Wen kann man denn heute noch wählen? Und was ist mit dem Lebensschutz?

Liebe Geschwister im Glauben,

als Deutsche Bischofskonferenz haben wir kürzlich eine Erklärung veröffentlicht, in der wir sagen, dass völkischer Nationalismus mit dem christlichen Menschenbild und mit der Würde, die wir ausnahmslos jedem Menschen zuerkennen, nicht vereinbar ist. Die Erklärung ist unten noch einmal verlinkt.1https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2024/2024-023a-Anlage1-Pressebericht-Erklaerung-der-deutschen-Bischoefe.pdf Und weil wir beobachten, dass diese Ideologie am rechten Rand des politischen Spektrums immer ausdrücklicher vertreten wird, haben wir auch eine Empfehlung ausgesprochen, die AfD eher nicht zu wählen. Wir beobachten besonders in dieser Partei, seit sie auf der politischen Bühne aufgetaucht ist, eine ständig sich steigernde Radikalisierung. Nicht wenige Mitglieder, die die Partei früher anders geprägt haben, haben sie verlassen. Nach meiner Beobachtung wird die Kultur des politischen Diskurses auch durch die Afd und ihre Entwicklung fortwährend schlechter, die Polarisierungen nehmen massiv zu. Ein wirkliches Interesse an demokratischer Willens- und Meinungsbildung im Diskurs kann ich dort kaum erkennen, fundamentale Systemkritik gegen alles, was nach „die da oben“ aussieht, dagegen immer stärker. Aus all diesen und anderen Gründen, die die Erklärung bringt, trage ich diesen Text auch mit.

Und was ist mit den Extremen am linken Rand?

Mir ist aber auch bewusst – und das will ich hiermit gern ergänzen – dass auch der Einfluss linker, vor allem linksextremer politischer Strömungen ebenfalls zu dieser Polarisierung beiträgt. Bisweilen ähneln sich der rechte und der linke Rand vor allem im Blick auf Identitätsfragen: Hier das völkisch-identitäre Denken, dort ein wokes Identitätsdenken. Jenes will Deutschland möglichst ethnisch sauber halten, dieses sieht Unterdrückung gegen Minderheiten überall am Werk – oft aus dem einzigen Grund, dass es eben Minderheiten sind. Und solches Denken will dann von links eine Vorstellung von „Vielfalt“ ausdrücklich ebenfalls gegen etablierte politische Strukturen befördern – um diese des vermeintlichen Machtmissbrauchs zu überführen.

Paradox ist, dass sich dabei unter dem Stichwort „Vielfalt“ eine „cancel culture“ breitmacht, die ihrerseits hoch autoritär nur die eigene Auswahl dessen zulässt, was zu „Vielfalt“ gehören darf und was nicht. Alles, was nach „Patriarchat“ riechen könnte, jedenfalls nicht. Da wie dort geht es nach meiner Überzeugung um den Umbau der Gesellschaft von ihren Wurzeln her. Und wir wissen, dass solcher Umbau – da wie dort – letztlich auf autoritäre Systeme zielt, die ihre Positionen mit Macht und Unterdrückung durchsetzen werden – und gegen eine Form eines freiheitlichen Rechtsstaates. Dieser aber ist eine Staatsform, die wir alle die letzten mehr als sieben Jahrzehnte in unserem Land genießen durften.

Der Beitrag des christlichen Menschenbildes

Als Bischöfe halten wir es deshalb für problematisch, wenn Menschen, die sich zu ihrem Glauben an Christus bekennen, in den politischen Wahlen in unserem Kontext für Extrempositionen entscheiden. Wir stehen für eine freiheitliche, demokratische Grundordnung, in der die Würde des Menschen und ihr Schutz oberste Richtschnur ist. Denn die Idee von der Würde ausnahmslos jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Religion, Herkunft, unabhängig auch von physischer und psychischer Verfassung, Gesundheit oder Krankheit, Alter oder Behinderung – ist nicht denkbar ohne den Beitrag des christlichen Glaubens, der uns Gott als den Schöpfer und Vater aller Menschen vorstellt.

Ist alles „rechts“, was nicht „links“ ist?

Natürlich sehe ich auch, dass viele Menschen, gerade auch Christinnen und Christen,  aus guten Gründen heute fragen: Welche Partei ist denn dann heute für mich überhaupt wählbar? Wie schnell scheint alles schon „rechts“ – nur weil es nicht „links“ ist oder mit den derzeitigen Regierungsparteien und deren Politik geht? Und wie wenig zählen in unserer Parteienlandschaft generell noch christliches Menschenbild im Blick auf Lebensschutz oder Familienbild? Und wer wagt es noch, ehrlich die Probleme zu benennen, die sich durch starke Zuwanderung vor allem dann ergeben, wenn Integration nicht oder nur mäßig gelingt – ohne als rechts oder islamophob bezeichnet zu werden? Andererseits sehen viele Menschen, die eine sehr kritischen Blick auf die Migrationspolitik haben, auch kaum, dass zum Beispiel unser Gesundheits- und Pflegesystem oder andere Dienstleistungsbranchen ohne die vielen Arbeitskräfte aus dem Ausland schon längst nicht mehr in der bisher gekannten Weise funktionsfähig wären.

