Christus und die Gewalt – Eine Betrachtung über den Unterschied zwischen prinzipieller und gradueller Annäherung an den Frieden.
Es gibt eine sehr tiefe, aber zugleich erschreckende Aussage von Jesus im Johannes-Evangelium (10,7-10) „Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“
Jesus allein kann befreien
Jesus formuliert hier einen Absolutheitsanspruch, der seine eigene Person und sein erlösendes Handeln in den Mittelpunkt stellt – und von allen anderen dramatisch abgrenzt. Er allein ist demnach in der Lage zu befreien, zu nähren, in die Gemeinschaft mit dem Vater zu führen. Warum? Weil er sein Leben gibt, in absoluter, in göttlicher Hingabe, in radikaler Gewaltlosigkeit.
Die Offenbarung von Jesu Liebe und die Berührung mit ihr vermag im Menschen eine Sehnsucht zu wecken, ein Vertrauen, das ihn befähigt, dieser absoluten Freiheit zu folgen und sich von ihr verwandeln zu lassen – hinein in die Fähigkeit zur Liebe und zur Gewaltlosigkeit, die von ihm kommt. Sie befähigt das Menschenherz zum erlösten, zum befreiten Dasein – durch die innere Verbundenheit mit Christus und das gläubige Vertrauen auf ihn.
Werden wie ein Kind
Dieses Begegnungsgeschehen reicht radikal in den Abgrund der menschlichen Existenz: „Neugeburt, Werden wie ein Kind, neue Schöpfung, vom Tod zum Leben“ sind die Metaphern und Begriffe der Hl. Schrift für diese durch Christus erwirkte, existenzielle Umkehr und Erneuerung.
Und Jesus sagt im zitierten Evangelium zumindest indirekt: Alle anderen Versuche, den Menschen real in die Beziehung zu Gott, dem Vater, hinein zu befreien und zwar so, dass sie zugleich den Menschen tiefer zu sich selbst und zum anderen führen, müssen letztlich scheitern. Sie scheitern an der Unfähigkeit des Menschen aus sich selbst existenziell so frei zu sein, dass sein eigenes Herz Abstand davon nehmen könnte, sich zuerst um sich selbst zu kümmern und dies notfalls auch mit Gewalt.
Das Menschenherz – ein Abgrund
Denn der unerlöste Mensch vollzieht diese egozentrische Selbstsorge – wenn es darauf ankommt und der Druck hoch genug ist – auch unter Missachtung der Freiheit und der Rechte der Anderen. Das Herz des Menschen ist im unerlösten Zustand ein Abgrund. Die biblische Menschheitsgeschichte nach dem Verlassen des Paradieses (Gen 4,8) beginnt mit einem Brudermord. Das will sagen: Im Herzen eines jeden wohnt seither nicht nur aber auch ein ichhaftes, begierliches, besitzergreifendes und vor allem in der Bedrängnis auch gewaltbereites Wesen.
Und dieses Menschenwesen und Menschenherz ist nicht mehr das, was Gott bei der Erschaffung des Menschen gemeint hatte. Wäre es anders, wir hätten den Erlöser und sein am Kreuz für uns durchstoßenes Herz nicht nötig. Aber unser durchschnittliches, auch religiöses Bewusstsein ist sich in der Regel weder der Tiefe der Sünde und ihrer Folgen in unserem Leben bewusst, noch der Abgründigkeit des Angebotes der vergebenden Liebe Gottes, die am Kreuz offenbar wird.
Alles Diebe und Räuber?
Die christliche Grunderfahrung ist aber genau diese: Sie ist zuerst Begegnung mit Jesus, der fleischgewordenen Liebe Gottes, dem Gekreuzigten für uns. Diese Erfahrung in der Gemeinschaft seiner Kirche setzt frei und verwandelt. Und wenn Jesus nun im zitierten Evangelium sagt, dass alle, die vor ihm kamen, Diebe und Räuber gewesen seien, die im Letzten auch nur gestohlen, geschlachtet und vernichtet haben, dann ließe sich die Frage stellen: „Wie, Jesus? Meinst Du mit ‚vor mir‘ auch Abraham, auch Mose, auch die Propheten, auch Johannes den Täufer? Alles Diebe und Räuber?“
Die Antwort wäre: Im Grunde ja, auch wenn deren Dienst als Vermittler für die Menschen auf Gott hin von Gott selbst schon geführt und unterstützt wurde. Aber auch deren Dienst blieb in einer Art Vorläufigkeit, weil auch diese großen biblischen Gestalten selbst nicht „die Tür“ waren und auch nicht der „gute Hirte“ schlechthin.
Neigung zur Selbstaneignung
Auch in ihren Herzen blieb die Neigung zur Selbstaneignung der Schafe – vor allem deshalb, weil sie selbst nicht Vergebung der Sünden leisten und auch nicht im Letzten für sich selbst beanspruchen konnten.
Erst in Christus hat Gott alles mit sich versöhnt und unsere Sünden vergeben und auf sich genommen (2 Kor 5,19). Und schon der Kleinste in diesem Reich der Versöhnung, im Himmelreich (Mt 11,11), ist größer als Johannes der Täufer – sagt Jesus. Obgleich doch laut demselben Jesus niemand vor Johannes gelebt hat, der größer gewesen wäre als dieser.
Es gibt nur eine Lösung: Die gekreuzigte Liebe
Es gibt nur einen, einen einzigen, der diese Spannung auflösen konnte: Radikale, gottmenschliche Pro-Existenz als tiefsten Ausdruck seines Selbstseins, seiner Sendung vom Vater her: Jesus, der Christus. Erst Jesus kann das ichsüchtige und damit im Tiefsten auch gewaltbereite Menschenherz zu einer Liebe befreien, die nicht mehr sich selbst meint, die auch nicht mehr ihre eigene Ehre sucht, die geduldig und langmütig ist, sich an der Wahrheit freut, nicht den eigenen Vorteil sucht, sich nicht aufbläht, nicht prahlt, sondern alles glaubt, alles hofft, allem stand hält. Eine Liebe, die niemals aufhört (vgl. 1 Kor 13). Diese (!) Liebe gibt es nicht ohne ihn.
