Foto: Stefanie Hintermayr / pbp

Perspektive wechseln: Christmette 2015

Die Perspektive wechseln und alles auf einmal ganz anders sehen: Die Predigt von Bischof Stefan Oster zur Christmette an Weihnachten 2015 im Passauer Stephansdom.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie treten in eine kleine Gartenhütte ein. Draußen scheint die Sonne, innen ist es im Grunde dunkel. Nur durch ein kleines Fenster fällt ein Lichtstrahl ein. Sie sehen den Lichtstrahl. Sie sehen, wie die Staubteilchen in ihm tanzen, Sie sehen aber fast nichts außen herum. Sie schauen auf den Lichtstrahl drauf. Von außen.

Einmal Perspektive wechseln

Aber nun wechseln Sie die Perspektive: Sie treten in den Lichtstrahl hinein. Der Strahl selbst verschwindet, sie sehen ihn nicht mehr. Dafür sehen Sie vieles andere plötzlich in seinem Licht. Alles, was von dem Lichtstrahl in dieser Hütte berührt und angestrahlt wird, erscheint plötzlich. Und wenn Sie hinausschauen, den Lichtstrahl entlang schauen Sie in die Sonne. Wie seltsam, nicht wahr? Man verändert kurz die Perspektive und sieht plötzlich ganz anders und ganz anderes!

Dieses einfache Beispiel macht etwas Tiefes deutlich: Wir haben vermutlich zwei Weisen, die Welt und die Dinge um uns herum zu betrachten. Aus der Perspektive des Beobachters von außen oder aus der Perspektive dessen, der sich hineinnehmen lässt, gewissermaßen von innen. Schau ich auf den Lichtstrahl drauf – oder schau ich ihm entlang. Beides hat seinen Wert. Aber für das, was wir heute Abend feiern, geht es mir um die zweite Perspektive, um die im Lichtstrahl drin.

Perspektive der Liebe

Ein anderes Beispiel zur Verdeutlichung: Sie sehen einen Verliebten, einen Menschen, dessen Herz bewegt ist von seiner Angebeteten. Einen Menschen, dem sich die Maßstäbe gerade ein wenig verschoben haben: Zehn Minuten Gesprächszeit mit der Herzdame sind ihm gerade wichtiger als alle Aufmerksamkeiten von allen Frauen der Welt. Er sieht die Welt im rosaroten Licht, weil sie von ihrer Gegenwart irgendwie erfüllt ist.

Und nehmen wir nun an, Sie sind ein Beobachter von außen, der psychologisch oder biologisch interessiert ist: Sie nehmen an dem jungen Mann wahr, wie sich seine inneren Erregungszustände manifestieren, etwa als Aufregung oder als Produktion von Endorphinen oder von Schweiß. Und Sie notieren das als Ergebnis Ihrer Beobachtungen.

Aber nehmen Sie nun zusätzlich an, Sie wären auch noch der beste Freund dieses Verliebten. Und Sie würden ihm von Herzen gönnen, dass es klappt mit der jungen Dame und Sie nehmen teil an seinem Leben, Sie fühlen mit ihm, sie helfen ihm, eine Begegnung zu arrangieren. Sie waren selbst einmal verliebt und können sich so gut in ihn hineinversetzen. Hoffentlich geht alles gut, denken Sie.

Beobachter von außen, Teilnehmer von Innen

Merken Sie wieder die beiden Perspektiven, Schwestern und Brüder? Der Beobachter von außen und der Teilnehmer von innen. Der eine schaut auf den anderen wie auf ein Objekt, aber es macht nichts mit ihm. Der andere nimmt innerlich teil, voll Herz und Mitgefühl und Mitgehen, und schaut mit dem Freund gewissermaßen in dieselbe Richtung. Er ist gleichsam in den Lichtstrahl eingetreten.

Dieser sieht etwas ganz anderes als der bloße Beobachter. Er stellt sich gewissermaßen in den Dienst des Freundes, er stellt ihm dabei auch sein eigenes Denken, sein Herz zur Verfügung. Er ist auch nicht einfach der Kontrolleur der ganzen Situation wie nur ein Beobachter, sondern er lässt sich selbst ein, lässt sich mitnehmen, weiß noch gar nicht, wo das hingeht und was passiert. Aber er ist dabei.

Ich steh an Deiner Krippe hier

Warum erzähle ich das, liebe Schwestern und Brüder, an einem Weihnachtsabend wie heute? Ich erzähle es, weil ich über die ersten Worte eines sehr bekannten Weihnachtsliedes nachgedacht habe. Der Text des Liedes ist von dem evangelischen Theologen Paul Gerhardt, aus dem 17. Jahrhundert. Die meisten kennen es sicher. Die ersten Worte lauten: „Ich steh an Deiner Krippe hier“. Und ich habe mich gefragt, wie stehe ich denn hier. Wie stehen wir hier und betrachten das Kind?