Drei Kennzeichen einer „Zeitenwende“ weg vom christlichen Menschenbild

Das Menschenbild macht mir übrigens am meisten Sorgen: Die Extrempositionen von rechts (völkisch) und links (woke) habe ich bereits genannt. Aber drei weitere Tendenzen sind mir ein Kennzeichen dafür, dass wir tatsächlich in einer „Zeitenwende“ leben, wie Papst Franziskus immer wieder sagt. Nie zuvor – so meine ich – wurde in unserer ursprünglich christlich geprägten Gesellschaft assistierter Suizid als Geschäftsmodell ermöglicht, nie zuvor wurde in dieser Deutlichkeit das Töten von Kindern im Mutterleib ausdrücklich als Menschenrecht proklamiert, nie zuvor hat man bereits Kindern vorgeschlagen, dass der Wechsel des eigenen biologischen Geschlechts eine echte Option sein könnte. Und natürlich sehe ich dabei auch die Nöte von Menschen in Grenzsituationen zwischen Leben und Tod, von ungewollt schwangeren Frauen und von Menschen, bei denen Geschlechtsdysphorie Leid verursacht.

Aber dennoch zeigen die genannten Phänomene in ihrer so prominenten medialen und politischen Präsenz – oft genug mit ideologisch geprägtem Beigeschmack -, dass unser Bild und Verständnis vom  Menschsein eben nicht mehr grundlegend von christlichen Vorstellungen bestimmt ist.

Viele Krisen, die Positionierungen verlangen, kommen hinzu. Die Kriege in Israel und in der Ukraine, die Klimafragen, die Folgen der Pandemie, die digitale Revolution und die unbegrenzte Macht der großen Tech-Konzerne und anderes mehr. Europa scheint uneins, der Ausgang der Wahlen in den USA ungewiss. Der Einfluss des totalitären China auf die Welt wächst.

Wer arbeitet für eine Stärkung und Erneuerung unserer freiheitlichen Demokratie

Alles das und anderes mehr lässt viele Menschen heute Angst haben mit Blick auf Gegenwart und Zukunft – und lässt sie nach verlässlicher Orientierung fragen. Und es lässt sie dann bisweilen auch nach populistischen Lösungsangeboten greifen, die aber letztlich keine sind. Eben deshalb will unser Bischofswort zum völkischen Nationalismus die Mitte stärken. Und ich möchte es deutlich sagen: Wir wollen auch Menschen, die die AfD wählen wollen, keineswegs einfach be- oder gar verurteilen. Wir wollen ins Gespräch kommen, wir wollen zuhören und voneinander lernen, wir wollen aber auch fragen: Schauen wir genau genug hin?

Wir wollen all jene politischen Kräften stärken und unterstützen, die ausdrücklich eine Stärkung und Erneuerung dessen anzielen, was unser Land die letzten Jahrzehnte so ausgezeichnet hat: Eine demokratische, freiheitliche Kultur, die ohne unser christliches Menschenbild nicht denkbar war und ist. Eine Kultur, in der aber auch jeder Mensch Raum für seinen Glauben und seine religiöse Praxis hat. Wir brauchen daher Einsatz für das Gemeinwohl, wir brauchen ein Miteinander, in dem die eine die andere Person nicht schon deshalb verdächtigt, weil sie anderer Meinung oder anderer Herkunft ist.

Wir brauchen neues Vertrauen, auch in unsere wesentlichen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen,  wir brauchen sehr dringend eine Stärkung der Medienkompetenz aller, besonders der jungen Menschen.  Wir brauchen eine Gesellschaft, in der die Zuversicht auch deshalb wieder wächst, weil sie in wesentlichen Fragen, zum Beispiel in der Zustimmung zu unserem Grundgesetz, zusammenhält. Wir brauchen vor allem auch ein gelassenes Vertrauen, dass am Ende unser Gott die Welt in seinen Händen hält. Es ist der Gott, den uns Jesus als barmherzigen Vater vorgestellt hat. Dieser Vater ist und bleibt der Herr, der die Welt liebt und trägt – immer.