Jesus, der Mann ohne Gewalt, als Schlüssel
Und wenn dem entgegnet würde: Steht nicht in eurem Evangelium: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert“? (Mt 10,34) – dann ist aus dem Zusammenhang des ganzen Evangeliums zugleich völlig klar, dass Jesus hier die Entschiedenheit der Menschen für ihn meint, die um dieser Wahrheit willen auch den Bruch mit der eigenen Herkunft und Familie zu riskieren bereit sind – und die damit bereit sind, auch das Schwert gegen sich selbst zu akzeptieren: „Ihr werdet von allen gehasst werden“ (Lk 21,17).
Hier geht es um eine Entschiedenheit, die zugleich immer noch weiß, dass sie selbst nicht zum Schwert greifen darf, denn die, die das tun, „werden durch das Schwert umkommen“ (Mt 26, 52). Und wer uns weiterhin auf die vielen Stellen der Gewaltausübung in unserem Alten Testament verweisen würde, dem dürfen wir sagen: Unser Schlüssel, das Alte Testament zu lesen, ist Jesus selbst, der Gewaltlose, der auch sein eigenes Volk, zu dem er als Erlöser gekommen ist, als der Gottesknecht des Jesaja-Buches in die neue Freiheit der gewaltlosen Liebe führen will. „Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7).
Nur Jesus kann Tiefe schenken
Von dort her lässt sich aus der Sicht des christlichen Glaubens über andere Religionen folgendes sagen: Ja, es gibt in ihnen nicht Weniges, „was wahr und heilig“ ist. Und die Kirche „lehnt nichts von alledem ab“. Aber sie kann dennoch nicht aufhören, Jesus als den „Weg, die Wahrheit und das Leben“ schlechthin zu verkünden (vgl. die Zitate aus dem Konzilsdokument Unitatis redintegratio, 2).
Nehmen wir nun diesen Befund ernst, so müssen wir aus christlicher Sicht sagen, dass es in keiner anderen Weltanschauung oder Religion ein Verstehen von Liebe und Freiheit aus dieser Tiefe gibt, die allein Jesus, der Gottmensch, schenken kann und schenken will. Erst die radikale Hingabe Jesu ist an ihr selbst schon radikale Gewaltlosigkeit aus existenzieller Freiheit – und ermöglicht dasselbe für die von ihm Befreiten.
Das „gute Beispiel“ allein reicht nicht
Bleiben wir aber „davor“, also vor Jesus oder außerhalb der Christuserfahrung – und versuchen, den Menschen dennoch in den Glauben und zum Beispiel in ein sittlich gutes, friedliches Leben zu führen, so bleiben uns dafür nur das Lehren von Glaubensinhalten etwa aus Büchern oder das gute Beispiel, das Lehren von religiösen oder staatlichen Gesetzen, von Moral und Ethik. Nun ist aber gerade die tiefste Überzeugung zum Beispiel des Apostels Paulus, dass alles dieses alleine, oder schlicht „das Gesetz“ alleine (Röm 8,3) niemals wirklich befreit.
Es befreit nicht von Ichsucht, nicht von Selbstgerechtigkeit, nicht von Gottferne und auch nicht von Gewaltbereitschaft. Es vermittelt bestenfalls Annäherung, bleibt aber ungenügend, der Mensch bleibt unerlöst. Nur Christus befreit und die bleibende Verbindung mit ihm. Deshalb sagt er Sätze wie: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37) – und „getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ (Joh 15,5).
Und was ist mit der Gewalt im Christentum?
Von dorther müssen wir im Blick auf unseren eigenen Glauben feststellen: Wo immer ein Mensch im Namen Jesu aggressive Gewalt ausgeübt hat oder ausübt, tut er dies nicht wegen dieses Evangeliums, sondern trotz des Evangeliums! Also unter seiner Missachtung. Es gibt zum Beispiel vom Evangelium her keinerlei Lizenz zur Eroberung anderer Länder mit den Mitteln der Kriegführung im Namen des Glaubens – obgleich es sie in der Geschichte real gegeben hat und wir Buße dafür getan haben oder tun müssen.
Aber schon sehr lange ist die Zahl der Menschen, die im Namen Jesu Gewalttaten begehen, auf einen sehr geringen Bruchteil all derjenigen Gewalttaten zurück gegangen, die im Namen anderer Glaubensrichtungen heute begangen werden. In einem ernsthaft gelebten Christentum, dem es tatsächlich um Nachfolge und Jüngerschaft geht, kann sich im Grunde niemand mehr vorstellen, dass ein Christ einen anderen Menschen ermordet und dabei ausruft: Jesus ist groß!
Gewalt im Namen Jesu kann nur ein Missverständnis sein
Ausübung von aggressiver Gewalt im Namen Jesu kann deshalb nur als dramatisches Missverständnis Jesu vorkommen. Gleichwohl kommt sie vor, wo Menschen nicht zum Verständnis und zur genuin christlichen Erfahrung durchdringen – und dann aus diesem Mangel zur Durchsetzung ihrer Ziele seinen Namen missbrauchen.
Würden sie tatsächlich zur authentischen Erfahrung „seines Namens“ durchdringen, würde sogleich einsichtig, dass der Unterschied ein prinzipieller und nicht mehr nur ein gradueller ist. Das Wachstum des Christentums verdankt sich besonders am Anfang seiner Geschichte und dann immer und immer wieder der Haltung derjenigen Christen, die auch unter den Bedingungen der Verfolgung und des Martyriums ihr Leben aus Glauben und Liebe verschenkt haben.
