Wie wird man eigentlich weise?

Wie wird man eigentlich weise? Eine Ansprache von Bischof Stefan Oster Papst Benedikt zum 90. Geburtstag am 16. April 2017.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
wenn wir heute den 90. Geburtstag unseres verehrten Papa emeritus feiern, dann möchte ich mit Ihnen über eine Frage nachdenken, die mich schon lange beschäftigt: Was ist eigentlich Weisheit? Wir alle neigen ja dazu, natürlicherweise die Weisheit mit dem Alter zu verbinden. Weisheit ist also im gängigen Verständnis ein Privileg des Alters. Und doch, auch das wissen wir alle: Nicht jeder alte Mensch ist schon weise.

Wie wird man eigentlich weise? Papst Benedikt zum 90. Geburtstag

Im Gegenteil, nicht selten neigen Menschen dazu zu sagen: „Lass den Opa, die Oma damit in Ruhe, die kapiert ohnehin nichts mehr“. Und so ein Urteil kann natürlich völlig verkehrt, aber es kann auch richtig sein. Der alternde Leib lässt nicht selten auch unser Gehirn und unser Herz altern: Die geistige Erstarrung geht ja oft mit dem körperlichen Abbau einher. Mancher alte Mensch ist oft auch schon fertig mit der Welt, er will in Ruhe gelassen werden, interessiert sich vielleicht nur noch für die eigenen alten Geschichten oder die eigenen Befindlichkeiten und Krankheiten.

Wie wird man weise – und nicht zynisch oder verbittert?

Warum also wird ein alter Mensch nicht auch automatisch weise? Oder sollten wir vielleicht besser umgekehrt fragen: Was macht einen Menschen weise – wenn es eben nicht automatisch geht? Eine Antwort, die vermutlich jeder wird unterschreiben können, heißt: Lebenserfahrung gehört dazu. Lebenserfahrung macht weise! Oder ist das zu schnell geurteilt? Ist es wirklich die Lebenserfahrung selbst? Ist es wirklich allein die Tatsache, dass ein Mensch viel erlebt hat, die ihn weise sein lässt? Oder ist es nicht viel mehr die Art und Weise, wie er das Viele, das ihm im Leben begegnet, erlebt, wie er es an sich heranlässt, wie er damit umgeht?

Ich würde für diese Option stimmen. Denn, es stimmt also schon: Lebenserfahrung ist wichtig, aber wichtiger ist die Haltung, mit der man sich auf Erfahrungen des Lebens einlässt! Oder wie man lernt, sich auf solche Erfahrungen einzulassen. Denn es ist ja andererseits auch leicht möglich, dass ein Mensch mit viel Lebenserfahrung zu einem alten Zyniker wird? Oder zu einem Menschen, der nichts als Verbitterung ausstrahlt angesichts alles dessen, was er erlebt hat!

Der Umgang mit Enttäuschungen und Verletzungen

Welche Haltung ist also nötig, was sollen wir lernen im Leben, um nicht nur Wissende, oder nicht nur Lebenserfahrene, sondern eben weise zu werden? Die Erwähnung der Zyniker oder Verbitterten kann uns auf die Spur führen: Verbitterung folgt meist aus Verletzungen, die ich nicht hinter mir lassen kann. Und Zynismus folgt wohl meist aus Enttäuschungen über das Leben und aus unerfüllten Erwartungen an das Leben.

Verletzungen und Enttäuschungen begegnen uns allen – und sie begegnen uns gerade dort, wo wir uns geöffnet hatten, wo wir Vertrauen gefasst hatten, wo wir uns wirklich eingelassen hatten auf andere Menschen. Wenn wir dann spüren: Ich werde verletzt, ausgenutzt, verlassen, enttäuscht, dann gibt es die Seite in mir, die innerlich zumacht, die sich auf sich selbst zurückziehen will, die sich schützen will. Und die Folge davon ist: Ich verliere etwas von meiner Offenheit, die aber nötig ist, um weitere und neue Erfahrungen zu machen.

Muss ich mich schützen?

