Interview: Die Kirche und ihre Gläubigen heute

Über die Kirche und ihren Zustand zu heutiger Zeit interviewte das evangelische Magazin idea Bischof Stefan Oster. Das Interview erschien unter dem Titel „Diejenigen, denen es ernsthaft um Nachfolge geht, verstehen sich über die Konfessionsgrenzen hinweg“.

Stefan Oster (50) wurde 2014 zum Bischof des Bistums Passau geweiht. Zuvor lehrte er als Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benediktbeuern. Oster absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Zeitungs- und Hörfunkredakteur und arbeitete zwei Jahre in diesem Beruf. Nach dem Studium der Philosophie, Geschichte und Religionswissenschaften trat er 1995 in den Orden der Salesianer Don Boscos ein, studierte Theologie und wurde 2001 zum Priester geweiht.

Die Kirche und der Exodus der Gläubigen

Herr Bischof, Sie sind in einer beneidenswerten Situation: 78 Prozent der Menschen in Ihrem Bistum sind katholisch – ein Wert, von dem andere Bistümer oder Landeskirchen nur träumen können. Dennoch beschäftigt Sie der Gedanke, dass die Volkskirche künftig ohne Volk dastehen könnte. Wie passt das zusammen?

Wir beobachten seit Jahren einen Exodus aus den Volkskirchen. Der Anteil der Katholiken, die am Sonntag den Gottesdienst besuchen, hat sich den letzten 25 Jahren mehr als halbiert. Die Zahl der Trauungen ist um mehr als 60 Prozent zurückgegangen. Das macht mir Sorgen und lässt mich Fragen stellen.

Welche Frage stellen Sie?

Woran liegt es?

Haben Sie eine Antwort gefunden?

Es liegt nicht nur aber auch an uns. Aber wir leben auch in einer Zeit von 70 Jahren Wohlstand. Zudem erleben wir seit der Aufklärung den Siegeszug der empirischen Wissenschaften, verbunden mit Säkularisierungsschüben.  Wir erleben Individualisierung, Ökonomisierung der Lebensbereiche der Menschen und anderes mehr. Es sind viele Faktoren zusammen.

Die Kirchen profitieren vom Wohlstand – die Einnahmen steigen von Jahr für Jahr.

Es ist paradox: dank der guten Konjunktur haben wir hohe Einnahmen wie selten. Gleichzeitig haben wir so wenig Besucher wie nie. Im Fußball sagt man dazu: Geld schießt keine Tore – Geld macht keine Gläubige.

Sie hätten lieber weniger Geld und dafür mehr Christen?

Ja, natürlich. Viele Leute sagen mir: Allein am Gottesdienstbesuch kann man doch nicht festmachen, ob jemand Christ ist. Aber als Katholik glaube ich, dass die Eucharistie die dichteste Weise der Gegenwart Gottes ist. Die Teilnahme daran, halte ich für deshalb für einen wichtigen Indikator.

Die Kirche und ihre Gläubigen

Bei Katholiken gilt doch: Einmal getauft – für immer dabei. Egal, ob man sich später noch blickenlässt oder nicht.

Ich dachte, das ist eher bei den Evangelischen so (lacht). Ein anderer Indikator ist auch das Sakrament der Beichte, das große Geschenk, immer wieder umzukehren. Aber leider liegt das Sakrament der Beichte auch bei uns am Boden. Wenn ich Gemeinden besuche, frage ich manchmal provozierend: Darf ich bei Euch in den Beichtstuhl gehen?

Häufig steht dort nur der Putzkübel drin. Aber ich will das nicht anklagend sagen. Das gehört auch in den großen Trend. Freilich gibt es häufig auch eine Wechselwirkung: Wenn das Angebot fehlt, geht auch keiner mehr hin und wenn keiner mehr hingeht, bietet auch keiner mehr was an. Auch im volkskirchlichen Leben gilt: Entweder Glaube wächst oder er verdunstet nach und nach.

Wie kann Glaube verdunsten?

Der Glaube ist ein Geschenk, er ist aber auch eine Tugend und kann eingeübt und trainiert werden, bis er einem in Fleisch und Blut übergeht. Unsere geistlichen Lehrer sagen durch alle Zeiten: Stillstand bedeutet im geistlichen Leben im Grunde immer Rückschritt.

Wie lässt sich das verhindern?

