Warum nur kann der Mensch so schwer „ruhig in seinem Zimmer bleiben“? (Pascal)

Ansprache bei der Jahresschlussandacht 2020 im Passauer Dom – hier zum Nachlesen und als Video.

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Liebe Schwestern und Brüder,

der berühmte französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert hat einen Satz aufgeschrieben, der mir immer wieder zu denken gibt. Er sagt: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Ein Jahr einer Welt im Unglück

Nun haben wir ein Jahr hinter uns, dass ohne Zweifel viele Menschen und im Prinzip die ganze Welt in ein Unglück gestürzt hat. In das Unglück der Corona-Pandemie. Dieses Unglück hat Leben zerstört, hat wirtschaftliche Existenzen bedroht oder vernichtet, hat Menschen bis über die Grenzen des Machbaren herausgefordert. Das Unglück hat Trauernde hinterlassen, die ihre Lieben nicht einmal mehr sehen konnten. Es hat Gesundheitssysteme in verschiedenen Gesellschaften an den Rand des Zusammenbruchs gebracht oder zusammenbrechen lassen. Es hat Pflegeheime in die Krise gestürzt. Es hat über Monate unser Land lahm gelegt, unsere Kirchen mussten ebenso geschlossen bleiben, wie kulturelle Veranstaltungen, Sportveranstaltungen, Gaststätten und anderes mehr. Eine Unglück für viele. Und all dieses Unglück nur deswegen – um auf Pascal zurückzukommen – weil wir nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können?

Der Papst auf dem Petersplatz

Das, liebe Schwestern und Brüder, wäre sicherlich zu einfach, zu schnell geschlossen. Aber ich erinnere mich auch immer wieder an einen Satz, den Papst Franziskus Ende März in der Hochphase des ersten Lockdown auf dem leeren Petersplatz über die Medien in die ganze Welt hinein gepredigt hat. Er sagte als Gebet in Richtung Gott: „In unserer Welt… sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen lassen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden.“

Die Welt der Getriebenen

In diesen Sätzen liegt in wenigen Strichen gezeichnet eine dramatische Weltsituation da und mit ihr ein Blick auf die Menschheit im Allgemeinen. Franziskus skizziert eine Welt, in der wir Menschen getrieben sind von dem Wunsch alles Mögliche für uns zu besitzen und zu vermehren – und gleichzeitig gleichgültig und abgestumpft werden gegenüber den Krisen der Welt und vieler ihrer Menschen. Fehlt uns also als Menschheit insgesamt Sensibilität? Die Fähigkeit, Not wahrzunehmen und solidarisch zu leben? Von dieser knappen Analyse des Papstes – das spüren Sie vielleicht – ist nun das Diktum von Pascal doch nicht so weit weg: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Wir können gar nicht nicht glücklich sein wollen

Warum fällt uns das schwer, „ruhig in einem Zimmer zu bleiben“? Weil wir als Menschen grundsätzlich Wesen sind mit Wünschen, mit Wollen, mit Antrieben. Wir brauchen einen Sinn für unser Leben, und wenn es nur die Antwort auf die Frage ist: Welchen Sinn hat es, dass ich am Morgen aufstehe, mein Bett mache, unter die Dusche gehe und mich fertig mache? Fertig für was? Ich brauche einen Sinn, sonst bleib ich eher träge liegen. Also zum Beispiel um zu arbeiten und Geld zu verdienen, um mich um meine Familie zu kümmern, um einer Tätigkeit nachzugehen, die mir Spaß macht, um mich fit zu halten, um anderen zu helfen und so weiter. Wir Menschen brauchen Sinn und wollen glücklich sein. Thomas von Aquin, der große Theologe des Mittelalters, hat übrigens gesagt, dass der Mensch gar nicht anders kann, als glücklich sein zu wollen. Alles, was wir tun, hat im Grunde immer im engen oder weiteren Sinn damit zu tun, dass wir hoffen, glücklich zu sein oder zu werden. Und weil wir nicht anders können, ist der Wunsch glücklich zu sein, würdig und recht. Er gehört zu uns.

Glück durch Anreicherung des Ego?