Und sie verdankt sich nicht der Eroberung anderer Länder mit den Mitteln der Gewalt. Freilich: Die Verwandlung des Christen ist selbst ein Weg, selbst ein Reifungsprozess, ist selbst eine Abfolge von Hinfallen und wieder Aufstehen, ein Weg vom Sünder zum Gerechtfertigten. Selbst der Weg der Kirche als Ganzer ist so ein Prozess: Sie ist die „semper reformanda“, die immer wieder zu erneuernde, immer wieder neu an Jesus und seiner hingebenden Liebe Maß nehmende Kirche. Erlösung beginnt zwar in dieser Zeit, vollendet sich aber nicht in ihr.
Der Unterschied zwischen prinzipiell und graduell
Und hier sind wir beim Kern des Problems der Diskussion um Gewalt im Namen von Glauben und Religion: Es gibt aus meiner Sicht keine andere Weltanschauung oder Religion, die zu dieser prinzipiellen Erfahrung, zu diesem prinzipiell neuen Anfang real durchstößt, es sei denn der christliche Glaube. Ich respektiere sehr, dass zum Beispiel der Buddhismus in diese Nähe findet, bleibe aber bei der Überzeugung, dass es auch hier eher eine graduelle und keine prinzipielle Annäherung gibt, zumal die Befreiung aus dem Inneren des Menschen selbst kommen soll.
Ich verehre den Hindu Mahatma Gandhi und seinen Weg der Gewaltlosigkeit, aber mir scheint, dass es eher der sehr angestrengte Weg eines Einzelnen war. Und ich bin ebenso erstaunt über die mystisch-spirituelle Seite des Islam und ihre Suche nach der barmherzigen und gewaltlosen Liebe Gottes. Aber der prinzipielle Unterschied liegt aus unserer Sicht in der Person des Erlösers selbst, der als der ganz Andere sich in diese geschaffene Welt gewissermaßen von außen, von oben hinein inkarniert hat, um ihr diese prinzipiell andere Erfahrung als Befreiung zu ermöglichen! Erlösung ist also kein Geschehen, das in dieser gebrochenen Welt nur mit den Mitteln eben dieser Welt zu erringen wäre. Der Erlöser ist in dieser Welt bleibend auch der Unterschiedene zur Welt, er ist der Gottmensch.
Heilige als wahrhaftig radikale Christen
Wir ringen nun im Westen darum, auch unter dem Eindruck des Terrorismus, ob und welches Gewaltpotenzial Religionen und Weltanschauungen ermöglichen und freisetzen können und welchen Beitrag sie zum Frieden leisten können. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass der Beitrag der Christen zum Frieden daher der grundlegendste sein kann und folglich von seinem Verpflichtungcharakter her für uns auch sein müsste.
Könnten andere Formen der Weltdeutung in derselben Weise dazu beitragen, wäre das aus der Sicht von uns Christen tatsächlich schon erlösend – aber am einzigen Erlöser vorbei. Deshalb bin ich hier skeptisch. Und skeptisch macht auch, dass die wahrhaftig Radikalen unter den Christen die Heiligen sind, die großen Liebenden, die am tiefsten Glaubenden, die Gewaltlosen und Friedfertigen, diejenigen mit dem reinen Herzen (Mt 5,3-11). Während wir in anderen Religionen aus meiner Sicht schneller geneigt sind, Radikalität und Gewaltbereitschaft zusammen zu denken, schließt im Christentum die eine die andere geradewegs aus.
Selbstbefreiung ist nicht möglich
Aber genau deshalb wird das Ringen um die Befreiung des eigenen Ich zur Liebe und zur Befreiung von der Bereitschaft zur persönlichen oder gemeinschaftlichen Gewalt in nichtchristlichen Religionen und Weltdeutungen wohl immer nur eine graduelle bleiben müssen und wohl nie eine prinzipielle werden können; einfach weil dort die schon durch Christus geschenkte, prinzipielle Grundlage zu ihrer Ermöglichung nicht gesehen wird.
Und folglich wird es dort immer auch bei Versuchen bleiben, in denen das Ich des Menschen alleine oder gemeinschaftlich Selbstbefreiung von eben diesem Ich zu erreichen sucht – mit den begrenzten Mitteln, die ein immer schon korrumpiertes Ich eben nur hat. Ein solches Ich, das es in uns allen (!) gibt, steckt aber im Münchhausen-Dilemma. Es kann sich nicht selbst am eigenen Schopf aus dem Schlamassel der eigenen Gewaltbereitschaft ziehen, auch nicht unter noch so großer eigener Anstrengung; eine Anstrengung, die am Ende nicht selten eben selbst wieder gewaltsam wird – und sei es gegen sich selbst.
Wie nähern wir uns der Freiheit von Gewalt an?
Auch im Religiösen frisst die selbstgemachte Revolution ihre Kinder – wie ehedem im pseudoreligiösen Versuch, den humanen Sozialismus zu verwirklichen; und übrigens auch noch in einem pseudoreligiös missverstandenen Christentum.
Wie nähern wir uns also der Freiheit von Gewalt an? Wie nähern wir uns der unbedingten Anerkennung der Religionsfreiheit, der Gewissensfreiheit an? Und wie dem Respekt gegenüber der unbedingten Würde von denen, die wirklich anders aussehen, anders denken, anders glauben, anders orientiert sind, ein anderes Geschlecht haben, anders handeln als ich es für richtig hielte?
