Wir entlaufenen Straßenkinder und das durchbohrte Herz Jesu

Wir entlaufenen Straßenkinder und das durchbohrte Herz Jesu. Die Predigt von Bischof Stefan Oster in der Liturgie des Karfreitags 2018 im Passauer Stephansdom.Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
mein Ordensvater, der Hl. Don Bosco, hat im 19. Jahrhundert in Turin gewirkt, in einer aufstrebenden Industriestadt. Dort hat er sich um Kinder und Jugendliche gekümmert, die auf der Straße gelebt haben. Junge Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in ihren Familien waren. Es waren Jugendliche, die als billige Arbeitskräfte in den neuen Fabriken geheuert und gefeuert wurden.

Jugendliche, die vor der Hungersnot auf dem Land in die Stadt geflüchtet waren, um irgendwie einen Lebensunterhalt zu bekommen. Es waren Arme, Bildungslose, oft Einzelkämpfer. Wie überlebt ein Jugendlicher außerhalb seiner Familie – auf der Straße? Diejenigen, die Bescheid wissen, sagen: Es ist ein Dschungel. Es geht ums Überleben mit allen Mitteln. Manchmal rotten sie sich zusammen, um zusammen gegen andere zu kämpfen. Es ist so oft ein Kampf mit Ellbogen, immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Es ist ein Kampf, in dem jedes Mittel recht ist, Lug und Trug, Taktik und Diebstahl, wenn nötig auch Gewalt.

Straßenkinder allein auf sich gestellt

So ein Jugendlicher tut sich ganz schwer zu vertrauen. Er ist ganz auf sich gestellt oder auf alles, was er für sich als Vorteil erhofft, er vertraut auf die Kraft der Gewalt, er wird sich an Banden übergeben, oder zur Not in die Prostitution verkaufen. Und mich beschäftigt die Frage: Was verliert ein junger Mensch in so einem Leben?

Es ist vor allem das Vertrauen in die Menschen, in ein tragendes Netz von Beziehungen; das Vertrauen, selber getragen zu sein; das Vertrauen, dass ihm ehrlich geholfen wird. Er verliert, die Fähigkeit zu lieben, und auch die Fähigkeit den anderen zu sehen in seiner Not – weil er doch nur ans Eigene denkt. Und es überwiegt wohl die permanente Angst, in irgendeiner Form zu kurz zu kommen.

Wie das Vertrauen gewinnen? Durch Geduld und Liebe

Und Don Bosco sieht diese Not. Und er sieht in den Jugendlichen Christus und er schenkt ihnen sein Leben. Wie gewinnt man das Vertrauen zu Jugendlichen, die eigentlich niemandem mehr trauen wollen oder können? Durch Hingehen und Interesse, durch Hingabe und Dienst, durch Füßewaschen, Treue und Geduld. Don Bosco hat alles, was er konnte, dafür getan, dass die Jugendlichen zu neuen Chancen kamen.

Er hat zunächst einfach nur Freizeit mit ihnen verbracht, er hat dann angefangen, ihnen was beizubringen, er hat Lehrwerkstätten eingerichtet und Lehrverträge mit den Fabrikbesitzern geschlossen, er hat angefangen, neue Wohnungen bei sich für sie einzurichten, er hat Schulen eingerichtet und er hat ihnen auch neu Gottvertrauen vermitteln können. Wie? Einfach, indem er sein Leben für sie gegeben hat. Als Liebesdienst.

Don Bosco und die Straßenkinder zeigen: Die Liebe kostet uns etwas

Aber, liebe Schwestern und Brüder, ein Jugendlicher, der zuvor auf der Straße gelebt hat, ist keiner, der schnell und einfach zurückkommt. So ein Jugendlicher muss auch ausgehalten werden, der ist kratzbürstig, der schlägt vielleicht schnell zu, der klagt an, der stiehlt, er provoziert, er will manchmal auch gewaltsam wissen, ob er wirklich trauen kann. Aber Don Bosco hat mit seiner Liebe, mit seiner Geduld und Demut nach und nach das Vertrauen von Vielen zurückgewonnen.

Er hat um sie die Atmosphäre einer Familie entstehen lassen. Hat ihnen geholfen neu zu vertrauen, und deshalb auch das Leben neu zu sehen und alles Gute in diesem Leben – trotz allem. Aber diese Jugendlichen wirklich lieben, sie leiden zu können, das hat ihn etwas gekostet. Jahre vor seinem Tod hat ein Arzt sein Herz untersucht – und sich gewundert, wie Don Bosco überhaupt noch am Leben war, so ausgezehrt war offenbar sein Herz.

Der tröstende Blick auf das Kreuz

Schon in den frühen Jahren seines Dienstes war seine Mutter zu ihm gezogen, eine fromme Witwe. Sie kam vom Land um ihn zu unterstützen, vor allem ab dem Zeitpunkt da Don Bosco angefangen hatte, für die Jugendlichen auch Wohnraum bei sich zu schaffen. Und es ging natürlich auch bei ihr nie alles gut. Die Jugendlichen haben sich oft genug schlecht benommen. Man hatte ohnehin nicht viel.

Und eines Tages hatte sie wieder einmal einigen neuen Jugendlichen noch einen zusätzlichen Schlafplatz ermöglicht – und am nächsten Morgen waren sie weg, mitsamt der ganzen Bettwäsche. Mama Margareta wollte sofort zusammenpacken und wieder aufs Land zurück, wo es ruhiger war. Da hat ihr Sohn sie umarmt, mit ihr geweint – und dann hat er einfach nur aufs Kreuz gezeigt. Sie haben beide das Kreuz betrachtet – und Mama Margareta ist natürlich da geblieben und hat weiter gemacht.

