Über Gottesfurcht und Identität – Christen und die Gesellschaft

Die Ansprache in der Jahresschlussandacht im Passauer Dom – zum Nachhören und Downloaden – und unten zum Nachlesen

Verehrte Geschwister im Glauben,

diese Ansprache habe ich bis heute am späten Vormittag vorbereitet – ehe die Nachricht kam, dass unser verehrter emeritierter Papst Benedikt verstorben ist. Ich bin den Text dann am Nachmittag nochmal durchgegangen und hab mir gedacht, dass sehr viel von dem, was ich sagen möchte, wohl auch in seinem Sinne wäre – auch wenn er darin nicht ausdrücklich zu Wort kommt. Ich spreche also gewissermaßen auch in der Würdigung seines Andenkens. Die ausführliche Würdigung von Benedikt selbst folgt dann beim Requiem am kommenden Samstag.

„Unser Gott ist verzehrendes Feuer“ (Hebr 12,29)

Ich möchte die Lesung, die wir gehört haben (Hebr 12,18-29, Text siehe unten, am Ende der Ansprache), zum Anlass nehmen, um mit Ihnen heute Abend am Ende eines Jahres über zwei Begriffe nachzudenken – und auch deren Bedeutung für Kirche und Gesellschaft anzudenken. Die beiden Begriffe lauten erstens die „Gottesfurcht“ und zweitens „Identität“. In der Lesung aus dem Hebräerbrief haben wir eben gehört, dass die Christen, die an Jesus glauben, nicht einfach nur eine schreckliche Erfahrung mit ihrem Gott machen, wie die Israeliten sie damals am Sinai machten, als Gott sich dem Mose offenbarte – eine Erfahrung die sie kaum aushalten konnten, voll Angst und Schrecken, wie es heißt. Aber jetzt sind Christen durch Jesus in eine neue Gemeinschaft eingetreten und eingeladen. In dieser Gemeinschaft wird das himmlische Jerusalem vorweg genommen. Wir gehören dazu. Und dennoch, so sagt der Text am Ende, dennoch ist dieser Gott immer noch derselbe Gott wie damals – Er ist nämlich, wie es im letzten Satz hieß: „Verzehrendes Feuer.“  Daher also zunächst zur Frage nach der Gottesfurcht, die in der Schrift so oft erwähnt wird. Wenn Sie in der Weihnachtsnacht die Hl. Messe besucht haben, haben Sie gehört, dass den Hirten auf dem Feld der Engel des Herrn erschienen ist und es heißt: „die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr“. Der Engel antwortet darauf mit dem berühmten immer wieder kehrenden biblischen Ruf: „Fürchtet euch nicht.“ Und er fügt hinzu: „Denn ich verkünde euch eine große Freude“.

Wie wirkt Gott in das Leben der Menschen?

Natürlich, liebe Schwestern und Brüder, diese Erzählung ist so außeralltäglich, dass wir sie nicht einfach auf unser eigenes Leben anwenden könnten. Und dennoch geben uns solche und viele andere biblische Geschichten einen Hinweis auf das, was mit dem Thema der Gottesfurcht verdeutlicht werden soll. Denn sehr oft, wenn in der Bibel erzählt wird, dass etwas Außergewöhnliches von Gott her geschieht, auch dann, wenn zum Beispiel Jesus handelt oder spricht oder heilt, sind die Menschen voll Furcht. Manchmal heißt es auch, sie sind voll Erschrecken oder gar Entsetzen. Und umgekehrt kommt dann auch oftmals der Zuruf „fürchtet euch nicht“, oder „fürchte dich nicht“. Die Bibel, liebe Schwestern und Brüder, handelt ja im Grunde von vorne bis hinten davon, wie Gott ins Leben der Menschen und vor allem seines Volkes einwirkt. Und natürlich ist das ganz Außergewöhnliche, das große Wunder, die gewaltige Tat Gottes eher die Ausnahme – wie die Spaltung des Roten Meeres oder das Feuer, das der Prophet Elija auf seine Opfertiere herabruft.