Der Beitrag der Christen

Aus unserer christlichen Sicht ist auch diese heutige Welt – wie zu allen Zeiten – eine wunderbar geschaffene und zugleich gebrochene und erlösungsbedürftige Welt. Denn als Christinnen und Christen sagt uns unser Glaube: Der Mensch alleine kann kein Paradies auf Erden schaffen – und wo immer er es versucht hat, hatte es katastrophale Folgen für viele. Deshalb: Wir wollen unseren Beitrag leisten zu einem Miteinander der Menschlichkeit, zu einem Miteinander des Friedens, der Solidarität und der Bewahrung der Schöpfung. Und zu einem Ja zu allen Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit.

Wir Christen sind dazu in besonderer Weise berufen, weil wir voller Vertrauen darauf setzen können, dass Christus die Welt schon erlöst hat – und dass wir zu Ihm gehören, was auch kommen mag. Wir haben in uns eine Quelle, ein Licht, ein Leben – durch Taufe und Firmung, durch Gemeinschaft und Dienst – die nicht totzukriegen sind, was auch kommen mag. Immer wieder waren es Christinnen und Christen, die durch ihr Zeugnis Welt verändert haben. Und zwar genau deshalb, weil all diese geschichtlichen Bedingungen und Herausforderungen, unter denen wir heute leben, alles auch, was uns Angst machen will und kann, letztlich nicht dorthin reicht, wo für uns auch die Quelle der Freude, des Friedens und der Zuversicht ist. „Nichts kann uns trennen von der Liebe Christi“, sagt uns der Hl. Paulus und nichts kann uns trennen von unserem Vater, der mit gütigem Blick auf alle seine Kinder schaut – was auch kommen mag.

Keine Partei ist perfekt!

Liebe Geschwister im Glauben, wenn Sie jetzt also nochmal fragen: Welche Partei soll ich denn wählen? Dann würde ich zunächst sagen: Keine einzige Partei ist ideal oder entspricht in ihrem Programm ganz dem Evangelium oder unserer gläubigen Überlieferung. Es gibt in jeder Partei Punkte, die wir mittragen können und solche, mit denen wir uns auch schwer tun oder die wir ablehnen müssten. Aber wählen Sie eine Partei oder ihre Vertreter, von denen Sie glauben, dass sie insgesamt unsere Gesellschaft mit Hilfe jener freiheitlich-demokratischen Ordnung konstruktiv weiterbringen wollen, auf die sie unsere Verfassungsväter und -mütter gestellt haben und die ehrlich eintreten für das Gemeinwohl und die Würde aller Menschen. Und auch wenn das nie vollständig nach Ihren oder meinen Vorstellungen möglich ist, dann fragen wir eben nach jenen politischen Kräften, die dem, was wir für ein freiheitliches, demokratisches und menschenwürdiges Gemeinwesen halten, in ihrem Einsatz am nächsten kommen. Und da gäbe es dann nach meiner Einschätzung schon noch Auswahlmöglichkeit.

Mein Ordensvater, der Hl. Don Bosco, hat einmal gesagt – befragt nach seiner politischen Einstellung in den unruhigen Zeiten des 19. Jahrhunderts in Italien: Unsere Politik richtet sich nach dem „Vater Unser“. Kein so schlechtes Wort, finde ich – um gelassen zu bleiben und miteinander nach jenen Kompromissen zu suchen, die das Gemeinwohl am besten befördern.

Und was ist mit dem „Marsch für das Leben“?

Ein letztes Wort schließlich noch zu meiner kürzlichen Einlassung, ich sei unentschieden, was meine Teilnahme am „Marsch für das Leben“ angeht. Ich war im Jahr 2019 dabei, auch als Redner auf der Bühne. Und ich trage das Anliegen selbstverständlich jederzeit mit. Ich bin auch der Überzeugung, dass es die Präsenz der Anliegen des Lebensschutzes im öffentlichen und politischen Raum dringend braucht – gerade auch von Christinnen und Christen. Deshalb bin ich dankbar für jeden und jede, die sich hier engagieren, die mitgehen und die ihr Gesicht zeigen.

Ich bin inzwischen aber nicht mehr sicher, ob es tatsächlich genau diese Form der Präsenz ist, die den Anliegen in unserem deutschen Kontext am besten dient. Womöglich lässt sich der Marsch zu leicht beschädigen, zu leicht inhaltlich kapern und dann das Interesse auf Nebenthemen lenken, die nicht die unseren sind. Und ob der Begriff „Marsch“ für die Veranstaltung tatsächlich noch in die Zeit passt, frage ich mich natürlich auch. Aber wie gesagt: Es ist ein Prozess, bei dem ich nicht entschieden bin. Und ich lass mir gerne auch gute Gegenargumente gefallen und gehe, wenn sie mich überzeugen, auch gerne wieder mit. Und selbstverständlich bin ich auch offen für gute neue Ideen, um diesem so wichtigen Anliegen für unsere Zeit, mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Das Statement kann auch als Video angeschaut werden:

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