Von brennenden Herzen, vom Missbrauch und vom Weg nach Ostern

Die Predigt am Abend des Ostersonntag 2022 – auch anlässlich des 95. Geburtstages von Papst em. Benedikt XVI am Vortag – hier zum Nachhören, weiter unten zum Nachlesen (Bilder: A. Kleiner). Im Bild oben erläutert Dr. Franz Haringer ein berühmtes Papstportrait von Michael Triegel, der derzeit eine sehenswerte Sonderausstellung im Geburtshaus hat.

 

Liebe Schwestern, liebe Brüder heute Abend hier in Marktl,

weil wir schon den Ostersonntag Abend haben – habe ich mir erlaubt, das Evangelium vom Ostermontag zu nehmen. Weil es natürlich erstens ein echtes Osterevangelium ist, aber auch weil es so gut zu unserem emeritierten Papst Benedikt und seinem 95. Geburtstag passen – hier an seinem Geburtsort. Ich habe nämlich in einem kleinen Büchlein, das unser Passauer Priester Prof. Manuel Schlögl herausgebracht hat, eine Predigt von 1989 vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger gelesen. Diese Predigt ging erstens über die Emmaus-Geschichte, die wir eben als Evangelium gehört haben. Und zweitens war der Anlass auch ein Geburtstag, nämlich der 60. des mit ihm befreundeten Pfarrers Franz Niegel in Unterwössen, der 2019 verstorben ist.

Das Leben für Christen wird immer größer und weiter

Unser emeritierter Papst schenkt uns darin eine schöne und tiefe Meditation dieses Weges von zweien der Jünger Jesu hinaus aus Jerusalem in ein Dorf namens Emmaus. Ich möchte einige Gedanken von Joseph Ratzinger, die auch auf den heutigen Anlass passen, aufgreifen. Und anschließend auch noch selbst etwas dazu legen. Der Kardinal meditiert in der Predigt damals über das Leben aus dem Glauben als einen Weg auf Ostern hin – durch dunkle und helle Zeiten hindurch. Und er sagt dem Jubilar: „Deswegen können wir Christen dankbar sein, im voranschreitenden Leben immer noch dankbarer werden, weil es nie so ist, dass das Gute nur hinter uns läge, dass allmählich das Leben nur Vergangenheit wäre und daher der Dank in Melancholie umschlüge, sondern je weiter wir vorangehen, desto mehr Zukunft haben wir, weil die Zukunft ‚Ostern‘ und weil sie ‚Christus‘ heißt – und daher nie endet, sondern immer größer und weiter wird.“

Die enttäuschte Hoffnung damals und heute

Joseph Ratzinger verglich in dieser Predigt die Zeit der Emmaus Jünger und ihre Enttäuschung über den Tod Jesu auch mit den Lebenszeiten des damaligen Jubilars. Diese Jünger damals seien Menschen gewesen, die in einer Welt voller Angst, voller Unterdrückung, voller Bedrohungen, Gefahren und Unmenschlichkeiten gelebt hätten. Jesus habe in ihr Leben zunächst Hoffnung gebracht, die aber nun nach dem Karfreitag offenbar wieder zunichte gewesen sei. Und ebenso gab es in den Kriegs- und Nachkriegsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts Erfahrungen und Deutungen wie die, dass Christus womöglich doch gescheitert und nicht mehr da sei. Auch Menschen, die sich Christen genannt hätten, hätten im Wahnsinn von Kriegszeiten die Hoffnungen anderer Christen zertrampelt. Liebe Schwestern und Brüder, wer mag da nicht an heute und die Ukraine denken, wo es wieder passiert: Wo Menschen, die sich Christen nennen gegen Glaubensgeschwister im Nachbarland einen brutalen, vernichtenden Krieg führen. Fragen wir uns da nicht manchmal: Werden sich die Zeiten, wird sich die Welt überhaupt je ändern? Hat sie sich seit Ostern vor 2000 Jahren überhaupt verändert?