Gottesfurcht enthält ein reales Moment von Furcht

Das Normale ist eher, dass Gott auf dem leisen Weg führt, auf dem inneren Weg. Das Normale ist, dass Menschen fasten und beten und Liturgie feiern und Opfer bringen, die Schrift lesen – um so zu lernen, besser auf Gott zu hören und Ihn im Leben besser zu erkennen. Die Gläubigen der Bibel aber waren sich grundsätzlich bewusst: Gott ist erstens unfassbar groß im Sinn von herrlich. Und zweitens Gott ist da – und vielfach waren die Menschen sogar dankbar, dass er sich nicht im Außergewöhnlichen gezeigt hat, weil sie fürchteten, es sonst nicht aushalten zu können. Im Alten Testament herrschte die Vorstellung, niemand kann Gott real begegnen, ohne zu vergehen, ohne zu sterben. Er ist so mächtig, so majestätisch und herrlich, dass es sterblicher Mensch, der noch dazu ein Sünder ist, diese Gegenwart nicht aushält. Wir dürfen also nicht den Fehler machen, wenn wir in der Bibel von der Gottesfurcht lesen, das Element der Furcht und des Erschreckens ganz rauszunehmen. Mancher erklärt Gottesfurcht dann mit Respekt oder auch Ehrfurcht – und das ist ja nicht verkehrt, aber es ist noch nicht das Ganze. Denn mir ist wichtig zu sehen, dass Gottesfurcht auch ein Moment realer Furcht oder realen Erschreckens bedeutet, etwas das ja im Wort Ehrfurcht auch enthalten ist. Warum ist das wichtig? Ich meine, dass es gerade heute und gerade für uns in dieser Kirche und in dieser Zeit wesentlich ist. Es ist wesentlich, wieder die Gottesfurcht zu lernen, ein gottesfürchtiger Mensch zu werden. Die Schrift sagt immer und immer wieder, dass Gottesfurcht der Anfang der Weisheit ist. Und dass sie zum tieferen Verstehen Gottes führt. Natürlich heißt das nicht, dass Gott jemals vollständig begreifbar wäre.  Aber es heißt, dass wir von Gott so viel erkennen können, dass durch dieses Verstehen unser Leben verändert werden und dass es gelingen und sinnvoll und tief werden kann. Die Bibel ist also einmal unmissverständlich darüber, dass Gottes Majestät und Herrlichkeit jenseits von allem Vorstellbarem ist. Er ist so viel erhabener, so viel heiliger, dass wir davon kaum eine Vorstellung haben. Aber gerade diese Einsicht ist schon eine Einsicht, die uns weiterhilft. Er ist Gott und ich nicht. Er ist Gott und ich bin nur ein Geschöpf. Für ihn sind tausend Jahre, wie der Tag, der gestern vergangen ist, sagt der Psalmist und meint damit, dass Gott in Ewigkeit war und ist und sein wird. Und bei mir sind es, wenn es gut geht, ein paar Jahrzehnte, in denen ich versuche, einigermaßen klar zu kommen, mit mir, mit den anderen und mit IHM, mit Gott.