Die Frage ist also: Muss ich mich im Leben nicht zwangsläufig innerlich zumachen und schützen, damit ich nicht dauernd verletzt werde? Ist die Welt nicht eine Mogelpackung? Am Anfang sehen wir als Kinder die Welt neugierig und mit leuchtenden Augen und lassen uns intensiv auf sie ein, weil sie uns als schön, wahr und gut vorgestellt wird? Aber je älter wir werden, desto mehr merken wir, dass das doch nicht ganz stimmt. Wir merken, dass es Lüge gibt und Bosheit und Dummheit und Gewalt und Krieg und Katastrophen – und keiner von uns bleibt letztlich von Leid und Tod verschont.

Lohnt es sich dann also noch wirklich, offen und vertrauensvoll auf die Welt zuzugehen? Lohnt diese innere Haltung auch dann noch, wenn ich oft und oft verletzt und enttäuscht worden bin? Oder lege ich mir den inneren Panzer zu, der mir dann das Gefühl gibt, weniger Schmerzen zu erleiden, aber um den Preis, dass ich auch das Schöne, das Neue, das Gute der Welt nicht mehr intensiv erlebe! Und womöglich nicht mehr reifer werde, und also auch nicht weise?

Wie sich die Offenheit eines Kindes bewahren?

Wie wird man weise? Offenbar, wenn es einerseits gelingt, das offene Herz, die gesunde Neugier und das wache Interesse eines Kindes zu bewahren – und sich andererseits auch durch Verletzungen und Enttäuschungen nicht davon abbringen zu lassen, trotzdem offen zu bleiben! Auch wenn es in der Welt das Leid, das Böse, die Lüge und den Tod gibt! Und wie geht nun das wieder? Wie ein offenes Herz bewahren, trotz allem? Hier kommt für mich nun als das alles Entscheidende der Glaube ins Spiel! Der Glaube an Christus!

Warum? Weil der Glaube zuerst die innere Verbundenheit ist, das persönliche, wirkliche Vertrauen auf die Gegenwart des Herrn unter uns und in uns. Ein solchermaßen existenziell gelebter Glaube trägt – und er hilft offen zu bleiben. Denn er lebt aus der lebendigen Erfahrung, dass Leid und Tod nicht das letzte Wort haben werden. Er lebt aus dem inneren Licht, das dieses Licht in allen Dingen und Geschöpfen der Welt finden kann.

Der Glaube an den Auferstandenen hilft, offen zu bleiben

Ja, die Welt ist und bleibt gut, wahr und schön – und zwar trotz allem! Woher ich das weiß? Weil der Schöpfer und der Erlöser der Welt eben dieser Welt seine Signatur eingezeichnet hat. Sie bleibt seine Welt, auch wenn sie vom Tod bedroht ist. Es gibt nämlich einen österlichen Sieger, der dem Tod, der Sünde und dem Bösen den letzten Stachel genommen hat. Ja, im Vertrauen auf Ihn kann ich glauben, dass die Welt einem guten Ende entgegengeht, kann ich vertrauen, dass auch mein Leben einem guten Ende entgegengeht, einer Vollendung.

Ich vertraue auf den, der jede Verletzung am Kreuz, jede todbringende Bedrohung erlitten, angenommen, ausgehalten und überwunden hat. Und der mir deshalb helfen kann, ebenfalls das Kreuz zu tragen – und daran gerade nicht zu verzweifeln oder zynisch oder verbittert zu werden. Denn nach den Karfreitagen unseres Lebens wartet der Ostersonntag – und wir österlich Glaubende dürfen schon sehen, wie sein Licht zu uns hereinreicht.

Papst Benedikt – ein demütiger Weiser

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, schon so viel ist gesagt worden über die große Theologie Papst Benedikts, auch über sein geistliches Werk, über die große Bedeutung seines Pontifikats, über seinen Lebensweg, der hier in Marktl seinen Ausgang genommen hat. Aber heute an seinem 90. Geburtstag möchte ich ihn als einen wirklich Weisen vorstellen.