Unser Problem ist freilich sehr oft: Wir hoffen den Sinn und das Glück von außen zu bekommen, indem wir bestätigt werden, indem wir uns reicher machen, indem wir uns Dinge leisten und gönnen können, indem wir uns ins Vergnügen stürzen, indem wir beruflich auf die nächste Karriereleiter steigen. Durchschnittlich tun wir Menschen also ziemlich viel, um unser Ich, unser eigenes Ego, anwachsen und bestätigen lassen. Und dann hoffen wir, irgendwann einmal uns selbst anschauen zu können und haben dabei auch die Maßstäbe der Gesellschaft im Blick und wir hoffen dann sagen zu können: „Schau, wie toll: Jetzt endlich ist alles da, Geld, Sicherheit, berufliche Positionen, Haus, Auto, Swimmingpool, Familie mit Kindern und Hund.“ Und wir hoffen, dann sagen zu können: „Das hab ich gut gemacht. Ich hab’s mir verdient“.

Halte ich mich selbst aus?

Als Christen spüren sie, spüren wir vermutlich alle, liebe Schwestern und Brüder, dass tatsächlich viele Menschen so unterwegs sind. Und tatsächlich kenne ich diese Versuchung auch von mir selbst, zum Beipsiel in der Form: „Wenn ich das und jenes alles gemacht und erreicht habe, dann bin ich ein guter Bischof. Und dann endlich findet mich auch der liebe Gott gut!“ Aber insgeheim sage ich damit auch: „Er muss mich dann ja gut finden, weil ich es so gut hinbekommen habe.“ Und genau so eine Haltung macht dann rastlos, umtriebig, angetrieben mit dem Wunsch, immer neu, dieses Ego anzureichern, das letztlich auch wieder nur unter dem Schein des Guten daherkommt. Der Schein lautet: „Ich tu ja alles für die Kirche – nichts für mich – das sieht ja hoffentlich jeder – und meine: hoffentlich sieht jeder doch zuerst: mich.“ Und eben damit komm ich letztlich an kein Ende, weil die tiefere Erfahrung hinter diesem Schein ist: „Eigentlich genügt es nie. Eigentlich genügst du nie!“. Und dasselbe gilt für viele andere, etwa den erfolgreichen Karrieremenschen, der am Ende vielleicht sogar alles hat, was er am Anfang seines umtriebigen Weges wollte. Aber wenn er endlich alles hat, was macht er eigentlich dann mit seinem Umtrieb, Antrieb. Ist dann nicht erst recht die Erfahrung da: „Es genügt doch noch nicht. Ich genüge noch nicht. Ich brauche noch mehr von allem.“?! Und steckt dahinter letztlich nicht die Erfahrung: „Ich genüge letztlich mir selbst nicht. Ich kann mich selbst kaum aushalten. Ich kann nicht einfach nur mit mir ruhig in einem Zimmer sein, wie Pascal sagt, weil ich sonst den Sinn verliere, der mich antreibt: Den Wunsch nach mehr! Wenn ich ehrlich bin: Ich halte mich selbst nicht aus, ich halte es mit mir selbst nicht aus.“ Das ist in der Tiefe ein Zustand von vielen heutigen Menschen heute, meine ich. Und vermutlich eine Versuchung von uns allen.

Ist es gut, dass ich da bin – einfach so?

Ist es damit aber nicht oft ein Mangel an einem ehrlichen, tiefen Ja zu sich selbst, ein Mangel an dem Bewusstsein, sich selbst annehmen und bejahen zu können, ein Mangel an dem Vertrauen dass es doch zuerst einmal genügt, dass ich da bin; ein Mangel an der Fähigkeit auch für sich selbst den Satz zu glauben: „Es ist gut, dass ich da bin.“? Ist es nicht so ein Mangel, der uns unfähig macht, einfach bei uns zu bleiben, in Ruhe einfach da zu sein und gegenwärtig zu sein. Und wenn Pascal im 17. Jahrhundert die Worte benutzt „ruhig in einem Zimmer bleiben“, dann erweckt das die Vorstellung von einem Zimmer, in dem ich alleine bin, bei dem die Tür zu ist und ich Ruhe habe. Heute aber haben auch noch unsere ruhigen Zimmer alle einen W-Lan-Anschluss und das Smartphone ist überall dabei. Ich muss ja zu jeder Sekunde wissen, dass ich gefragt, gebraucht bin, ich muss in jeder Sekunde das Google-Wissen der Welt abrufen können, in jeder Sekunde wissen, was die Bekannten machen und eine Pizza bestellen können, wenn mir danach ist. Das Smartphone ist oft auch im ruhigsten Zimmer dabei, damit ich in der täglichen Jagd nach Sinnstiftung nicht plötzlich draußen bin. „Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden“, hat der Papst vor dem leeren Petersplatz gesagt.