 Das allerwichtigste sind Zeugen, die aus dem Geheimnis des christlichen Glaubens leben und Jesus Christus persönlich kennen. Wenn ich im Gottesdienst erleben darf, dass es eine Gemeinschaft von Gläubigen gibt, die dieses Geheimnis teilen, wächst in mir die Sehnsucht, in diesem Glauben zu wachsen. Das Problem ist: In einem volkskirchlichen Milieu ist diese Notwendigkeit selten bewusst. Meistens zielt das gemeinsame gläubige Leben eher darauf hin, dass die Menschen irgendwie automatisch dabei bleiben.

Die Kirche und die Skeptiker

Genau das geschieht heute nicht mehr.

Die säkulare Kultur führt uns weg davon. Ich habe neulich mit einem Kirchenmusiker gesprochen, der mir voller Leidenschaft erzählte, wie sehr Kirchenmusik für ihn Verkündigung ist und er damit seinen Glauben leben und ausdrücken kann. Er wuchs in einer katholischen Familie mit guten, gläubigen Eltern auf. Er hat drei Geschwister, die inzwischen ganz weit weg vom Glauben und der Kirche sind. Alle vier Geschwister hatten dieselben Startvoraussetzungen.

Ich fragte den Kirchenmusiker: Mal ehrlich, wären Sie noch in der Kirche, wenn Sie kein Kirchenmusiker wären? Er antwortete: Ich glaube nicht. – Dieses Gespräch hat mir sehr zu denken gegeben. Sein eigenes kulturelles, von ihm selbst gepflegtes Umfeld hilft diesem Mann, im Glauben zu bleiben und darin zu wachsen, ohne dies hätte er seinen Glauben vermutlich verloren. Unsere Herausforderung ist also, einladende, vom Glauben geprägte Atmosphären  entstehen zu lassen, in denen die Menschen auch geistlich bleiben können.

Religiöses Leben ist mehr als die heilige Messe

Wir Katholiken neigen dazu, religiöses Leben auf die heilige Messe zu reduzieren. Und ansonsten leben wir in einer anderen Welt, die damit nichts zu tun hat. Die Menschen verstehen folglich immer weniger, was da gefeiert wird. Es wird dann für viele das Absolvieren eines Pflichtbesuchs, der möglichst nicht länger als 45 Minuten dauern soll. Aber wie werde ich da hinein geführt? Wie lebe ich zuvor schon gläubig. Und welche Konsequenzen hat der Gottesdienst für mein Leben? Das sind zum Beispiel Fragen, die wir stellen müssen.

Sie nannten zwei Hinderungsgründe für den Glauben: Den Wohlstand und die Wissenschaften. Die landläufige Meinung heute ist: Die Wissenschaften haben die Existenz Gottes längst widerlegt.

Dieser Auffassung begegnet man tatsächlich häufig. Dabei war der christliche Glaube ein Wegbereiter der Wissenschaften. Glaube und Vernunft gingen immer eng zusammen. Die Frage ist nur: Haben die empirischen Wissenschaften den Menschen als Person im Blick? Wissen sie zum Beispiel, dass der Mensch eine Seele hat, dass er einzigartige Person mit Würde ist? Das Bewusstsein dafür geht in unserer Zeit verloren.

Ein Skeptiker wird sagen: Beweis mir doch erst mal, dass es Gott gibt!

Einen naturwissenschaftlichen Beweis wird er von mir nicht kriegen. Ich würde aber zurück fragen: Weißt Du, wie gute Freundschaft geht? Weißt du, was Liebe und Vertrauen sind? Beweis mir das alles mal naturwissenschaftlich!  Dann wird der Skeptiker womöglich keine allzu guten Antworten wissen. Wenn ich zu einem Freund sagen würde: „Beweis mir mal, dass du mein Freund bist!“, wäre unsere Freundschaft womöglich schnell zu Ende.

So verhält es sich auch in der Beziehung zu Gott. Es geht nicht darum, ihn zu beweisen, sondern ihm Vertrauen zu schenken. Wissenschaftlich-empirisches Denken hat seine Vorteile, aber es ist nicht die einzige Möglichkeit zur Erkenntnis zu kommen. Es gibt auch so etwas wie „personales Erkennen“, wie eben die Erfahrung von Freundschaft und Vertrauen.

Die Kirche und die Gesellschaft

Zu solchen Gesprächen über Gott und Glauben kommt es nicht mehr sehr häufig. Die Kirche erreicht die eng mit ihr verbundenen, lebt aber an der säkularen Welt vorbei.