In meinen wenigen persönlichen Begegnungen mit ihm habe ich ihn  als einen Mann wahrgenommen, der bei aller Größe und Weite seines Intellekts, sich dennoch das Herz eines Kindes bewahrt hat. Oder der es sich im Laufe seines Lebens auch wieder gläubig errungen hat. Seine Liebe zu Altötting, seiner geistlichen Heimat, sein kindliches Vertrauen auf die Mutter des Herrn, seine hohe Verehrung für unseren heiligen, demütigen, einfachen Bruder Konrad weisen darauf hin.

Das Schwere tragen

Papst Benedikt hatte im Laufe seines Lebens als Priester, Hochschullehrer, Bischof, Präfekt der Glaubenskongregation und schließlich als Nachfolger Petri sicher viel zu tragen. Tiefer als viele andere hatte er Einblick bekommen in das Leben der Kirche – auch in ihre dunklen und abgründigen Seiten, etwa in der Missbrauchs-Affäre ab 2010.

Oder wie ist er verkannt worden von so vielen? Als berüchtigter „Panzerkardinal“, als vermeintlicher Reaktionär, als Bremser und Verhinderer, als Bewahrer von etwas längst Überkommenem. Was haben sie ihm nicht alles angedichtet, wie sind sie nicht bisweilen über ihn hergefallen, auch und oft besonders in seinem Heimatland Deutschland!

Die durchlebte Erfahrung und das Loslassen

Wie wird man weise? In der Art und Weise, wie man mit Schlägen, Kritik, Verletzungen und Enttäuschungen umgeht. Wie man offen und vertrauensvoll bleibt – trotz allem. Ich durfte unseren Papa emeritus als einen Mann erleben, der voller wachem Interesse ist, voller kindlichem Glauben aber auch voller Gelassenheit ob der Dinge, die da kommen. Sein Glauben, sein Vertrauen auf den Auferstandenen hat ihn zeitlebens begleitet und reifen lassen.

Und wenn wir sein letztes Interview-Buch mit Peter Seewald lesen, dann kommt mir dort dieser so freundliche, so tiefe und so vertrauensvolle alte Mann entgegen, der einfach weise geworden ist. Freilich: Er war es in gewisser Hinsicht schon immer. Ein sehr intelligenter und sehr gläubiger Mann. Das ist es, was einen auch schon in jungen Jahren als weise erscheinen lässt. Aber jetzt ist tatsächlich noch einmal auch tiefer die durchlebte Erfahrung des Erlebten und Erlittenen und des Loslassens dazu gekommen. Papst Benedikt ist ein froher, tief gelassener, freier und weiser Mann geworden, geschult als Jünger Jesu an seiner Seite.

Noch nicht im vollen Licht

Über seinen Geburtstag hier in Marktl, den Karsamstag, hat er später gesagt, dass er ihm ein tiefes Bild für sein Leben geworden sei, wie für das menschliche Leben überhaupt: Unser Leben wartet auf Ostern, es steht noch nicht im vollen Licht, geht aber vertrauensvoll darauf zu. Für mich ist Papst Benedikt ein Beispiel für solch einen österlichen Glauben, er geht darauf zu, zeitlebens durch alles Aufs und Abs des Lebens – und mir scheint als spüre man förmlich, wie das österliche Licht in ihm immer voller zum Strahlen kommt.

Ich meinte gerade zuletzt auch immer mehr zu erkennen, dass er auch die Sehnsucht hat, nach Hause zu gehen, ganz ins Licht, zu seinem Herrn, voller Weisheit und Reife, die er in diesem Leben erlangt hat. Diese Sehnsucht nach dem vollen Licht kann im Grunde nur wachsen und tief werden, wenn man etwas von diesem Licht schon gesehen hat, wenn man von Christus schon berührt ist und sich hat ziehen lassen – und wenn man sein Leben in Seinen Dienst gestellt hat zu Seinem Lob und zum Heil der Menschen. Und so lassen Sie uns nun gemeinsam dankbar sein für das österliches Zeugnis von Papst Benedikt und für ihn und uns alle beten. Auf dass wir alle einst eingehen dürfen, in das volle Licht des Auferstandenen. Amen.