Der alte Simeon und die alte Hannah

Liebe Schwestern und Brüder, wir haben im Evangelium eben von Simeon gehört, einem alten Mann, von dem es heißt, dass er gerecht und fromm war und auf die Ankunft des Messias gewartet hat. Er geht in den Tempel und begegnet Maria, Josef und dem Kind – und er erkennt in dem Kind die Erfüllung seiner Erwartung. Und auch von der alten Hannah, die seit Jahrzehnten als Witwe Tag und Nacht im Tempel fastet und betet wird noch erzählt, dass sie das Kind erkennt. Viele andere, die um sie herum sind, erkennen vermutlich nichts. Und vermutlich war es damals viel Tempelbetrieb in Jerusalem – wie eh und je. Die beiden alten Menschen erkennen das Kind, sie schauen hinter den alltäglichen Eindruck einer Mutter und eines Vaters mit ihrem Baby. Sie sehen von diesen Dreien etwas ausgehen, was offenbar an Licht erinnert. Etwas, was wir vielleicht mit heutigen Worten eine intensive Ausstrahlung nennen würden. Und Simeon sagt sehr bemerkenswerte Worte, die in die Komplet Eingang gefunden haben, in das Nachtgebet der Kirche – das zahllose Gläubige auf der ganzen Welt jeden Abend beten. Simeon sagt: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden, denn meine Augen haben das Heil gesehen. Ein Licht, das die Heiden erleuchtet. Und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lk 2, 29-33).

Simeon ist im Frieden

Simeon sagt damit: Nun ist er vollends zufrieden. Er kann sterben Er hat den gesehen, auf den Israel gewartet hat. Jahrhunderte und Jahrtausende. Er, das Kind, gibt dem Simeon den inneren Frieden. Auf ihn hin war er unterwegs: Seine Augen haben das Heil gesehen, das Licht und die Herrlichkeit. Wenn ein Jude im ersten Jahrhundert das Wort Herrlichkeit im Tempel sagt, dann hören andere hier sofort etwas mit. Mehrmals wird nämlich im Alten Testament geschildert, dass sich die Herrlichkeit Gottes über dem Offenbarungszelt der Israeliten auf ihrem Zug durch die Wüste niedergelassen hat und dass sich später dann auch Gottes Herrlichkeit über den Tempel in Jerusalem ausgebreitet hat. Offenbar war das eine Erfahrung von großer Dichte, eine ehrfurchtgebietende Atmosphäre: lichtvoll und majestätisch. Die Menschen konnten diese besondere Atmosphäre in das Wort bringen: „Hier im Tempel, hier wohnt Gott auf geheimnisvolle Weise, hier wohnt sein Name, seine Herrlichkeit.“ Und deshalb konnte man sich ja dem Tempel auch nur mit großer Demut und Ehrfurcht nähern.

Die Herrlichkeit Gottes kehrt in den Tempel zurück

Aber andererseits hatte der Prophet Ezechiel sechs Jahrhunderte zuvor in einer Vision beschrieben, wie die Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel ausgezogen war und den Tempel verlassen hatte – weil Israels Priester Götzendienst betrieben hatten und das Volk auch im moralischen Blick auf Gottes Gebote korrupt geworden war. Die Herrlichkeit Gottes hatte den Tempel verlassen – und Israel wartet gewissermaßen auf die Rückkehr der Gottespräsenz, auf die Rückkehr der Herrlichkeit. Später als erwachsener Mann wird Jesus selbst im Tempel die Händler austreiben und ihnen vorwerfen, sie würden aus dem Tempel eine Markthalle machen, einen Ort profaner Geschäftemacherei. Offenbar hatte der Tempel tatsächlich etwas Entscheidendes verloren, nämlich die Atmosphäre, das Gewicht der Anwesenheit Gottes. Und in diesem ganzen Kontext bekommt der Hinweis des alten Simeon ein unglaubliches Gewicht: Er preist das Kind Jesus als „Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel“. Kann es tatsächlich sein, dass alles, woraufhin Israel gelebt hat, worauf es gewartet hat, was für Israel Glück und Sinn war, kann es sein, dass sich das in diesem Kind Jesus erfüllt? Kann es sein, dass mit diesem Kind Gottes Herrlichkeit in den Tempel zurück gekehrt ist? Wir Christen sind in den allermeisten Fällen keine Juden gewesen, wir sind aus jüdischer Sich: getaufte Heiden. Für uns ist Jesus also nach den Worten Simeons: „Das Licht, das uns Heiden erleuchtet.“ Was meint Erleuchtung? Nun Simeon kann in Frieden scheiden, kann sterben, sagt er. Auf diesen Moment hin hat er gewartet, hat er gelebt, jetzt hat er ihn gesehen: „Meine Augen haben das Heil gesehen.“