Die Maßstäbe für gut, wahr und schön kommen vom Allmächtigen

Und ich meine mit Gottesfurcht nun aber auch nicht, dass wir fortwährend im schlechten Sinn Angst vor ihm haben müssten. Ich meine es anders, vielleicht so: Stellen Sie sich einmal vor, jemand würde Ihnen jetzt im vollen Ernst sagen: „Hier draußen in der Sakristei wartet die Manifestation eines Erzengels auf dich, um dir etwas mitzuteilen.“ Liebe Schwestern und Brüder, wenn Sie das wirklich glauben würden, würden Sie nicht erzittern oder erschrecken vor dem, was oder wer ihnen da begegnet? Und mit Gott ist es nun so: Er ist der Schöpfer auch der Erzengel – und deshalb noch um ein Unendliches erhabener als jedes Geschöpf als jeder Erzengel. Was will ich sagen, liebe Schwestern und Brüder? Ja, natürlich ist Gott Liebe und Wahrheit – und Jesus hat ihn uns ganz tief als Vater offenbart. Aber er ist absolute Liebe, absolute Wahrheit und als Vater absolut gerecht und absolut barmherzig. Stellen Sie sich vor, Sie würden zum mächtigsten Menschen der Welt ins Büro eingeladen, weil er ihnen was sagen will. Aber Sie wüssten, er ist im Grunde gut. Hätten Sie nicht trotzdem ungeheuren Respekt und in einem guten Sinn auch Furcht, ein Erschaudern vor dieser Vollmacht? Und würden sich nicht genau deshalb wirklich sehr bemühen und das Beste von sich zeigen? Weil Sie in eine Wirklichkeit eines anderen eintreten, die Sie nicht einfach beherrschen, die Sie nicht einfach kontrollieren können, die aber andererseits Einfluss auf Sie ausüben will und kann. Und wenn Gott wirklich Gott ist, so viel gewaltiger als der mächtigste Mensch der Welt, wenn er der Schöpfer von allem ist, dann ist seine Wirklichkeit auch so viel objektiver, wahrer, realer als alles, was ich in meinem Kopf für wirklich halte. Und weil er lebendig ist, verwendet die Schrift auch das Bild des Feuers für ihn. Er ist Feuer der Liebe, aber auch verzehrendes Feuer für die, die in der Sünde verharren. Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit, sagen die Alten, weil wenn es ihn gibt und er wirklich der ist, den die Schrift beschreibt, dann kommen letztlich alle Maßstäbe für gut, wahr und schön von ihm. Und dann ist der, vor dem ich in die Knie gehe, den ich verehre und anbete, dann ist er mein Korrektiv, dann setzt mich er in die Wahrheit und in die größere Objektivität. Dann gibt es Wahrheit und Sinn nicht alleine aus meiner eigenen inneren Erkenntnis, dann gibt es Wahrheit im Maß, in dem ich mich für die tiefere und größere Wirklichkeit öffnen kann und auch vor ihr auf die Knie gehe. Er ist der Wahre und Gute schlechthin, Er ist die Wahrheit und Güte schlechthin.

 

Ist am Ende alles erlaubt, wenn der Mensch alleine Maßstab ist?

Und wenn es ihn gar nicht gäbe, liebe Schwestern und Brüder, oder wenn er mich nicht interessiert, dann bin am Ende immer ich selbst der Schöpfer meiner Maßstäbe. Dann ist schön, wahr und gut, was ich dafür halte. Oder dann ist es, was eine Gruppe für wahr, gut und schön hält, der ich mich zugehörig fühle. Und meistens hält man dann das für wahr oder gut, was mir am meisten nützt oder was einer Gruppe am meisten nützt. Aber weil wir alle auch Egoisten sind, und weil wir alle auch als Gruppe zum Egoismus neigen, nämlich zum Gruppenegoismus, deshalb sind dann alle unsere Maßstäbe wieder nur aus uns selbst geboren, auf uns selbst bezogen. Dann gibt es keine Wahrheit, die mich über mich hinausruft, weil sie größer und tiefer ist als ich selbst und alles, was ich in mir habe. Wenn der Mensch allein das Maß aller Dinge ist und sein will, dann ist die Gefahr groß, dass sich immer wieder Menschen oder Menschengruppen zum letzten Maßstab machen – und dann ihre Vorstellungen anderen überstülpen. Alle Totalitarismen dieser Welt leben aus der Verabsolutierung von nur menschlichen Maßstäben. Und immer wieder wird dann etwas, das einer Gruppe besonders nützt zum vermeintlich Guten für alle erklärt. Und am Ende werden alle unterdrückt. Liebe Schwestern und Brüder: Gottesfurcht ist der Anfang echter Weisheit und umgekehrt gilt: Wenn es Gott nicht gibt oder wenn er nicht als Gott erkannt und geehrt, wenn er nicht geliebt und nicht auch recht verstanden gefürchtet wird, dann laufen wir immer neu Gefahr, unsere eigenen Ideologien zu konstruieren und für die reale Wirklichkeit zu halten. Von dem großen Schriftsteller Fjodor Dostojewski stammt der aus dieser Erkenntnis zugespitzte Satz: Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt.