Stehe ich hier als Mensch, der vielleicht an Religion in ihren verschiedenen Erscheinungsformen interessiert ist und darüber nachdenkt, wie es zur Verehrung eines Kindes gekommen ist? Wie aus dieser Verehrung religiöser Glaube entstehen konnte? Warum gerade so eine Darstellung des Göttlichen für viele Menschen anziehend sein könnte und so fort? Solche und viele andere interessante Fragen könnte ich stellen, aus der Perspektive des Beobachters. Aber klar ist, der Beobachter bleibt auch der Kontrolleur, er behält die Situation in der Hand, er bleibt daher auch auf Distanz.

Die Perspektive des Beobachters

Oder stehe ich so an der Krippe so, dass ich auch die nächste Zeile unseres Liedes mitsingen könnte, die da lautet. Ich steh an deiner Krippe hier, oh Jesus du mein Leben? Das Lied geht noch weiter: Wir singen: „Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und laß dir’s wohlgefallen.“

Sie ahnen es, liebe Schwestern und Brüder, die Haltung des Beobachters ist interessant, sie kann viel sehen, viele Informationen sammeln und auch aufschreiben. Vielleicht kommt der Beobachter sogar irgendwann mal so weit, dass er diese Perspektive verlässt und sich tatsächlich auch einlässt. Aber wenn er es nicht tut, dann bleibt er draußen, dann wird er mit dem, was wir hier und heute Abend feiern, letztlich nichts zu tun haben. Er wird heimgehen und sagen: Ja, ich bin auch an der Krippe gestanden, wie die vielen Gläubigen. Interessant war es durchaus. Aber morgen schaue ich mir einen anderen religiösen Ritus an, vielleicht mal einen aus dem Hinduismus, sicher auch sehr interessant.

Die Perspektive des Teilnehmers

Aber derjenige, der diese Perspektive verlässt, der sich gewissermaßen hineinnehmen lässt in den Lichtstrahl, der anfängt zu glauben, dass dieses Kind wirklich etwas vorhat mit ihm, der sich von ihm das Herz erobern lässt, der wird sich auf den Weg machen und auf diesem Weg ein anderer werden. Wir haben in der zweiten Lesung einen Brief des Apostels Paulus gehört. Er schreibt. „Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten.“

Und dann beschreibt er, was die Gnade Gottes, was also dieses Kind mit uns macht, wenn wir uns einlassen, wenn wir die Beobachterposition verlassen. Paulus sagt: „Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen, und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben.“ Und er fügt hinzu: „Er hat sich für uns hingegeben, um uns von aller Schuld zu erlösen, um sich ein reines Volk zu schaffen, das ihm als sein besonderes Eigentum gehört und voll Eifer danach strebt, Gutes zu tun.“

Lernen, aus seinem Geist zu leben

Liebe Schwestern, liebe Brüder, wenn wir uns von dem Kind das Herz erobern lassen, wenn wir innerlich mitfühlen mit ihm, mitgehen auf seinem Weg für uns. Wenn wir lernen, mehr und mehr zu verstehen, wer Jesus ist, dann macht er aus uns neue Menschen. Dann werden wir ihm ähnlicher, dann ist der Lichtstrahl, in den wir uns hineinnehmen lassen, sein Geist, der Heilige Geist.

Dann lernen wir aus seinem Geist leben. Im Grunde kann man sagen, ist das das eigentliche Anliegen dieses Festes, das eigentliche Anliegen des Kirchenjahres, das eigentliche Anliegen aller Aussagen und Ausdrücke unseres Glaubens, ganz besonders der Feier der Eucharistie: Dass wir uns alle hineinnehmen lassen in den Lichtstrahl Gottes, dass wir Teilnehmer werden an seinem Weg mit für uns – und eben nicht nur Beobachter von außen bleiben.

Gottes Weg für uns

An Weihnachten sagt er uns: „Mein Weg der Menschwerdung ist ein Weg für Dich!“ Und er fragt uns: „Gehst Du mit?“ Er sagt uns dabei freilich: „Du musst dabei Kontrolle abgeben, musst Dich einlassen, musst loslassen lernen und musst lernen, mich wirken zu lassen? Wie? Indem Du mich kennen und lieben lernst und mir vertraust.

Ich verspreche Dir nicht, sagt das Kind in der Krippe, dass der Weg immer leicht wird. Aber ich verspreche Dir, dass er Dir eine Freude und eine Tiefe schenken wird, von der Du vor unserem Kennenlernen noch kaum eine Ahnung hattest. Und ich verspreche Dir außerdem das Leben bei mir, das nie mehr aufhört.“

Ich sehe Dich mit Freuden an

Liebe Schwestern und Brüder, diese Verheißung auf Leben liegt in der Krippe. Und wir stehen hier und fragen uns auch dieses Jahr Weihnachten wieder: Lassen wir uns einladen, lassen wir uns bewegen, oder bleiben wir lieber Beobachter? Der Dichter unseres Weihnachtsliedes weiß schon, was er an dem Kind hat, er ist schon entschieden. Er singt in einer weiteren Strophe: „Ich sehe Dich mit Freuden an – und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O daß mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, daß ich dich möchte fassen!“