Die Rastlosigkeit kann findet ein Ankommen

Simeon erzählt von einer Erfahrung, die zahllose Christen durch die Jahrhunderte machen durften: Dass die rastlose Suche des Menschen nach mehr Sinn, mehr Glück, mehr Frieden, mehr Sicherheit, mehr Liebe – dass diese rastlose Suche hier ein Ankommen finden kann. Dass sie hier eine Beruhigung, einen inneren Frieden geschenkt bekommt und in die Gelassenheit führt. Ein Ankommen, das gleichzeitig befähigt zum Zeugnis der Liebe und der Wahrheit für andere. Und diese Liebe, Jesus, sagt jedem von uns in diesen Weihnachtstagen:

„Du darfst aufhören, ein getriebener Mensch zu sein.“

„Ich bin gekommen – damit du bei mir Frieden findest. Ich bin gekommen und Mensch geworden wie du – damit du verstehst, wie sehr ich dich liebe. Ich bin gekommen und habe keinen menschlichen Abgrund, keine Sünde, keinen Schmutz, kein Leid und auch nicht den Tod gescheut – in alles das bin ich hinein gestiegen – damit du durch mich aus alledem wieder heraus steigen kannst. Ich bin dir nahe gekommen, weil ich deine innere Finsternis kenne, deine Schuld, dein Getrieben-sein, deine Gottvergessenheit, deinen Mangel an Selbstbejahung – und weil ich durch meine Nähe zu dir deine Rückkehr zu mir bewirken will. Ich bin gekommen, um dich nicht nur auszuhalten, sondern zu lieben – damit du lernst, dich auch selbst auszuhalten – und ruhig in deinem Zimmer zu bleiben. Bei mir, sagt Jesus, bist du daheim – denn ich bin der Tempel selbst, der Ort aller Sehnsucht Israels und Ort der Gegenwart Gottes. Und es ist möglich, dass dein Herz durch mich selbst zum Tempel wird – und du aufhören darfst, ein getriebener Mensch zu sein.“

Wird es nach der Corona-Krise eine andere Welt geben?

Liebe Schwestern und Brüder, unser Papst Franziskus ist ein unaufhörlicher Mahner für eine Welt, die sich durch die Corona-Krise am Ende sogar erneuern kann. Er sagt, dass jede Krise unterscheidet und dass sie am Ende die Guten besser und die Schlechten schlechter macht. Wir sehen das ja auch: Es gibt in der Krise neue, wunderbare Formen von Solidarität und Mitgefühl. Aber es gibt auch neue Formen von Betrug, Ausbeutung und Marginalisierung. Papst Franziskus plädiert dafür, die Chance für eine bessere Welt zu ergreifen: Für ein Wirtschaften, das zuerst den Menschen im Blick behält und nicht den Profit – für ein Wirtschaften, das nicht ausgrenzt, sondern einbezieht. Für eine Sensibilität gegenüber der Schöpfung, die bewahrt und nicht fortwährend ausgebeutet und vergewaltigt wird. Für ein gesellschaftliches Leben, das allen Menschen, vor allem den Armen, Teilhabe gewährt und mehr. Und wenn ich mich frage, wie wir dahin kommen, dann sehe ich für jeden Menschen die Möglichkeit, sich tiefer von dem Licht ergreifen lassen, das sich uns Weihnachten geschenkt hat – und mit dem wir lernen, ruhig in unserem Zimmer zu bleiben, damit wir gestärkt und erneuert und froh in unseren Dienst am Menschen gehen können.