Das sehe ich anders. Papst Franziskus sagt immer: „Die Kirche muss an die Ränder gehen.“ Das ist bei der Kirche in Deutschland längst der Fall. Diakonie und Caritas sowie die anderen kirchlichen Hilfswerke sind ja überall gerade an den Rändern aktiv, bei Menschen in Not. Das heißt: Hier erreicht Kirche viele Menschen. Das Problem: Sie werden nicht immer als kirchliche Angebote wahrgenommen, sondern als allgemeine Wohlfahrtsangebote.

Viele Menschen, die für die Kirche arbeiten, sind ja selbst so weit säkularisiert, dass sie über den christlichen Glauben kaum mehr Auskunft geben können. Wären dort überall Menschen, die wirklich aus der Erfahrung der Liebe Christi leben und handeln würden, hätte das große Anziehungskraft. Aber im Durchschnitt wird wohl vor allem professionell und gut gearbeitet – ohne dass allzu gut erkennbar wäre, was das unterscheidend Christliche ist. Dagegen bin ich überzeugt: Authentisch gelebter Glaube zieht an – oder provoziert Ablehnung.

Zudem: Das „Erreichen-wollen“ der Menschen ist auch zweischneidig. Jesus sagt sogar im Johannes-Evangelium, niemand kann zu mir kommen, es sei denn der Vater ziehe ihn (6,44). Das heißt für mich: Das Entscheidende tut Gott selbst. Daher geht es nicht so sehr darum, sich ungeheuer anzustrengen, um möglichst viele zu erreichen. Es geht eher darum, in der Gegenwart Gottes zu leben und aus ihr zu handeln. Das „Erreichen“ kommt dann von selbst.

Der Lebensweg von Bischof Stefan Oster

Sie sind bei Facebook aktiv und haben einen eigenen Internet-Blog. Die „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“ schreibt über Sie: „Seine Facebook-Texte wirken wie im Jesus-Rausch geschrieben. Mit ihm hat die katholische Kirche einen Evangelikalen.“

Das ist eine sehr pointierte Formulierung. Ich nehme es als Anerkennung, dass es mir im Kern um Jesus Christus geht. Wenn evangelikal bedeutet, dass für mich das Evangelium im Mittelpunkt steht – vielen Dank!

Und wenn man diese Wertung als Kritik versteht?

Dann könnte man denken: Der Oster ist eben ein fundamentalistischer Schwärmer. „Jesus-Rausch“ könnte dann bedeuten: Ein romantischer Spinner, der von der Welt keine Ahnung hat. Ich lese diesen Text aber mit einer Hermeneutik des Wohlwollens und nicht mit einer Deutung des Verdachts.

Sie haben einen ungewöhnlichen Lebensweg. Im Internet gibt es zum Beispiel ein Video von ihnen, dass sie Bälle jonglierend und dabei verkündigend zeigt. Machen Sie das heute auch noch?

Selten, aber wenn ich mit Kindern und Jugendlichen zu tun habe, kann es sein, dass die Bälle zum Einsatz kommen. Neulich war ich in einer Einrichtung für geistig behinderte Kinder – bei solchen Gelegenheiten mache ich schon mal ein paar Kunststücke.

Sie waren Radiomoderator und lebten mit einer Freundin zusammen. Dann trieb Sie ein persönliches Erweckungserlebnis in das Theologiestudium und später in das Priesteramt. Auf viele wirkt so eine Bekehrung irritierend.

Die Heilige Schrift spricht davon, dass Gott Menschen begegnet und ihr Leben verändert. So habe ich es auch erlebt.

Bischof sein im Bistum Passau

Sie sind seit zwei Jahren Bischof. Eine Faustregel sagt: Das Amt verändert den Menschen stärker als der Mensch das Amt. Erleben Sie das auch so?

Keine Ahnung! Ich hatte nicht vor, Bischof zu werden. Ich wollte als Ordensmann für Gott und für junge Menschen leben…

… in Keuschheit, Gehorsam und Armut.

Ich habe keine Karriere geplant und vom Bischofsamt nicht geträumt. Ich schreibe es dem Herrn zu, dass er mich in dieses Amt geführt hat. Im Vorfeld zur Bischofswahl hatte ich einen Heidenrespekt und das Gefühl der Überforderung.

Einen Heidenrespekt?

