetzt noch zu ertragen?

Ich denke schließlich, dass es im christlichen Leben letztlich und in der Tiefe einzig darum geht, immer tiefer aus der Gegenwart Jesus zu leben. Der Geist ist es, der uns die Kraft zur Umkehr und zur Erneuerung schenkt. Der Geist ist es, der uns zu Söhnen und Töchtern macht, denen man ansieht, zu wem sie gehören und wen sie lieben.

Ein persönliches und ein gemeinschaftliches Geschehen

Schließlich: Umkehr, Erneuerung, Leben aus dem Geist, das ist ein persönliches Geschehen, aber nicht nur. Es ist auch ein Geschehen, das zugleich in Gemeinschaft geschieht. Sie kennen das: Sie kommen an einen Ort, und Sie denken, hier ist guter Geist, hier ist gutes Klima, gute Atmosphäre. Hier ist wie selbstverständlich Gebet, hier ist wie selbstverständlich frohe und tiefe Orientierung auf Gott hin. Hier ist gut sein.

Oftmals sind Wallfahrtsorte solche atmosphärisch dichte Orte. Aber diese Dichte, diese Atmosphäre wird getragen von Menschen, von Menschen, die Geistträger sind, von Menschen, die aus der Gegenwart Jesu leben wollen. Und wo es mehrere sind, die so leben, die Sehnsucht danach haben, da bilden immer wieder von neuem Kirche. Da wächst eine Atmosphäre des Glaubens, in die man hineingehören will. Da wächst eine Atmosphäre, in der auch der Geist Gottes wirklich Heimat in den Herzen der Menschen hat, eine Atmosphäre, in der Jesus wohnt.

Ein befreites Gewissen

Als Bischof darf ich erleben, dass es in unserem Bistum, in unseren Pfarreien und Einrichtungen viele Menschen gibt, die diese Sehnsucht haben, dass das Leben aus dem Geist wieder neu erfahrbar wird. Es gibt viele Menschen, die sich danach sehnen, dass unsere Kirchen, Klöster und kirchlichen Einrichtungen Orte der lebendigen Glaubenserfahrung bleiben oder immer mehr werden, der Erfahrung des Geistes Gottes, Orte der Begegnung mit dem Herrn.

Deshalb bin ich auch voller Hoffnung, dass die vielen heutigen Reden von Kirchenkrise, Strukturkrise, Berufungskrise, Glaubenskrise und anderem mehr… , dass das alles nicht das letzte Wort haben wird. Ich bin vielmehr überzeugt, dass Gottes machtvoller Geist immer neu einen Anfang von Kirche unter uns machen wird und machen will. Auch in unseren Bistümern in Deutschland.

Und er will und kann es vor allem mit all denen, deren Sehnsucht nach seiner Gegenwart so groß ist, dass sie bereit sind, ihr Leben von ihm auch umgestalten zu lassen. Es sind die, die immer neu voll Vertrauen ihr Herz öffnen und Gott mit dem Ruf entgegen gehen, der seit zweitausend Jahren aus dem Herz der Kirche erklingt: „Komm, Heiliger Geist und erneuere das Angesicht der Erde – auch in deiner Kirche. Und fange bei mir an.“