Das Dringliche und das Wesentliche

Und dazu hilft schließlich vielleicht eine einfach Unterscheidung, nämlich der Unterschied zwischen dem Dringlichen und dem Wesentlichen. Das Dringliche ist das, was sich in unserem alltäglichen Betrieb aufdrängt als das, was gleich erledigt werden will – oder das, was sich immer den Anschein gibt, wichtig zu sein, weshalb ich mich gerne auch permanent davon ablenken lasse. Oder mein Antrieb, der meint die eigene Wichtigkeit dadurch zu bestätigen, dass dauernd Menschen irgendetwas von mir wollen. So viel Dringliches drängt sich jeden Tag in unser Leben. Aber wenn wir uns ernsthaft fragen, was davon ist eigentlich nicht nur dringlich, sondern wirklich wesentlich, was käme dabei heraus? In der Regel neigen wir dazu, dem Dringlichen immer den Vortritt zu lassen – und das Wesentliche zu verschieben auf dann, wenn hoffentlich mal Zeit und Muße ist. Daher können wir die Frage verschärfen, indem wir uns vorstellen, wir hätten nicht mehr lange zu leben: Was würden wir uns wünschen getan zu haben? Was wäre dann wesentlich gewesen, wenn es morgen nicht nur mit dem alten Jahr, sondern mit unserem Leben zu Ende wäre? Oft sind es die ganz einfachen Dinge: Hätten wir doch mehr Zeit mit unseren Kindern verbracht oder mit anderen Menschen, die mir lieb sind. Oder sogar mit solchen, mit denen ich noch nicht versöhnt bin. Hätte ich doch mehr Menschen gezeigt, was sie mir wirklich bedeuten. Das wäre wesentlich! Und Gott? Und Jesus? Jesus sagt uns, dass im Grunde das Allerwesentlichste ist, die Beziehung mit Ihm zu leben und zu pflegen. Immer wieder zu Ihm zu gehen, in den Gottesdienst, in die Umkehr zu ihm, zur Beichte. Und am besten jeden Tag mit Ihm einige Zeit ruhig in unserem Zimmer zu bleiben, sein Wort zu meditieren, das eigene Leben vor Ihn zu bringen, danken, Vergebung erbitten. Oder einfach nur schweigend vor Ihm und mit Ihm da sein. Darin wäre schon soviel vom Allerwesentlichsten enthalten, weil wir dadurch auch in den Frieden des alten Simeon finden könnten. Und weil wir daraus auch lernen könnten, so mit Menschen umzugehen und zu leben, wie Jesus: barmherzig, im guten Sinn absichtslos, nicht benutzend und nicht ausbeutend, sondern heilsam, friedvoll, wahrhaftig, demütig. Denn im Grunde ist es ja so, dass unsere eigentliche Berufung ist, mit Gott und den Menschen in heilen, liebenden, ehrlichen Beziehungen zu leben. So ist nämlich auch das Reich Gottes, von dem er fortwährend spricht: Das Reich, in dem der Gott regiert, der Wahrheit und Liebe in sich versöhnt, – und in diesem Reich sind deshalb alle Beziehungen von seiner Gegenwart durchdrungen.

Die Berührung mit dem Licht

Liebe Schwestern, liebe Brüder, das Jahr geht zu Ende, das Corona-Jahr noch nicht. Wir haben einigermaßen gelernt, damit zu leben oder umzugehen. Auch wenn wir immer noch erschreckend hohe Infektions- und Todeszahlen haben und immer noch viel Leid und so viel Mühe bei denen erleben, die sich um die Kranken sorgen. Mit den begonnenen Impfungen scheint zumindest ein wichtiges weltliches Licht am Ende des Tunnels aufzuleuchten. Aber wenn ich die Frage nach dem Sinn der Krise mit Papst Franziskus stelle, dann hoffe ich ebenso, dass wir aus der Krise im menschlichen Sinn besser hervorgehen und nicht schlechter. Und besser werden wir durch die Berührung mit dem, von dem der alte Simeon sagt, nun könne er in Frieden sterben, weil er berührt worden ist, von diesem Licht, das jedes Leben neu mit Freude erfüllt. Möge Er Ihnen als Licht leuchten – und Sie, alle Ihre Lieben und alle Ihre Vorhaben im kommenden Jahr segnen und uns allen den Frieden schenken. Amen.


Das Klima, die Krisen und der Weg in den Frieden – Die Ansprache von Bischof Stefan Oster zur Jahresschlussandacht des Vorjahres finden Sie hier.

Die Predigt zur Jahresschlussandacht 2021 finden Sie hier.