Wir, die entlaufenen Straßenkinder des Vaters

Liebe Schwestern und Brüder, diese Geschichte von Don Bosco ist in einem übertragenen Sinn auch unsere Geschichte. Wir sind eigentlich Kinder Gottes – Angehörige seiner Familie, der Menschheitsfamilie. Aber wenn wir in unser Herz schauen, dann merken wir vielleicht, wie sehr auch wir zugleich aus der Familie entlaufene Straßenkinder sind.

Menschen, die nicht mehr vertrauen können, dass Gott ihr Vater, ihr Versorger ist. Wir sind Menschen, die ängstlich um das Eigene besorgt sind, um die eigene Sicherheit, den eigenen Erfolg, das eigene Ansehen, die eigene Macht, das eigene Wohlergehen. Haben wir bei Ihm wirklich eine Familie, einen Vater, oder müssen wir zuerst mal schauen, wo wir selbst bleiben?

Es müsste einer kommen…

Liebe Schwestern und Brüder, müsste nicht einer kommen, von Gott in unsere dunkle Ego-Welt? In unsere Ängste, in unseren Neid, in unsere Sucht nach Vergleich, in unsere Vermessenheit und in unsere Verzweiflung, in unsere Not und unsere Zweifel. Es müsste einer kommen, der uns neu sehen lehrt, so dass wir mit neuen Augen sehen können.

Dass wir vertrauen können, dass doch nicht alles nur bedrohlich ist, dass ich Angst überwinden kann, dass ich froh und gelassen da sein darf. Es müsste einer kommen, auf den ich alle meine Egoismen abladen könnte. Es müsste einer kommen, der all meinen Mist vergibt und mich erträgt – und mich heimholt in die Familie des Vaters.

Er ist gekommen – und hat sich das Herz durchbohren lassen

Liebe Schwestern, liebe Brüder: der ist gekommen, den verehren wir heute, den Gekreuzigten. Don Boscos Herz war aufgezehrt, weil er so vielen schwierigen Jugendlichen darin Platz geboten hat, weil er so viel ausgehalten, getragen, ertragen, geliebt und vergeben hat. Aber Don Bosco hatte seine Kraft vom Herzen Jesu, vom Gekreuzigten. Don Bosco wusste sich seinerseits auch von ihm ausgehalten, getragen, vergeben, gestärkt, geliebt. Das Herz Jesu war deshalb durchbohrt, der ganze Gottmensch war ausgezehrt, gefoltert, zerschlagen, getötet.

Und darin steckt für alle Zeiten der Geschichte, so viel Liebe – dass auch meine Schuld, meine Lieblosigkeit, mein eigenes Leid, meine Verzweiflung, meine Angst, meine Egozentrik und auch jede noch so große Sünde jedes Menschen darin aufgehoben ist und verwandelt werden kann. Wie Don Bosco gewissermaßen in das Herz der Jugendlichen eintreten durfte und bei ihrer Verwandlung mithelfen konnte, so ist Jesus in das innerste Heiligtum des Menschen, in die Tiefe seines Herzens eingetreten. Er hat alles Dunkle, Abweisende, Sündige auf sich genommen und so die Welt und die verschlossenen Menschenherzen von innen her verwandelt.

Er ist die Tür für uns Straßenkinder

Wie oft – durch die ganze Geschichte hindurch – hat unzähligen Menschen der Blick auf den Gekreuzigten Trost geschenkt, neue Kraft, neue Vergebung, neues Vertrauen? Seine ausgestreckten, angenagelten Arme sind Arme, mit denen er uns und die Welt umarmt und zugleich beim Vater für uns Fürbitte einlegt. Aber, liebe Schwestern und Brüder, die neue Perspektive, das neue Herz, den neuen Blick auf die Welt, den bekommen wir nur, wenn wir Jesus vertrauen, wenn wir dem Gekreuzigten Glauben schenken.

Wie bei Don Bosco: die entlaufenen Straßenjugendlichen haben sich nur heimholen und verändern lassen, weil sie gelernt haben, Don Bosco zu vertrauen. Ohne Vertrauen kein neues Leben. Auch wir werden nur heimgeholt zum Vater, wenn wir lernen, Jesus zu vertrauen, an ihn zu glauben. Er ist die Tür. Deshalb, liebe Schwestern, liebe Brüder, sind wir heute hier. Wir feiern seinen Tod. Gott hat in Jesus buchstäblich alles gesagt und alles getan. Sich ausgeleert und ausgezehrt bis zum Äußersten.

Das Feiern der tödlichen Folter?

Und ja, dieser Gottesdienst hier und heute zu seiner Sterbestunde ist trotzdem immer noch eine Feier. Die Kirche feiert in ehrfürchtiger Erinnerung eines der grausamsten, ungerechtesten und brutalsten Verbrechen der Weltgeschichte – weil sie erfahren hat, dass gerade darin das unsagbar Große von Gottes Liebe aufleuchtet. Glauben wir Ihm, vertrauen wir Ihm?

Liebe Schwestern und Brüder, das möchte ich Ihnen wirklich aus eigener gläubiger Erfahrung bezeugen: Je tiefer wir lernen Ihm zu vertrauen, desto heiler und freier wird unser Herz und desto tiefer wächst uns der Sinn unseres je eigenen Lebens zu. Und desto fähiger werden auch wir, auf den anderen zuzugehen – und auch ihn zu lieben, ihn auszuhalten und zu dienen.

Wir beten Dich an Herr Jesus Christus und preisen Dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.


Anbei der Link zum Anhören der Karfreitagspredigt über Gottes entlaufene Straßenkinder: