Loslassen lernen, um in eine neue Qualität von Beziehung finden zu können. Was das mit echter Liebe zu tun hat, erklärt Bischof Stefan Oster in seiner Predigt zum Fest Christi Himmelfahrt im Passauer Stephansdom 2015.
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
haben Sie schon einmal folgendes erlebt: Sie sind irgendwie mit einem Menschen sehr verbunden. Einem alten Freund, einer alten Freundin zum Beispiel. Aber vielleicht spüren Sie auch, dass in dieser Verbindung auch nicht alles wirklich gut ist, zum Beispiel, dass es gegenseitige Abhängigkeiten gibt. Oder eine gemeinsame Verständigung über etwas, was Sie so nicht mehr denken und leben wollen, weil Sie es als unwahrhaftig empfinden, weil Sie sich weiter entwickelt haben. Oder Sie spüren, dass Sie die Nähe dieses Menschen vor allem deshalb suchen, weil Sie Angst davor haben alleine zu sein oder weil Sie Sicherheit wollen; aber nicht, weil Sie ihn einfach gern haben.
Loslassen aus Liebe
Beziehungen sind eine komplexe Sache, liebe Schwestern und Brüder, und es wird in unserem Leben immer wieder dazu kommen, dass wir manche Dinge ansprechen, aussprechen müssen, um ehrlicher zu werden mit dem Anderen, um nicht in einer Unwahrhaftigkeit zu bleiben. Es kann auch sein, dass wir Distanz brauchen, eine Lösung aus der Abhängigkeit, um neu auf den anderen zugehen zu können.
Eltern und ihre Kinder
Die meisten von Ihnen wissen, dass zum Beispiel die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beständiges Ringen sind zwischen Halten und Loslassen lernen und wachsen müssen, auf beiden Seiten. Wir kennen vermutlich alle Konstellationen, in denen Eltern ihre Kinder nicht loslassen können und deshalb so lange wie möglich von sich abhängig halten, emotional oder materiell.
Oder wir kennen auch Situationen, in denen Kinder das Nest auch gar nicht verlassen mögen, weil Sie Angst haben, nach draußen zu gehen. Aber umgekehrt gilt auch: Eltern und Kinder können immer neu das Loslassen lernen, um dann gerade dadurch auch eine neue Qualität ihrer Beziehung zu finden. Als Erwachsene, als Freunde zum Beispiel.
Was hat Loslassen mit Christi Himmelfahrt zu tun?
Warum erzähle ich das am Fest Christi Himmelfahrt? Weil es auch für die Jünger darum ging, ihren Herrn loszulassen. Vielleicht hat jemand von Ihnen das Wort Jesu noch im Ohr oder im Herz, in dem er im Johannesevangelium den Seinen vor seinem Leiden sagt: „Es ist gut für euch, dass ich gehe!“ (Joh 16,7)
Wären wir die Jünger würden wir vermutlich sagen: „Aber Jesus, das ist eine Katastrophe. Wir haben uns auf dich verlassen, wir haben alles andere verlassen und sind mit dir gezogen, und jetzt sprichst du vom Sterben und davon, dass Du zum Vater gehen willst?“ Und Jesus sagt: „Wenn ich nicht gehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen, gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden“. Der Beistand, meine Lieben, ist der Heilige Geist.
Der Heilige Geist mach die Beziehung zu Jesus neu
Und dieser Beistand erwirkt nun etwas in den Jüngern, was ihre Beziehung zu Jesus neu macht und tiefer und reifer. Sie müssen loslassen. Er ist nicht mehr fassbar, nicht mehr greifbar. Sie hören nicht mehr unmittelbar seine Stimme. Er hatte immer gesagt, wo es lang geht und sie haben es gemacht. Jetzt ist es neu, jetzt sind sie neu herausgefordert.
Und der Heilige Geist, die reale Liebe zwischen Vater und Sohn, die unendliche Kraft der Liebe, die freigibt und bejaht, diese Kraft kommt nun in sie. Und sie spüren auf einmal: Der Herr ist nicht mehr nur äußerlich da, ich bin jetzt nicht einfach sein Befehlsempfänger. Er ist nicht einfach nur Papa und ich bin das Kind, das mitmacht. Nein, ich bin nun im Inneren von einer Kraft, von einer Freude, von einer Freiheit berührt, die mir wirklich hilft, in Seinem Namen zu gehen. In seiner Vollmacht. In seinem Geist.
Sie wurden Freunde, auf Augenhöhe
Dieselben Jünger, die vorher unter dem Kreuz noch feige weggelaufen und ihn ihm Stich gelassen hatten, können jetzt, nachdem er weg ist und nachdem sie an Pfingsten seinen Geist empfangen durften, hinausgehen und für den Glauben ihr Leben geben. Wie er. In derselben Kraft wie er, im selben Geist wie er. Sie sind jetzt nicht mehr Sklaven, so hat er zu ihnen gesagt, sie sind Freunde, auf Augenhöhe. Ihre Beziehung hat sich noch einmal verändert, sie ist tief und reif geworden.
Loslassen macht frei und befähigt zu neuer Qualität der Beziehung. Sie wissen und vertrauen im Geist, dass Jesus bei ihnen ist und bleibt, obwohl er den äußeren Sinnen nicht mehr zugänglich ist. Seine Himmelfahrt ist die Voraussetzung dafür, dass er ihnen zutiefst innerlich werden kann. Was für ein Geschenk.
Loslassen macht frei
Liebe Schwestern und Brüder, die Herausforderung an uns ist, dass wir im Grunde in derselben Verfassung wie die Jünger leben. Nach Pfingsten, nach der Sendung des Heiligen Geistes! Und wir sind getauft und die meisten von uns gefirmt. Wir haben den Geist Gottes empfangen und er lebt und wirkt schon in uns. Aber die Frage an uns ist: Wollen wir mitwirken, können wir mit ihm mitwirken? Vertrauen wir so in der Offenheit des Glaubens auf seine Kraft, dass er sich wirklich in uns ausbreiten kann?
Liebe Schwestern und Brüder, Glaube geht mit Erkenntnis einher, obwohl er nicht dasselbe ist wie Erkenntnis. Aber im Epheserbrief haben wir heute gehört, dass der Apostel darum bittet, dass wir durch den Geist erst einmal erkennen mögen, wie unfassbar wunderbar Jesus ist, wie groß, wie wahrhaftig, wie herrlich und welche unglaubliche Hoffnung er uns schenkt.
Wollen wir die Liebe Jesu tiefer verstehen?
Daher meine Frage: Helfen wir dem Hl. Geist, wirklich tiefer in die Erkenntnis Jesu eintauchen zu wollen, so dass wir ihn und seine Liebe tiefer verstehen wollen? Haben wir Jesus schon als unseren Freund erkannt? Das ist die eine Seite: Er ist in jedem Fall die faszinierendste Persönlichkeit, die jemals über diesen Erdboden gelaufen ist.
Und wir meinen, ihn schon dadurch zu kennen, dass wir ein paar nette Geschichten aus der Bibel nacherzählen können, in denen er sich als nett oder gut erwiesen hat. Liebe Schwestern und Brüder, das Kreuz Christi ist ein Abgrund an Herrlichkeit der Liebe Gottes und ein so tiefer Mensch wie der Bruder Konrad, unser Bistumspatron, hat gewusst, dass er mit dem Erkennen dieser Liebe nie ans Ende kommt. Aber er wollte mehr und mehr erkennen durch den Geist Gottes.
Die Fähigkeit zu Zeichen und Kraft
Das zweite ist: Der Geist Gottes erwirkt in uns die Fähigkeit zu Zeichen und Kraft. Und wir lesen in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen, dass auch die Jünger nach Pfingsten wirklich auch Zeichen gewirkt haben und in der Kraft Gottes das Wort verkündigt haben. So, dass sich offenbar viele Menschen zu Christus bekehrt haben und ihn in ihr Herz gelassen haben. Das ist ja aus meiner Sicht das eigentliche Zeichen, das Gott wirkt: dass Menschen sich bekehren.
Dass sie plötzlich von innen her sich hingezogen fühlen, angezogen von Jesus, von seiner Gestalt, von seiner Liebeskraft und Wahrhaftigkeit. Dass sie anfangen zu beten, wirklich aus persönlicher Betroffenheit. Und dass sie anfangen, sich wirklich mit dem Wort Gottes zu beschäftigen, wo sie vorher auf Beten oder Bibel so was von gar keine Lust hatten. Liebe Schwestern und Brüder, das eigentlich Große, das Wunder, das Gott wirken will und kann, ist unsere Bekehrung. Die Verwandlung unserer Herzen in Herzen, die Jesus kennen und lieben lernen wollen.
Wohnort der Gegenwart Gottes
Wir gehen miteinander auf Pfingsten zu. In zehn Tagen wird es soweit sein. Viele Menschen beten in dieser Zeit Novenen, tägliche Gebete um das neue, das erfrischende, das befreiende Kommen des Geistes und um sein Wirken in unseren Herzen. In der letzten Zeit zitiere ich gerne immer wieder ein Bild eines meiner Mitarbeiter, das Bild von der Mannschaft.
Der Mitarbeiter wünscht, dass die Kirche wieder als das wahrgenommen und erfahren wird, was sie im Innersten ist: Wohnort der Gegenwart Gottes, Wohnort des Geistes bei den Geschwistern Jesu, die im Vertrauen auf ihn, in der Freude und Kraft seiner Gegenwart der Welt erzählen, dass sie den kennen, der der Sieger ist.
Loslassen lernen und Zeuge des Auferstandenen werden
Und im Bild der Mannschaft gesprochen: Dass sie in der Mannschaft derer spielen, die schon gewonnen haben, gewonnen gegen Tod, Hass, Lieblosigkeit. Viele Mitarbeiter, Ehrenamtliche, Gläubige in der Kirche in Deutschland haben dagegen in den letzten Jahren vielleicht allzu oft den Eindruck gehabt, dass sie in der Mannschaft spielen, die dauernd nur verliert. Weil wir in der Öffentlichkeit immer nur bestimmte Themen diskutieren und immer nur vom Rückgang sprechen, von Austritten, von Kirchensteuer, von kirchlichen Reizthemen im Zusammenhang mit der Sexualmoral und so fort. Das frustriert auf Dauer.
Aber Himmelfahrt und Pfingsten, meine Lieben dürfen uns immer wieder neu darin bestärken, dass wir wirklich in der Mannschaft der Sieger spielen, in der Mannschaft derer, die froh und innerlich voller Hoffnung und Vertrauen durch die Welt laufen, weil sie Freunde Jesu sein dürfen. Liebe Schwestern und Brüder, beten wir miteinander, dass uns jetzt im Gehen auf Pfingsten zu der Geist des Herrn neu geschenkt werden möge, der uns hilft kraftvolle Zeuginnen und Zeugen des Auferstandenen, des Siegers zu sein, zu dem auch wir gehören dürfen. Halleluja.