Bild: R. Kickinger

Welche Wahrheit macht frei?

Hier zum Nachlesen: Die Predigt in der Studienkirche in Passau anlässlich der ökumenischen Feier zum 400jährigen Bestehen akademischer Tradition in der Stadt. Mitfeiernde waren Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Studentenpfarrerin Sonja Sibbor-Heißmann und Studentenpfarrer Andreas Erndl. Die wunderbare Mitgestaltung lag beim Studentenchor von KSG und ESG.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

was für ein Wort: „Die Wahrheit wird euch befreien“. Ein Wort aus dem Johannesevangelium, ein Wort von Jesus. Wer dieses Evangelium nur ein wenig kennt und sich dann mit diesem Satz konfrontiert, der kann womöglich am eigenen Leib spüren, welche ambivalenten Erfahrungen er auslösen kann. Zuerst vielleicht eher negative: Wenn jemand so etwas behauptet, die Wahrheit wird euch befreien, behauptet er damit nicht im Besitz der Wahrheit zu sein? Und wenn er dann mit der Wahrheit meine Freiheit in Verbindung bringen will, laufe ich da nicht Gefahr, manipuliert zu werden? Wie viele Ideologien hat es nicht schon in der Welt gegeben, die im Namen einer vermeintlichen Wahrheit die Menschen eben nicht in die versprochene größere Freiheit geführt haben, sondern erst Recht in die Versklavung und in die  Unterdrückung von Wahrheit und aufrichtiger Wahrheitssuche? Die Wahrheit wird befreien? Sagen da nicht viele: „Bleib mir vom Leib mit deiner Wahrheit. „Ich weiß selber gut genug, was für mich hilfreich und nützlich ist und wahr. Das genügt mir!“ Und leben wir nicht in einer Zeit, in der Selbstbestimmung das Hauptkriterium für Freiheit schlechthin ist? Im Sinn von: „Ich selbst bin der Regisseur meines Lebens und zugleich der Drehbuchschreiber und natürlich auch der Hauptdarsteller.“

Die Sehnsucht nach identitätsstiftender Wahrheit

Die andere Erfahrung, die dieses Wort auslöst, liebe Schwestern und Brüder, ist womöglich Sehnsucht. Denn ist es nicht so, dass wir bei allem Bemühen um Selbstbestimmung ganz oft  trotzdem nicht aus den vielen Fremdbestimmungen heraus finden, die uns bedrängen? So viele Erwartungen werden an mich herangetragen, von meiner Verwandtschaft, von Freunden, von der Gesellschaft. Und so viel Verführungspotential gibt es: die Medien, der Konsum, der anhaltende Wunsch nach Anerkennung. Alles will mir etwas antragen, das mich am Ende vielleicht nur vermeintlich frei macht – tatsächlich aber sogar noch unfreier, süchtiger, versklavter. Wo ist das Kriterium für die Unterscheidung, was ich wirklich darf und soll? Was ist der eigentliche Sinn, der Sinn von allem und von meinem Leben? Wo und wie kann ich der oder die werden, die ich womöglich in meinem Innersten bin? Bin ich also wirklich frei? Bin ich nicht zu sehr fremdbestimmt? Und ist vielleicht mein Wunsch nach Selbstbestimmung am Ende auch eine Gefahr? Nämlich die, dass ich mich dann zu sehr in meine eigenen Wünsche und Egoismen eindrehe – und am Ende wieder nur gefangen bin? Wo ist denn wirkliche Freiheit? Und wie hängt sie zusammen mit Wahrheit? Mit der Wahrheit, die Sinn-voll ist, die tief ist und trägt? Eine Wahrheit, die also identitätsstiftend sein kann?