Die Größe, die so klein werden kann

Aber Gottesfurcht setzt eben auch Glauben voraus, setzt Vertrauen voraus, dass dieser Gott wirklich da ist. Und die christliche Offenbarung vertieft nun dieses geglaubte Dasein mit der Erkenntnis, dass der große, unfassbar majestätische Gott tatsächlich zugleich ein liebender Vater ist. Mehr noch, das Weihnachtsgeheimnis zeigt uns, dass diese unfassbare Größe Gottes auch darin besteht, dass er sich unfassbar klein und niedrig machen kann und will – und als Baby zu uns kommt. Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie uns auch dieses Verhältnis vor unser geistiges Auge holen und uns durchs Herz gehen: Die schiere Majestät und Heiligkeit Gottes, ist auch real da in der Armut und Niedrigkeit des Babys von Betlehem. Welche Größe der absoluten Liebe. Wenn wir das an unser heranlassen, überkommt uns dann nicht auch ein Schauder der Ehrfurcht, der uns auch in die Knie gehen lässt? Und wenn dieser Gott in Jesus tatsächlich einer von uns geworden ist, der dann auch noch für unsere Erlösung qualvoll gestorben ist, folgt dann nicht notwendig daraus, dass das auch für unsern Umgang mit allen Menschen Konsequenzen haben muss. Weil jeder Mensch ein Geheimnis seiner liebenden Schöpfung ist und damit sein Ebenbild ist, führt es uns hoffentlich auch zur Ehrfurcht voreinander – vor jedem Menschen.

Ideologie? Oder absichtslose Liebe?

Vielleicht fragen Sie, liebe Schwestern und Brüder, was hindert dann den christlichen Glauben daran, auch Ideologie zu werden? Aus meiner Sicht ist es nur eine absichtslos gelebte Liebe, die uns glaubwürdig macht. Oder zumindest unser Einüben, absichtslos zu lieben. Das meint eine Liebe, die den anderen Menschen nie zwingen will und kann, eine Liebe, die wirklich das Gut des anderen meint – und nicht hintergründig doch noch ihren eigenen Vorteil anzielt. Ich bin überzeugt, diese Liebe gibt es in der Welt. Aber sie gibt es zuerst und vor allem aus Jesus selbst, der die göttliche Liebe selbst als ein Mensch unter uns verkörpert hat. Wenn aus dem Christentum diese Liebe verschwindet und mit ihr die Gottesfurcht, dann wird auch das Christentum zur Ideologie – und zwar entweder zum banalen Humanismus auf der liberaleren Seite oder zur bloßen Überforderung durch Dogma und Moral auf der konservativeren Seite. Und ich sage sehr bewusst „diese Liebe“, weil ich der Meinung bin, dass gerade auch das Wort Liebe das Wort ist, das von allen Worten unter uns Menschen am meisten missbräuchlich verwendet wird; eben weil der eigentliche Maßstab für Liebe die Liebe Gottes ist, weil es die Liebe Jesu zu uns Menschen ist. Und weil wir diese Liebe nur von Ihm empfangen können und nicht aus uns selbst haben.

Religion als Erhöhung des eigenen Egos

Liebe Schwestern und Brüder, ich sage alles das auch im Blick auf unsere Gesellschaft. Wir erleben eine Zeit, in der der Glaube an die reale Gegenwart Gottes und mit ihr die Gottesfurcht dramatisch abnehmen. Mit dieser Abnahme wird freilich nicht alles einfach säkular oder religionslos. Vielmehr treten an die Stelle solchen Verlustes nicht selten Formen von esoterischer Spiritualität oder Religiosität oder die Anbetung von Götzen, die unter dem Schein von Transzendenz letztlich doch nur die Erhöhung des eigenen Egos oder des kollektiven Egos feiern. Das ist übrigens auch innerhalb des Christentums möglich, wenn sich ein Mensch diesen Jesus oder den Vater so ausdenkt, wie er ihn gerne hätte. Das ist letztlich die Konsequenz eines nur pseudoreligiösen Egos. Und so ein Ego will und kann sich nicht vor einem Gott niederknien, der auch diesem Ego die Erniedrigung von Krippe und Kreuz zumutet – weil es der Weg in die Erlösung ist. Eine sich ausbreitende Religion des Egos wird aber zwangsläufig dazu führen, dass in unserer Gesellschaft die Ideologien und Gruppenegoismen zunehmen – und die Menschen gerade deshalb vielfach auch den Respekt voreinander verlieren. Polarisierungen, Ausgrenzungen und gesellschaftliche Kälte nehmen zu. Und mit ihr die Gefahr, dass unser Miteinander noch brüchiger wird – und dass sich einzelne Gruppierungen oder Gruppenmeinungen durchsetzen wollen, und womöglich vor Nötigung oder Gewalt nicht mehr zurückschrecken. Die grundsätzliche Achtung vor dem anderen Menschen schwindet, wenn die Gottesfurcht schwindet – und mit ihr ein absoluter Maßstab von wahr, gut und schön.