Ohne Christus bleibt nur fortwährende Anstrengung zur Annäherung
Wir spüren, dass auch eine solche graduelle Annäherung an die Gewaltlosigkeit Anstrengung verlangt. Und wir spüren vielleicht auch, dass sie nur unter der Voraussetzung halbwegs gelingen kann, dass sich für diese Anstrengung viele, möglichst alle, gewinnen lassen. Aber auch dann, wenn eine solche Anstrengung von Vielen erbracht würde, bliebe dem Menschen so etwas wie ein in der Tiefe letztlich doch gewaltbereiter „Untergrund“ – der vor allem unter Druck oder in Not und Unsicherheit wieder freigesetzt würde – einfach weil der unerlöste Mensch so gestrickt ist.
Die Herausforderung zum prinzipiellen Gewaltverzicht aus Liebe, kann der Mensch nicht aus sich meistern. Daher wird es Formen von vermeintlich legitimer Gewalt in anderen Glaubenserfahrungen bleibend geben, etwa die Demonstration der eigenen Überlegenheit und der gleichzeitigen Verachtung der Anderen, etwa die physische Unterdrückung von Frauen, etwa die physische Bestrafung von Andersgläubigen oder vom eigenen Glauben Abgefallenen, von Ehebrechern oder anderen Menschen, die sich aus der Sicht der Religion vergehen.
Unterschiede in der Gewalt?
Und wenn es das bleibend und vermeintlich sogar legitim gibt, dann wird der Unterschied zwischen diesen Formen von Gewalt einerseits und dem Terror im Namen der Religion andererseits immer nur ein gradueller sein können. Und folglich werden die Grenzen zwischen beiden notwendig auch fließend bleiben und müssten als klare Abgrenzung gegeneinander immer nur mit großer Anstrengung und großem Konsens in den verschiedenen Gruppen und Kontexten je neu errungen werden.
Aber sie werden nicht prinzipiell werden können! Die Grenze, der Unterschied könnte erst dann prinzipiell werden, wenn auch diese prinzipielle Gefangenschaft jedes Menschen in seiner von einem selbstherrlichen Ich dominierten, bleibenden letzten Gewaltbereitschaft auch tatsächlich erkannt und überführt würde und mit ihm jede Form aggressiver Gewalt – egal gegen wen.
Eine Welt ohne Gewalt: Dialog, Zusammenarbeit, Begegnung
Und eben dort, wo diese Erkenntnis und Überführung sich tatsächlich ereignete, dort wäre die Nähe zum einzig möglichen Befreier aus dieser Gefangenschaft schon mit Händen und Herzen fassbar. Meine Überzeugung deshalb: Die Welt hat nichts nötiger als Christus, den Gewaltlosen, und sein Evangelium von der Versöhnung mit Gott, dem Vater. Sie hat nichts mehr nötig als die Bekehrung zu ihm. Christus ist nämlich – gewaltlos – für alle Menschen gestorben.
Die Verkündigung dieses Evangeliums kann von der Seite der Verkündiger deshalb auch immer nur gewaltlos, im Respekt vor der Andersheit des Anderen und in Liebe sich ereignen. Andernfalls wäre es Verrat am Erlöser selbst. Allerdings: Je weniger sich diese Bekehrung zu Christus real ereignet, umso nötiger wird dennoch immer neu: Anstrengung zu Begegnung, Dialog, Bewusstseinsbildung, Zusammenarbeit, Friedensinitiativen – und damit einhergehend die auf lange Sicht womöglich ermüdende Erfahrung, dass wir aus eigenen Kräften und ohne Christus auch in den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen immer nur graduellen und nie prinzipiellen Verzicht auf Gewalt erreichen können.
Kommentare
Sehr geehrter Herr Bischof,
aus ganzem Herzen und inniger Demut danke ich Gott für diese Worte die durch Sie offenbart wurden
Danke für dieses wahrhafte Zeugnis
Seien Sie von Herzen gesegnet.
GW
Amen!
Wesentliche Merkmale dieses Wegs der Liebe zu und Hingabe an Christus sind Geduld, Respekt / Achtung und ein offenes Herz. Der Geduld bedarf es zuerst mit sich selbst und den an sich selbst gesetzten Ansprüchen, dann Geduld mit anderen. Diese Geduld ist aber ebenfalls nur rudimentär, wenn ihr nicht eine Verbundenheit mit Christus zugrunde liegt. Gewaltbereitschaft gegen sich und andere bricht sich Bahn, wenn die Geduld an ihr Ende gekommen ist. Geduld erwächst aber nur aus der Erkenntnis und wahren inneren Überzeugung, daß Die Wahrheit, Der Weg und Das Leben sich auf Christus gründen. Respekt oder Achtung vor dem Anderen ist Ausdruck der innewohnenden Nächstenliebe. SIe gründet klar auf dem Gebot : Lk 10,27 »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«. Das ganze Herz beschreibt die Offenheit für die Liebe, ohne Angst vor Verletzlichkeit, im festen Vertrauen darauf, daß diese Liebe getragen vom Herrn zugleich Schild und Schutz ist.
Bei allem Wunsch der Menschen, der Philantropen, der Pazifisten und menschenfreundlich Handelnden bleibt immer das von Ihnen beschriebene Risiko der Gewaltbereitschaft im Selbsterhaltungstrip und in Betrachtung der eigenen Person vor einem weltlichen Wertkanon einer Gesellschaft, wenn nicht noch tiefgründiger die Beziehung zu Christus Halt gibt.
Danke sehr für Ihre Ausführungen Exzellenz
Sehr geehrter Herr Bischof Oster,
Bein Lesen Ihres Beitrags kam mir ganz spontan das Lied des Mose in den Sinn, wo er die große Fürsorge der Liebe unseres himmlischen Vaters erfahren hatte:
„Der Herr fand ihn in der Steppe, in der Wüste, wo wildes Getier heult.
Er hüllte ihn ein, gab auf ihn acht und hütete ihn wie seinen Augenstern, wie der Adler, der sein Nest beschützt und über seinen Jungen schwebt, der seine Schwingen ausbreitet, ein Junges ergreift und es flügelschlagend davonträgt. Der Herr allein hat ihn geleitet, kein fremder Gott stand ihm zur Seite“ (Dtn. 32, 10-12).