Ostern verändert alles

Sie hat, liebe Schwestern und Brüder, es gibt diesen Lichtblick, es gibt diesen anderen Blick und den anderen Ausblick auf die Welt genau durch das, was wir heute feiern, durch das Osterfest. Für die Menschen, die sich gläubig einlassen können auf die Auferstehung Jesu, auf seine Person, für diese Menschen ändert sich buchstäblich alles. Joseph Ratzinger weist in dieser Predigt auf die vielleicht schönste Formulierung hin, die sich in der Erzählung von den Emmaus-Jüngern findet. Sie findet sich, nachdem Jesus den langen Nachmittag am Auferstehungstag mit ihnen gegangen war; nachdem er ihnen die Schrift aufgeschlossen und sie auf den Messias hin gedeutet hatte; nachdem sie ihn dann am Abend eingeladen hatten und er mit ihnen das Brot brach; und nachdem sie ihn dann plötzlich erkannten und er sich zugleich mit ihrem Erkennen ihren Blicken wieder entzog – jetzt sagen sie zueinander diesen wunderbaren Satz: „Brannte uns nicht das Herz, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften erschloss?“

Das brennende Herz von Joseph Ratzinger

Liebe Schwestern, liebe Brüder, ich bin nun von mehreren Dingen überzeugt. Erstens: Im Herzen von Joseph Ratzinger hat es vermutlich sehr früh in seinem Leben zu brennen begonnen; die Faszination für Christus. Das immer tiefer Erkennen-dürfen, wer er ist, wie er ist. Und vieles, was damit zusammenhängt: Wer die Kirche Jesu ist, was die Schrift bedeutet, die Tradition, die Menschheitsgeschichte und mehr. Aber auch, was für ein Rätsel der Mensch ist und welches Licht dann von Christus her auf dieses Rätsel Mensch fällt – und den Menschen verstehen hilft. Den Menschen in seiner Schönheit und Größe, den Menschen mit seinen Sehnsüchten und Antrieben, aber auch den Menschen mit seinen Tragödien und Abgründen. Liebe Schwestern und Brüder, ich kann mir kaum einen besseren und tieferen Erklärer für all diese Dinge denken als unseren verehrten emeritierten Papst. In ihm brannte und brennt das Herz für Christus. Und dieses Licht scheint im Grunde durch alles seine Texte hindurch. Zweite Überzeugung: Wenn das Licht von Ostern, wenn der Auferstandene einmal so in ein Menschenherz hineingewirkt hat, wie es die Jünger von Emmaus erlebt haben, dann ändert sich von diesem Moment an alles. Dann ändert sich der Blick des Menschen auf die Welt – und damit ändert sich eben auch die Welt. Unsere Welt lebt also in ihrer tiefsten Hoffnung letztlich von den Menschen, die dem Auferstandenen begegnet sind und aus diesem Vertrauen mit immer neuer Hoffnung leben. In einem der ältesten Texte der Christenheit, dem so genannte Brief an Diognet, lesen wir den einfachen, tiefen Satz: „Was die Seele im Leib ist, das sind die Christen in der Welt.“ Und die dritte Überzeugung: Josef Ratzinger hat als junger Priester, als Theologieprofessor, als Erzbischof, als Glaubenspräfekt, als Papst und auch als Papst im Ruhestand zuerst und zuletzt dafür gelebt und gewirkt, dass Christus in den Herzen der Menschen zu brennen beginnt. Gestern ist er 95 geworden, wie bei seiner Geburt wieder an einem Karsamstag. Getauft mit dem frisch geweihten Osterwasser, geweiht zum Dienst daran, dass in den Herzen von uns allen und von möglichst vielen Menschen auf der Welt Ostern wird, dass das österliche Licht in uns zu leuchten beginnt.

Ein Mann mit bleibender Nähe zur Heimat und zum einfachen Volk

Und wir, liebe Schwestern und Brüder, wir hier in unserem Bistum Passau, und Sie alle hier im Geburtsort Marktl, wir haben das große Privileg mit ihm in besonderer Nähe und Verbundenheit sein zu dürfen. Ganz viele seiner Schriften und vor allem auch seiner Predigten sind nicht schwer zu lesen, er ist ja ein Meister der Sprache. Und er kommt aus dem einfachen Volk und hat die Verbindung zu den Menschen seiner Heimat nie abreißen lassen. Auch das spürt man in all seiner Gelehrsamkeit und Tiefe immer noch. Ich würde mir wünschen und mich freuen, wenn auch unsererseits diese persönliche Verbundenheit mit ihm hier in Marktl und in unserem Bistum dazu führen würde, dass viele von uns auch leichteren Zugang finden zu seinem Leben und Denken, zu seinen Texten und zu seinem Geburtshaus hier. Und zwar gar nicht so sehr, damit wir Joseph Ratzinger selbst besser kennenlernen. Das natürlich auch! Aber vor allem, dass wir mit seiner Hilfe und seinem Lebenswerk Christus besser kennenlernen, und so auch das innerste Geheimnis seiner Kirche tiefer verstehen.

Der Missbrauch und die Verantwortung des damaligen Erzbischofs

Und damit bin ich bei einem Punkt, den ich heute natürlich auch noch ansprechen möchte und muss: Die allgemeine Krise des Glaubens und unserer Kirche, die sich durch die Erkenntnisse des Missbrauchs noch einmal dramatisch verschärft. Und sie verschärft sich zuerst und vor allem deshalb, weil wir bitter erkennen und verstehen müssen, wie wenig wir als Institution Kirche die Schwere des Verbrechens, die Schwere seiner Folgen, die Not der Betroffenen von sexuellem Missbrauch gesehen haben oder wie wenig wir sie als Kirche sehen wollten oder auch sehen konnten. Und natürlich war auch Erzbischof Ratzinger ein in besonderer Weise Verantwortlicher in dieser Institution, in diesem System. In einem System, das sich im Ganzen, einschließlich der Verantwortungsträger, aber auch einschließlich nahezu aller Gläubigen, diesem Problem und den von Missbrauch betroffenen Menschen nicht stellen wollte oder es wohl auch noch nicht konnte. Und ja, dadurch haben Verantwortungsträger im System auch dazu beigetragen, dass sich Not von Betroffenen vermehrt hat. Womöglich auch, dass Täter unbeachtet und geschützt vom System weiter Verbrechen begehen konnten – ohne entdeckt oder geahndet zu werden. Liebe Schwestern und Brüder, ich bin sehr dafür und auch bemüht darum, dass man diese Dinge klar benennt und dass wir alles auch gut und sorgfältig aufarbeiten. Und auch Benedikt XVI. selbst hat die Fehler der Kirche und auch seine Verantwortung darin klar benannt, zuletzt in einem Brief, nachdem sich nach dem Erscheinen des Münchner Gutachtens eine öffentliche Debatte um seine Person entzündet hatte. Wörtlich schreibt er darin: „Wie bei meinen Begegnungen“ mit Betroffenen des Missbrauchs „kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs zum Ausdruck bringen. Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen. Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind.“