Identität: Ein schillernder Begriff

Ich möchte diese Gedanken nun noch um die Frage nach der Identität vertiefen. Das Wort ist sehr schillernd und vieldeutig. Und es wird in zahlreichen Kontexten unterschiedlich verwendet, philosophisch, psychologisch, soziologisch, politisch, in der Philosophie, im Recht und anderen Bereichen. Was wir meinen, wenn wir von „Identität“ sprechen ist also immer kontextabhängig und nie so ganz einfach zu sagen? Zunächst: In der Politik finden wir diesen Begriff auf der linken wie auf der rechten Seite. Eher ganz rechts ist da die so genannte identitäre Bewegung, die dafür kämpft innerhalb einer Volksgemeinschaft, ethnisch und kulturell möglichst homogen zu sein. Sie kämpft gegen Multikulturalismus und für den Schutz der Grenzen, gegen zu viel Einwanderung und ähnliches. Das Wort Identität steht hier also deutlich für völkische Homogenität.

Identitätspolitik?

Auf der eher linken Seite daheim sind in verschiedenen Spielarten die Förderer so genannter Identitätspolitik. Hier geht es darum, Menschen, die aufgrund von spezifischen Merkmalen – wie etwa aufgrund von Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, sexueller Orientierung. Identitätspolitik will diesen Gruppen zu mehr Rechten und Anerkennung verhelfen. Das Wort Identität wird hier im Grunde wie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verwendet, die aufgrund von einzelnen Merkmalen identitätsbildend wirkt. In ihren radikaleren Spielarten will Identitätspolitik bestimmte andere Gruppierungen, wie etwa die berühmten „weißen alte Männer“ aus dem Diskurs ausschließen, da diese als hauptverantwortlich für die Unterdrückung der Diskriminierten betrachtet werden. Oder sie will andere Gruppen zwingen, ihr spezifisches Menschenbild zu übernehmen, wie wir dies in einzelnen Positionen in der so genannten Genderdebatte erleben.

Der wahre Kern und die groteske Verzerrung

Und wenn wir nach dem Wahrheitskern beider Seiten schauen, dann finden wir im Grunde überall legitime Anliegen, die erst durch Radikalisierung problematisch werden. Jeder Mensch darf sich natürlich daran freuen, einem bestimmten Volk anzugehören und darf dessen Kultur und Lebensart lieben. Man darf selbstverständlich im guten Sinn Patriot sein und das eigene Land lieben – und zwar ohne dabei völkisch und nationalistisch zu werden. Und selbstverständlich dürfen und sollen wir uns um die Rechte von Minderheiten mühen und Rassismus und Diskriminierung von Menschengruppen bekämpfen. Aber ich denke, wir dürfen dennoch nicht selbst im politischen Kampf wiederum die Diskriminierer oder Unterdrücker derjenigen werden, die tatsächlich oder nur vermeintlich mächtig sind. Es ist so häufig ein Kennzeichen von Ideologien: Wesentliche Einzelaspekte werden verabsolutiert, machen sich zu einer nur vermeintlich großen Idee und unterdrücken anders Denkende – oft mit katastrophalen Folgen für Einzelne oder die Gesellschaft.

Flüchtige Identität?

Liebe Schwestern, liebe Brüder, das war nur ein sehr kleiner Anriss des sehr großen Themas Identität in vielen Bereichen. Mir persönlich scheinen diese vielen Debatten aber darauf hinzuweisen, dass die Fragen der Menschen nach ihrer eigenen Identität in unserer Kultur immer dringlicher werden. Mir scheint, wir können unglaublich viel mit unseren wissenschaftlichen und technischen Mitteln, aber wir wissen vielleicht weniger denn je, wer wir sind und wozu wir da sind. Warum nur, frage ich mich, lassen sich so viele Menschen Tattoos stechen, oft sehr viele und in größeren Flächen am Körper. Und das bleibt ihnen ja! Warum? Womöglich als eine Art Festschreibung der Merkmale ihrer eigenen Identität? Etwas, was mir und anderen zeigen soll: Das drückt in diesen Bildern und Zeichen aus, was mich ausmacht!? Damit ich es nicht vergesse? Oder damit sich meine Identität nicht doch verflüchtigt und verflüssigt? Oder was macht die Instagram- und die Tik-Tok-Kultur mit der Identitätssuche junger Menschen, wenn ein junger Mensch fortwährend dazu eingeladen wird, sich an vermeintlich perfekteren anderen Menschen zu messen? Was macht das mit Jugendlichen? Auch das sind auch nur Einzelfragen und Symptome zum Tiefenphänomen der Identitätsthematik.

Wie hängen Gottesfurcht und Identität zusammen?

Und ich möchte nun den inneren Zusammenhang mit der Thematik der Gottesfurcht verdeutlichen. Ich sagte, Gott ist einerseits der ganz Andere, der Heilige, der Herrliche, die unfassbare Majestät, der Schöpfer von allem. Und eben als solcher ist er so viel wirklicher, so viel wahrer und wahrhaftiger als jeder von uns. Das heißt: Würde er nicht derjenige sein, der mir am tiefsten zeigen könnte, wer ich bin und wozu ich bin? Würden sich diese Fragen nicht gerade aus der Beziehung zu Ihm klären? Liebe Schwestern und Brüder, wir Christen glauben im Grunde genau dieses. Denn ich sagte schon, dass sich an Weihnachten und an Karfreitag Gottes unfassbare Größe als Liebe zeigt, die sich unfassbar erniedrigen und klein machen kann. Und sie macht sich so niedrig, damit ich mich von ihr berühren lassen kann, damit ich nicht vor Angst davon laufe, sondern damit ich in dankbarer Ehrfurcht niederfalle und lerne sie anzunehmen und mich von ihr tragen und sie in mir wachsen zu lassen. Und in dem Augenblick, in dem ich vertrauend glauben kann, dass mich diese Größe liebend trägt, in dem Augenblick lerne ich neu zu verstehen, wer ich bin und wozu ich bin. Diese Glaubenserfahrung drückt sich biblisch in der tiefsten Identitätserfahrung aus, die da lautet: Gott ist wirklich mein Vater und ich bin wirklich sein Kind. Jesus ist an Weihnachten mein kleiner und am Karfreitag mein unfassbar großer Bruder geworden, damit ich verstehe, ich gehöre wirklich zu dieser Familie: Der Große, der Heilige, der Majestätische, der ganz andere Gott, dieser Gott: ist mein Vater – und ich bin sein Kind. Er vergibt alles und er holt nach Hause. Liebe Schwestern und Brüder, wenn das, was ich da sage, nicht nur Gedanke bleibt, auch nicht nur erbauliches Gefühl, sondern echte, tragende Überzeugung werden darf, dann spüre ich, dass ich in die Identität gefunden habe, die einerseits schon da war – und die mir zugleich neu geschenkt ist. Wer in Christus ist, ist eine neue Schöpfung, sagt Paulus. Und wer nicht von neuem geboren wird, kann das Reich Gottes nicht schauen, sagt Jesus. Und er ruft uns auf, mit seiner Hilfe wie ein Kind zu werden, ein Kind des Vaters. Und wer in dieser gläubigen Überzeugung zu Hause ist, der wird mehr ganz, der wird heiler und letztlich auch heiliger. Weil Christus in ihm lebt. Und weil er spürt: Er ist dazu da, an dem Ort, an den er gestellt ist, die eigenen Gaben und Möglichkeiten so einzubringen, dass Menschen erfahren können, dass es in der Welt Liebe gibt und wirkliche Hoffnung. Und diese Erfahrung von Identität macht schließlich auch von innen nach außen mehr ganz, mehr authentisch. Wir werden mehr geeint, auch in unserem Ineinander von Leiberfahrung, emotionaler Erfahrung, Denken und Wollen. Der Mensch in Christus wird heiler – und deshalb durch Ihn auch heiliger.