Ja, welch eine große wunderbare göttliche Verheißung stünde uns bevor, wenn auch wir bereit wären unser Herz für diese brennende Liebe zu öffnen, damit die ganze Fülle seiner göttlichen Barmherzigkeit und Fürsorge auch an uns sichtbar wird! Wir würden sogar vor Freude Weinen!
Bedenken wir, dass es bereits in unserer Taufe mit Wasser und unserer Firmung mit göttlichen Geist beschlossen liegt, dass wir alle zur Offenbarung des Liebesgeistes in ihrer ganzen Fülle und Herrlichkeit gelangen können.
Betrübt muss ich aber feststellen, wie oft unsere geliebte alleinige „authentische“ Katholische Religion inmitten aller „Buchreligionen“ immer wieder belächelt und provozierend bekämpft wird, sogar auch in den eigenen Reihen!
Ihnen möchte ich dringend ans Herz legen, keine Gewalt mehr an die „gekreuzigte Liebe selbst“ auszuüben, sondern vielmehr nach der prinzipiellen Grundlage in Person unseres Erlösers zu streben, damit in uns und in der Welt die Annäherung an den Frieden Frucht tragen kann!
Sind wir uns immer bewusst, dass unsere Katholische Kirche reichlich ausgestattet ist mit allen Verteidigungsmitteln um das personifizierte Böse (Satan) in der Welt Einhalt zu gebieten.
Jedoch verlangt dies unser endgültiges „Ja“ und die Sehnsucht nach der Verschmelzung der göttlichen-, mit unserer menschlichen Seele; das berümte Senfkorn das Sterben muss, damit wir zu einer neuen Schöpfung-, und vom Tod zum Leben erweckt werden!
Darum ist ein Ende des Leidens durch die vielfältigen Gewaltausbrüche erst dann in Sicht, wenn wir uns ganz konkret und radikal entschieden haben für den prinzipiellen göttlichen Weg des Friedens zum himmlischen Glück, ja, zur Perle des göttlichen Lichts!
Erstaunlich und erfreulich zugleich ist dahingegen, dass vermehrt heidnische Geschöpfe zu unserer Kirche und damit zum himmlischen Vater finden, wärend manche Geschöpfe aus dem eigenen Stall unserer Kirche den Rücken zukehren!
Hier bewahrheitet sich die biblische Verheißung!
Ja, selig sind sie zu preisen!
Betrübt bin ich zudem darüber, dass wir doch eher geneigt sind lieber verwurzelt und abhängig vom Staat zu sein , als sich vielmehr nach der Erlösung aus dieser Knechtschaft der graduellen Misere zu lösen!
Welch herrliches Gnadengeschenk würden wir durch das Festhalten daran Ablehnen! Ja, wir würden sowohl in unserem Herzen als auch in der Welt vergebens auf den lang ersehnten Frieden warten. Ein Ende der Gewalt wäre auf jeden Fall nicht in Sicht und wird sich immer brutaler manifestieren, wodurch das personifizierte Böse namens Satan immer mehr Spielraum zum agieren bekommt.
Ja, streben auch wir alle gemeinsam nach der herrlichen Krone der Vollkommenheit und der Heiligkeit, denn mittels unserer Taufe stammen wir wirklich aus einem königlichen Geschlecht , aus einem königlichen Priestertum, Amen!
Sehr geehrter, lieber Herr Bischof,
ich danke Ihnen für Ihren profilierten und anregenden Beitrag zum Thema: „Christus und die Gewalt – Eine Betrachtung über den Unterschied zwischen prinzipieller und gradueller Annäherung an den Frieden“ vom 12.08.2016. Gestatten Sie mir, ihn in einem Punkt zu ergänzen und in zwei weiteren Punkten zu bestätigen (im Folgenden spreche ich vom Bischof in 3. Ps. Sg.):
Gewalt, Christentum, Islam
von
Ludger Schwienhorst-Schönberger
Bischof Dr. Stefan Oster weist zurecht darauf hin, dass die „Ausübung von aggressiver Gewalt im Namen Jesu … nur als dramatisches Missverständnis“ zu beurteilen ist. Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Die Verwendung des Begriffs „aggressive Gewalt“ lässt jedoch die Frage aufkommen, ob es auch Formen „nicht-aggressiver Gewalt“ gibt. Wenn das der Fall sein sollte, stellt sich die Frage, wie die Heilige Schrift und die Lehre der Katholischen Kirche dazu stehen.
I. Eingrenzung der Gewalt durch Gewalt
Die Bibel und die Lehre der Kirche gehen davon aus, dass es zwei unterschiedlich zu bewertende Formen von Gewalt gibt: eine rechtmäßige Gewalt, die gewöhnlich „potestas“ (Macht) genannt wird, und eine unrechtmäßige Gewalt, die gewöhnlich „violentia“ genannt wird. Der Bischof spricht über den zweiten Typ der Gewalt, die „aggressive Gewalt“. Ich möchte etwas zum ersten Typ, der rechtmäßigen Gewalt sagen, weil auch ihre Beurteilung für das Verständnis des Christentums – gerade in unserer Zeit – wichtig ist.