Derjenige, der begonnen hat, das System zu verändern

Aber, liebe Schwestern und Brüder, ich bin auch dafür, dass wir dann auch gut hinschauen und würdigen, wie sehr sich Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation dafür eingesetzt hat, dieses System mit der Neigung zur Vertuschung und Verdrängung und der Neigung zum Schutz der Institution durch vielerlei wirksame Maßnahmen zu verändern – und vor allem auch ganz konkret die Betroffenen in den Blick zu nehmen. Ich bin überzeugt, dass er das von dem Moment an begonnen hat, als ihm selbst aufgegangen ist, wie schwerwiegend und folgenreich solche Taten sind, wie sehr Menschen dadurch geschädigt werden und wie häufig es in der Kirche vorgekommen ist und vorkommt. Warum von diesem Moment der Erkenntnis an? Weil ich ihm glaube, dass er – wie sein Wahlspruch sagt – wirklich ein „Mitarbeiter der Wahrheit“ sein will. Es ist nicht – wie bisweilen behauptet wird – eine so genannte Ratzinger-Kirche, die Vertuschung erst ermöglicht hat. Wenn wir überhaupt so reden dürfen, dann hat unsere Kirche als Institution unter der Leitungsverantwortung von Joseph Ratzinger nach meiner Kenntnis zum ersten Mal systematisch und ganz massiv begonnen sich so zu verändern, dass Betroffene wirklich in den Blick kommen und dass effektive Maßnahmen ergriffen wurden, die Missbrauch möglichst verhindern. Ich glaube, die Geschichte wird einmal zeigen, dass sehr entscheidende Impulse zu dieser Veränderung von seiner Leitung ausgingen. Und ich glaube auch, dass diese Veränderung weitergeht und weitergehen muss, um Betroffenen weiter beizustehen und das Schlimme in Zukunft möglichst zu verhindern.

Fehlende brennende Herzen lassen Kirche nur mehr Fassade werden

Und ich glaube schließlich auch, liebe Schwestern und Brüder, und damit greife ich den Punkt der brennenden Herzen wieder auf: Ich glaube, dass wir heute und wohl schon seit einigen Jahrzehnte bei uns in einer Kirchenerfahrung leben, in der der Glaube daran, dass echte österliche Erfahrung möglich ist, immer mehr abhanden kommt. Und wenn das stimmt, dann sind im Durchschnitt die getauften Christinnen und Christen bei uns nicht mehr überwiegend die Menschen, in deren Herzen etwas brennt, weil sie dem Auferstandenen glauben oder ihm gar innerlich begegnet sind. Und wenn auch das stimmt, wenn diese Menschen immer weniger werden, dann laufen wir umgekehrt immer noch mehr Gefahr, dass ganz viel in unserer Kirche eben fast nur noch Struktur, Verwaltung, Institution – und damit letztlich Fassade wird. Ausgehöhlt von innen – selbst, wenn es äußerlich noch blendend da steht. Und auch deshalb, liebe Schwerstern und Brüder, ist die eigentliche Erneuerung von Kirche immer wieder die österliche Erneuerung unserer Herzen. Womit wir wieder beim Lebensthema und eigentlichen Herzensanliegen von unserem emeritierten Papst sind. Daher möchte ich ihm von hier aus seinem Geburtsort Marktl zurufen:  Heiliger Vater, verehrter Papa emeritus, wir sind voll Dankbarkeit für Ihren Dienst und für Ihr großes Lebenswerk, für ihre Verbundenheit mit der Heimat und für ihr brennendes Herz für den Auferstandenen. Wir wünschen Ihnen allen Segen des Himmels zu Ihrem 95. Geburtstag. Seien Sie sich unserer Verbundenheit und unseres Gebets gewiss – und bitte beten auch Sie für uns in Ihrer alten Heimat. Alles Gute für Sie in Rom.

Pfarrgemeinderatsvorsitzende Sandra Maier und Magdalena haben Bischof Stefan in Marktl beim Geburtshaus von Papst em. Benedikt begrüßt.

 

Oben: Eindrücke vom österlichen Festgottesdienst und anschließendem Gruppenfoto vor dem Geburtshaus mit Ministranten und Konzelebranten – v.l. der theologische Leiter des Geburtshauses, Dr. Franz Haringer, Pfarrer Peter Meister (2.v.li) und Dekan Heribert Schauer (re.)

 

Beim anschließendem Stehempfang bin ich dem 15jährigen Jakob Preißler begegnet, der in großartiger Weise den Projektchor mit kleinem Orchester beim Gottesdienst dirigiert hat.