Der Beitrag der Christen – aus einer Identität der Gotteskindschaft

Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir von hier den Blick auf die Gesellschaft wenden, dann sehen wir auch, welchen Beitrag wir Christen leisten könnten. Jemand, der sich als Kind vom Vater getragen weiß, der braucht nicht einfach gegen andere zu sein, der braucht nicht bekämpfen, nicht polarisieren und emotionalisieren. Der braucht auch nicht andere Identitäten gegeneinander ausspielen. Der muss freilich auch nicht alle anderen Identitäten für vollgültig halten und den Kampf um sie für richtig finden. Aber er wird immer jeden Menschen achten, völlig unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Orientierung oder Religion und auch unabhängig von der Beschreibung seiner eigenen Identität – weil er Gott fürchtet und Ehrfurcht hat vor seinem Vater, dem Schöpfer aller Menschen. Und weil er aufgerufen ist, zu lieben, wie Jesus uns geliebt hat. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn die Gottesfurcht verschwindet – verschwindet auch etwas von der Einladung in die eigentliche Tiefendimension menschlicher Identität. Und dann werden sich sehr wahrscheinlich die verschiedenen nur menschengemachten Identitätsvorstellungen eher gegeneinander stellen, sich ideologisieren und miteinander konkurrieren. Und die Atmosphäre wird kälter werden in unserer Gesellschaft, wie es Jesus in seiner Endzeitrede im Matthäus-Evangelium sagt: „Viele werden zu Fall kommen und einander ausliefern und einander hassen. Viele falsche Propheten werden auftreten und sie werden viele irreführen. Und weil die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten.“ (Mt 24,10-12)

Zeugen der Hoffnung in schwieriger Zeit

Mitten darin, mitten in einer so herausfordernden Zeit, liebe Schwestern und Brüder, sind wir Christen gerufen, Zeuginnen und Zeugen der Hoffnung und der Liebe zu sein. Ob Klimawandel, Ukrainekrieg, Migrationskrise oder Wirtschaftskrise – so schwer und notvoll das für viele Menschen ist – aber letztlich hat nichts davon hat über unser Leben das letzte Wort. Nichts wird uns in der Weise Angst machen können, dass wir glauben, wir könnten unsere Identität verlieren. Paulus sagt uns im Römerbrief deutlich: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? …. All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm8,35-39)

Liebe Schwestern und Brüder, in diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen von Herzen ein frohes und gesegnetes Neues Jahr, gelebt in der rechten Gottesfurcht und im Bewusstsein, wirklich ein Kind des Vaters im Himmel zu sein – zum Zeugnis für die Menschen unserer Zeit und unserer Gesellschaft – und zwar trotz allem, was in der Welt und in der Kirche sonst noch passiert. Amen.

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Die Lesung zur Ansprache: Hebr 12, 18-29

Aus dem Brief an die Hebräer

Schwestern und Brüder,

ihr seid nicht zu einem sichtbaren, lodernden Feuer hingetreten, zu dunklen Wolken, zu Finsternis und Sturmwind, zum Klang der Posaunen und zum Schall der Worte, bei denen die Hörer flehten, diese Stimme solle nicht weiter zu ihnen reden; denn sie ertrugen nicht den Befehl: Sogar ein Tier, das den Berg berührt, soll gesteinigt werden. Ja, so furchtbar war die Erscheinung, dass Mose rief: Ich bin voll Angst und Schrecken.

Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind; zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten, zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels.

Gebt Acht, dass ihr den nicht ablehnt, der redet. Jene haben ihn abgelehnt, als er auf Erden seine Gebote verkündete, und sind (dem Gericht) nicht entronnen; wie viel weniger dann wir, wenn wir uns von dem abwenden, der jetzt vom Himmel her spricht. Seine Stimme hat damals die Erde erschüttert, jetzt aber hat er verheißen: Noch einmal lasse ich es beben, aber nicht nur die Erde erschüttere ich, sondern auch den Himmel. Dieses Noch einmal weist auf die Umwandlung dessen hin, das, weil es erschaffen ist, erschüttert wird, damit das Unerschütterliche bleibt. Darum wollen wir dankbar sein, weil wir ein unerschütterliches Reich empfangen, und wollen Gott so dienen, wie es ihm gefällt, in ehrfürchtiger Scheu; denn unser Gott ist verzehrendes Feuer.

 


Was uns spaltet – und was wir für die Einheit brauchen – Die Ansprache von Bischof Stefan Oster zur Jahresschlussandacht des Vorjahres finden Sie hier.