Im Hintergrund der Unterscheidung steht das Dilemma von Recht und Gewalt. Einerseits soll die Gewalt durch das Recht überwunden werden. Anderseits ist dies aber nur möglich, wenn das Recht mit Gewalt ausgestattet wird. „Denn was könnte gegen Gewalt ohne Gewalt getan werden“, fragt Cicero (Epistolae ad familiares XII,3). Eine Gesellschaft, in der es Freiheit und Gesetz gibt, aber keine Gewalt, die dem Gesetz Anerkennung verschaffen könnte, bezeichnet Immanuel Kant als Anarchie. Innerhalb des Alten Testaments wird uns eine solche Gesellschaft im Buch der Richter vor Augen geführt. Das Volk ist in die Freiheit und in das Land geführt worden, ihm wurde das Gesetz, die Tora, gegeben, aber es fehlte eine Gewalt, die dem Gesetz Geltung verschafft: „In jenen Tagen gab es noch keinen König in Israel; jeder tat, was ihm gefiel“ (Ri 21,25 u.ö.). Es herrscht Anarchie. Ri 17-21 erzählt von eklatanten Verstößen gegen das Gesetz (Massentötungen und Frauenraub usw.) und plädiert damit für das Königtum (modern gesprochen: für den Staat), näherhin für das davidische Königtum, d.h. für eine Instanz, die dem Recht Geltung verschafft. In Ps 72, dem „Testament Davids an seinen Sohn und Nachfolger Salomo“ (in der Überschrift muss es „für Salomo“, nicht „von Salomo“ heißen !), wird uns ein solcher König vor Augen gestellt: Es soll ein König sein, der das Volk in Gerechtigkeit regiert, der den Gebeugten Recht verschafft und der den Gewalttätigen zermalmt. Was hier beschrieben wird ist der Sache nach die Idee des modernen Rechtsstaates: Die Gewalt wird monopolisiert und an das Recht gebunden. Deshalb weist der Berliner Historiker Heinrich August Winkler darauf hin, dass „das normative Projekt des Westens“ nicht ohne den jüdisch-christlichen Monotheismus verstanden werden kann (Geschichte des Westens, Bd. I, München 2009, 25-46). Damit das Recht nicht nur „leere Anpreisung“ (Kant) bleibt, muss es also mit Gewalt ausgestattet sein.
Diese Anwendung rechtmäßiger Gewalt hat die Katholische Kirche nie infrage gestellt. Sie steht damit in bester biblischer Tradition. In der Gestalt der Blutrache, die in Gesellschaften ohne Zentralgewalt eine später vom Staat übernommene Aufgabe übernimmt, wird sie sogar von Gott nach dem urgeschichtlichen Brudermord gestiftet (Gen 4,15). Ihr Kerngedanke lautet: Eingrenzung der Gewalt durch Androhung und Anwendung rechtmäßiger Gewalt.
Das Alte Testament befasst sich über weite Strecken mit diesem Thema. Davon wird durch das Neue Testament nichts zurückgenommen. Im 13. Kapitel des Römerbriefes gibt Paulus zu erkennen, dass er selbstverständlich in dieser Tradition steht, wenn schreibt: „Denn es gibt keine Gewalt (potestas), die nicht von Gott stammt … Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienste Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut.“ Aus dem letzten Satz geht eindeutig hervor, dass die ganze Argumentation nur dann dem christlichen Glauben entspricht, wenn die staatliche Gewalt an das Recht gebunden bleibt: „Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten“ (Röm 13,3). Offen bleibt die Frage nach der Berechtigung des Tyrannenmordes, die später Thomas von Aquin ausführlich und differenziert behandelt. Paulus war also nicht der Ansicht, dass die Ausübung rechtmäßiger, staatlicher Gewalt der Botschaft Jesu widerspreche.
Weshalb ich so ausführlich darauf eingegangen bin: Nach Lehre der Katholischen Kirche widerspricht diese Form der Gewaltanwendung nicht der Botschaft Jesu. Die Kirche geht sogar soweit, dass sie das Recht auf Todesstrafe in extremen Fällen dem Staat nicht abspricht. Zumindest sagt das der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), approbiert von Papst Johannes Paul II. vom 25. Juni 1992, unter Nr. 2266: „Der Schutz des Gemeinwohls der Gesellschaft erfordert, dass der Angreifer außerstande gesetzt wird zu schaden. Aus diesem Grunde hat die überlieferte Lehre der Kirche die Rechtmäßigkeit des Rechtes und der Pflicht der gesetzmäßigen öffentlichen Gewalt anerkannt, der Schwere des Verbrechens angemessene Strafen zu verhängen, ohne in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe auszuschließen.“ Hier ist allerdings zu ergänzen, dass Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Evangelium vitae“ zwar an der Todesstrafe als letztes Mittel zum sozialen Selbstschutz der Gesellschaft festhält, dann aber fortfährt: „Solche Fälle sind jedoch heutzutage infolge der immer angepassteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben.“ Im Jahre 1999 ging der Papst noch einen Schritt weiter und richtete einen Appell an alle Staatsführer, eine internationale Übereinkunft zur Abschaffung der Todesstrafe zu erreichen.“ (N.B.: Kardinal Schönborn sagte mir allerdings, bei der leichten Revision des KKK habe es an genau dieser Stelle eine Korrektur gegeben – auf ausdrücklichen Wunsch von Papst Johannes Paul II., so dass die Todesstrafe jetzt auch nicht mehr als ultima ratio einer staatlichen Notwehr gebilligt würde – aber nicht aus prinzipiellen, sondern aus historisch-kontingenten Gründen. Leider bin ich nur im Besitz der Fassung des KKK von 1992 und auf der Homepage des Vatikans konnte ich im deutschen Text der Ausgabe von 1997 keine Änderung feststellen).