 Maßloser Anspruch und maßlose Liebe

An dieser Stelle begegnen wir im Evangelium jener Gestalt, die mit dem Anspruch kommt, selbst die gesuchte und ersehnte und befreiende Wahrheit in Person zu sein. An anderer Stelle sagt dieser Jesus ebenfalls im Johannes-Evangelium: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Ist das nicht unglaubliche Anmaßung? Ein unendlicher Anspruch aus dem Mund eines Menschen, der selbst endlich ist und begrenzt? Ich bin überzeugt, liebe Schwestern und Brüder, dass es auch dieser Anspruch war, auch diese scheinbar maßlose Rede Jesu, die letztlich Auslöser für seinen gewaltsamen Tod war. Was maßt sich der an, so hören wir seine Gegner sagen. Aber gewissermaßen das Siegel, die Bestätigung auf diesen Anspruch, war zugleich dessen Kehrseite. Die ersten Christen erfahren, dass dieser maßlose Anspruch zugleich in der Form maßloser Liebe daherkommt. Nie zuvor hat ein Mensch diesen Anspruch erhoben und nie zuvor hat ein Mensch so geliebt. Sein Weg ans Kreuz war nämlich nicht nur gewaltsame Verurteilung, sondern freie Hingabe, freies Auf-sich-nehmen der grausamen Brutalität dieser Hinrichtung – für die anderen, für die Welt, für jeden von uns. Und bestätigt wurde diese lebengebende Liebe in seiner Auferstehung.

Ein Halt, der wahr ist und frei macht

In Jesus begegnen wir nach meiner Überzeugung der authentischsten, der wahrhaftigsten, der freiesten und liebesfähigsten Person, die je über die Erde gelaufen ist. Und deshalb ist in den Christen immer neu und immer wieder die Überzeugung da: In ihm, in Jesus, ist Gottes Wahrheit und Gottes Liebe in der Welt gegenwärtig geworden. Und Christen aller Zeiten durften die Erfahrung machen: Seine Hingabe ist eine Einladung für mich. Sie achtet jede Freiheit und zwingt niemanden – weil Liebe nicht zwingen kann. Aber wenn ich seiner Einladung folge, wenn ich mich an ihn halte, auf ihn vertraue, ihm folge, dann erwächst daraus ein wahrmachender und freimachender und Freude schenkender Halt für mein eigenes Leben. Aus einer Liebe und einem Vertrauen, das entmachtend ist für alles andere, was auch Macht über mich beansprucht. Und diese Wahrheit ist keine,  mit der man jemals fertig wäre; keine, die man ein für alle Mal in ihrer Fülle fixieren könnte. Sie ist gleichzeitig auch nie beliebig, aber immer offen auf die je größere und tiefere Einsicht in ihre Gegenwart unter uns.

Universität: Zwischen Fake-News und Cancel-Culture

Liebe Geschwister, wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheit immer wieder in Bedrängnis kommt. Und das Ringen um die Wahrheit und ihr rechtes Verständnis schließt besonders auch Institutionen wie Universitäten nicht aus, sondern notwendig mit ein. Auch Orte wie die Universität sind aufgerufen sich zu verhalten in ihrer Suche nach Wahrheit zwischen Extremen wie Fake-News auf der einen und Cancel-Culture auf der anderen Seite. Aus der christlichen Erfahrung lernen wir für Orte wie diese, dass die Suche nach Wahrheit den unbedingten Respekt vor der Würde der anderen Person immer auch mit einschließen muss. Kein Mensch darf einfach nur verzweckt werden – und sei es auch für die vermeintlich edelsten wissenschaftlichen Ziele. Jeder Mensch ist als Wesen mit Würde und als Wesen der Freiheit unbedingt zu achten. Wo so eine Atmosphäre der gegenseitigen Achtung in unerschiedlichsten Formen der Wahrheitssuche auch in akademischen Kontexten entstehen darf, dort fällt nach meiner Überzeugung diese fortwährende Suche nach der Wahrheit auf den fruchtbarsten Boden. Und den wünsche ich Ihnen verbunden mit Gottes Segen auch für die nächsten 400 Jahre.