Das Thema wird im KKK unter der Überschrift „Notwehr“ abgehandelt, und darum geht es mir (und nicht um die Todesstrafe). Der entscheidende Punkt ist, dass jemand, der einen anderen Menschen im Falle der Notwehr tötet, weder gegen das 5. Gebot noch gegen die Bergpredigt verstößt. In gewissen Situationen kann er sogar dazu verpflichtet sein, etwa wenn er Verantwortung für andere trägt. Um ein aktuelles Beispiel zu bringen: Der Polizist, der den Amokfahrer von Nizza erschossen hat, hat nicht gegen das 5. Gebot verstoßen. Wenn er Katholik war, muss er die Tat also nicht beichten. Der KKK sagt das sehr klar unter den Nr. 2263 – 2265: „Die Notwehr kann für den, der für das Leben anderer oder für das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist, nicht nur ein Recht, sondern eine schwerwiegende Verpflichtung sein“ (2265). Die Argumentation beruft sich auf den heiligen Thomas von Aquin, den „allgemeinen Lehrer der Katholischen Kirche“. Die Argumentationsfigur lautet „Handlung mit Doppelwirkung“: „Aus der Handlung dessen, der sich selbst verteidigt, kann eine doppelte Wirkung folgen: die eine ist die Rettung des eigenen Lebens, die andere ist die Tötung des Angreifers“ (s. th. II-II, q. 64, a. 7 i.c.a.: „Ex actu igitur alicuius seipsum defendentis duplex effectus sequi potest, unus quidem conservatio propriae vitae; alius autem occisio invadentis“).
II. Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit
Dem Alten Testament geht es vor allem um die Eingrenzung der Gewalt durch Gewalt. Jesus hebt dieses Modell nicht auf (vgl. Mt 5,17-20), sondern geht einen wesentlichen Schritt darüber hinaus: Ihm geht es um die Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit. Dabei konnte das Neue Testament Modelle aufgreifen und weiterführen und mit der Person Jesu verbinden, die bereits im Alten Testament entwickelt wurden, wie das Leiden und die Rettung des Gerechten (Psalmen; Weish 1,16-3,12) und das Motiv vom Gottesknecht (Jes 52,13-53,12). Mit diesem Thema hat sich Bischof Dr. Stefan Oster ausführlich befasst und ich habe dem eigentlich nichts hinzuzufügen. Wichtig ist mir der Hinweis, dass das Modell „Eingrenzung der Gewalt durch rechtmäßige Gewalt“ damit nicht aufgehoben, sondern weitergeführt wird. Beim Modell „Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit“ geht es um Heilung und Erlösung, um die „Arbeit“ an den Tiefenstrukturen einer aus der Gottlosigkeit hervorgehenden Gewalt. Wenn wir in Theologie und Verkündigung aber ausschließlich dieses zweite Modell thematisieren und das erste überhaupt nicht mehr erwähnen und implizit vielleicht sogar den Eindruck erwecken, Jesus habe das erste Modell (und mit ihm das Alte Testament) mehr oder weniger verworfen und allein das Modell „Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit“ sei adäquater Ausdruck des christlichen Glaubens, entsteht in der Öffentlichkeit leicht der Eindruck, das Christentum sei eine Religion für Weltfremde. Konsequent durchdacht würde das bedeuten, dass Christen keine Polizisten werden und keine Verantwortung im Staat übernehmen dürften. Wir würden damit Politikern, die sich aus christlicher Verantwortung um staatliche Angelegenheiten bemühen, den Boden unter den Füßen wegziehen. Heidnische Philosophen der Antike haben den Christen den Vorwurf gemacht, mit ihrer Lehre würden sie die staatliche Ordnung unterminieren, mit ihnen könne man „keinen Staat machen“. Von jüdischer Seite war der Vorwurf zu hören, Jesus zerstöre mit seinen sabbat- und familienkritischen Worten das Leben der Familien. Das sind sehr ernst zu nehmende Vorwürfe, mit denen sich beispielsweise Papst Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch redlich auseinandersetzt. Die christliche Theologie hat sich im intensiven Gespräch mit der antiken Philosophie um ein angemessenes und letztlich vertieftes Verständnis des Evangeliums bemüht und die heidnischen Vorwürfe als unbegründet zurückgewiesen (vgl. u.a. Origenes, Contra Celsum). So konnte das Christentum bereits ab dem 2. Jh., vor allem dann aber im 3. und 4. Jh. in intellektuellen Kreisen der römischen Gesellschaft argumentativ überzeugen. Marius Victorinus und Augustinus dürften die bekanntesten Beispiele dafür sein. Vor allem unter dem Einfluss der Bischöfe gelang es, Extrempositionen wie Gnostizismus und Montanismus als unangemessene Deutungen Jesu und seiner Botschaft zu verwerfen. Damit fand eine wichtige Weichenstellung statt, die auf eine Kompatibilität von Vernunft (Philosophie) und Bibel (Christentum) hinauslief. Jesu Botschaft ist, richtig verstanden, zutiefst vernünftig. Jesus war kein Spinner. Die Symbiose von Bibel und Vernunft hat in der Theologie und Spiritualität Meister Eckharts eine nach wie vor faszinierende Gestalt gefunden. Eckhart will zeigen, „dass das, was die Wahrheit der Heiligen Schrift in Bildreden (parabolice) gleichsam verborgen andeutet, mit dem, was wir über Gott, das sittliche Handeln und die Natur beweisen und ausführen, übereinstimmt“ (Liber parabolarum Genesis, prologus 4). So gesehen war die „Konstantinische Wende“ kein prinzipieller Sündenfall in der Geschichte des Christentums, wie häufig dargestellt.
III. Christentum, Islam und Gewalt
Dass der Islam von seiner Ursprungsgeschichte her in der Gestalt des Propheten Mohammed eine stärkere Affinität zur Gewalt aufweist als andere Religionen, dürfte nicht zu bestreiten sein. Mohammed hat erfolgreich Kriege geführt, was von keinem Muslim bestritten wird. Die Geschichte des Islams ist – zumindest in ihren Anfängen – eine Siegergeschichte. Nachdem Mohammed mit seiner Botschaft überwiegend auf Ablehnung gestoßen war, erschien sein Sieg über die Mekkaner bei Badr im Jahr 624 den Zeitgenossen als das eigentliche Beglaubigungswunder. Als Sieger in der Schlacht fand Mohammed über den engeren Kreis seiner Anhänger hinaus Anerkennung als ein von Gott erwählter Prophet. Dieses Modell hat Mohammed erfolgreich durchgezogen. Immer wenn es zum Stillstand der Expansion kam, fand er neue Möglichkeiten, sie an anderer Stelle fortzusetzen. So konnten in kurzer Zeit große Teile der arabischen Halbinsel bis nach Syrien eingenommen werden. Zur Ursprungsgeschichte des Islams gehört also der militärische Erfolg. In der Forschung wird darauf hingewiesen, dass dieses Motiv für den Übertritt vieler Stammesführer zum Islam ausschlaggebend gewesen sein dürfte.
Die Ursprungsgeschichte des Christentums ist anders verlaufen. Die Argumentationsfigur „Legitimation der religiösen Botschaft durch militärischen Sieg“ trat erst relativ spät in die Geschichte des Christentums ein (im Westen erst ab dem 4. Jahrhundert; Konstantin: „In diesem Zeichen wirst du siegen“ – so zumindest in einer späteren Deutung; Chlodwig usw.). Sie gehört nicht zu seiner Ursprungsgeschichte und somit nicht zu seinem Selbstverständnis. Im Gegenteil, am Beginn des Christentums stand eine Niederlage, der Tod, das Kreuz. Und diese Niederlage wurde nicht durch einen militärischen Sieg wettgemacht, sondern sie wurde angenommen und durchlitten. Es gab keinen Rachefeldzug. Das Kreuz impliziert eine prinzipielle Umwertung der Begriffe von „Ehre“ und „Schande“. Das Leid wird damit zu einem Ort, an dem Gott gegenwärtig ist.
Somit gehört die Gewalt als eine erlittene und nicht als eine siegreich ausgeübte zur Ursprungsgeschichte des Christentums. Es gibt im Neuen Testament keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es Jesus und seinen Anhängern um eine gewaltsame Durchsetzung ihres „Projektes“ ging. Vielmehr ist die Überwindung der Gewalt durch Gewaltlosigkeit das Modell ihrer Mission. Diese verlief in den ersten drei Jahrhunderten gewaltlos. Und auch in den Jahrhunderten danach bildeten – entgegen einem verbreitete Klischee – „Ausbreitung des Christentums durch blanke Gewalt, Zwangsmission bei gleichzeitiger politischer Unterwerfung … eher die Ausnahme“ (Ernst-Dieter Hehl, WBG Weltgeschichte. Bd. III. Weltreligionen und Weltdeutungen 600 bis 1500, hg. von J. Fried / E.-D. Hehl, Darmstadt 2010, 10).
Dem widerspricht nicht das Alte Testament (vgl. meinen Beitrag: „Christentum ohne Altes Testament?, in: Herder Korrespondenz 8/2016, 26-30). Oft wird in diesem Zusammenhang auf alttestamentliche Texte verwiesen, die das Projekt einer gewaltsamen Durchsetzung religiöser Ansprüche, verbunden mit einer Ausrottung ganzer Völker, zu rechtfertigen scheinen. Gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang das Buch Josua genannt. Doch sowohl die innerbiblische Exegese als auch die frühe Auslegungsgeschichte haben Sicherungsmechanismen eingebaut, um ein wörtliches Verständnis dieser und anderer ähnlich lautender Texte zu unterbinden. So endet die Tora, der erste und grundlegende Teil des Alten Testaments, nicht mit der gewaltsamen Eroberung des Landes, sondern mit einem Ausblick auf das Land. Wenn man also in der synagogalen Lesung am Ende des Buches Deuteronomium angelangt ist, geht es nicht mit Josua weiter, sondern es geht wieder von vorne los mit der Erschaffung der Welt im Buch Genesis. Das Land rückt damit in einen eschatologischen Horizont. Hier konnte das Neue Testament nahtlos anknüpfen: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land in Besitz nehmen“ (Mt 5,5). Die eigentliche Landnahme steht also noch aus.
Der christliche Theologe Origenes (185 – 253 n. Chr.) verstand die im Buch Josua erzählten Kämpfe als „innere Kämpfe“. Josua war für ihn eine figura Christi (im Griechischen heißt Josua Jesus – also wie der Jesus des NT). Würden wir die Texte wörtlich verstehen, so Origenes, dann müssten wir täglich Blut vergießen. Das aber kann nicht gemeint sein. In der 5. Predigt zum Buch Josua schreibt Origenes: „Außer dir selbst sollst du außen kein Schlachtfeld suchen. In dir ist der Kampf, den du führen, im Inneren ist das morsche Gebäude, das du abreißen musst; dein Feind kommt aus deinem Herzen.“ In diesen und vielen anderen Texten zeigt sich das Selbstverständnis des Christentums als einer geistigen Religion.
Von daher ist es problematisch, wenn Christentum und Islam als in gleicher Weise gewaltanfällig hingestellt werden. Hier werden Unterschiede, die in der Genese und im Selbstverständnis der beiden Religionen begründet liegen, verwischt. Deshalb halte ich die in diesem Zusammenhang gestellten kritischen Anfragen von Bischof Oster für berechtigt. Sie können helfen, im respektvoll geführten Dialog Grundfragen des eigenen Selbstverständnisses zu klären und möglicherweise auch zu modifizieren. Auf diese Weise wird das friedliche Zusammenleben der Religionen gefördert und zugleich die gemeinsame Suche nach der Wahrheit stimuliert.
Sehr geehrter, lieber Prof. Schwienhorst-Schönberger,
haben Sie vielen Dank für diese fundierte und detaillierte Ergänzung. Ja, dieser Blick auf das Gewaltmonopol des Staates und seinen Bezug zum Christentum ist auch in dieser Differenzierung enorm wichtig! Mit besten Wünschen und Grüßen. SO