Oh, danke, dass sie mich darauf hinweisen. Vielleicht war es tatsächlich ein Gedanke, der vom Unglauben geprägt war. Was ich immer von Herzen gern macht habe, ist das Evangelium zu verkündigen. Die Gelegenheit, das nun in einem weiteren Radius zu tun, freut mich sehr.

Ihr Bistum ist ein schwer beweglicher Tanker mit etwa 10.000 Mitarbeitern. Haben Sie den Eindruck, dass Sie überhaupt etwas bewegen können?

Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich weiß, dass Jesus uns auffordert Frucht zu bringen. Aber er lässt wachsen, nicht ich – und das Wachstum geht manchmal langsam. Bisweilen sind manche Früchte erst für die nächste Generation spürbar.

Ruhesatand und Aufbrüche

Sie haben ja noch 25 Jahre Zeit, bevor sie als Bischof in den Ruhestand gehen.

Ich habe vor kurzem den Wiener Kardinal Schönborn getroffen. Er ist schon seit über 25 Jahren Bischof und hatte nach seiner Wahl begonnen, Aufbrüche und Neuevangelisierung zu fördern. Er sagte mir: „Ich darf jetzt Früchte ernten.“ Das freut mich, wenn er das sagen kann.

Welche Aufbrüche wollen Sie lostreten?

Das Wort „Lostreten“ mag ich nicht. Mir geht es sehr stark um authentisches geistliches Leben und um Glaubenskommunikation, um Inhalte. Und so habe ich bald nach der Weihe mit jungen Leuten einen Kreis begonnen, wo wir miteinander beten und über den Glauben sprechen (Believe and Pray). Ich will auch den Priestern und anderen Berufsgruppen häufig begegnen und über unsere Inhalte sprechen, mit ihnen beten. Ich tue es öffentlich auf verschiedenen Plattformen oder Medien. Ich habe den Eindruck, wir sind vielfach sprachlos geworden und daher ist so etwas wie dem „Verlust der Inhalte“ zu begegnen eines meiner Hauptanliegen.

Verkündigung in heutigen Zeiten

Sie gelten als fordernder Prediger. In einem Beitrag unter dem Titel: „Woran krankt unsere Verkündigung?“ schrieben Sie: „Ich halte es für eine äußerlich recht sympathisch wirkende Irrlehre, wenn heute mit Hilfe des Schlagwortes ‚Frohbotschaft statt Drohbotschaft‘ das Christentum zu einer Art Humanismus der Nettigkeit nivelliert wird: Ja nichts von Sünde, nichts von Umkehr, nichts von Gericht, schon gar nicht von Hölle predigen!“

Ich möchte, dass Menschen unseren Herrn Jesus Christus kennenlernen. Und Christus fordert ja im Grunde immer zur Entscheidung auf. Je näher ich ihm komme, desto mehr spüre ich: Ein bisschen Christus gibt es nicht, es gibt nur Ja oder Nein zu ihm.  Im Evangelium geht es um etwas: Gott hat seinen Sohn geschickt, der unsäglich gelitten hat, für uns gestorben und auferstanden ist, damit wir nicht verloren gehen, sondern wieder zum Vater finden.

Kein Heilsautomatismus

Das ist also kein Heilsautomatismus, sondern hat etwas mit meiner persönlichen Entscheidung zu tun. Und Aussagen in dieser Richtung  findet man im Grunde auf jeder Seite der Evangelien. Etwa ein Drittel aller Jesusworte in den Evangelien handeln von dieser Dringlichkeit und erweisen sich als Ansage des Gerichts. Jesus selbst stellt uns immer und immer wieder vor die Entscheidung. Er schenkt uns die Freude, den Sinn, die Erlösung aber die geschieht nicht ohne uns und nicht ohne unsere Umkehr.

Sie verblüffen mich. Mit solcher Klarheit hört man das von einem Bischof heutzutage nicht mehr.

Was soll ich dazu sagen? Ich lese die Evangelien und versuche sie so gut es geht zu verkündigen. Ich sehe in meinen Aussagen auch keinen Widerspruch zur Lehrtradition meiner Kirche.

Die römisch-katholische Kirche steht in der öffentlichen Wahrnehmung in dem Ruf, an lauter Dingen festzuhalten, die völlig aus der Zeit gefallen sind: Festhalten am Zölibat für Priester, Ablehnung der Ordination von Frauen ins Priesteramt, Ablehnung von praktizierter Homosexualität.

Dieser Eindruck ist durch die öffentliche Darstellung gefiltert. Ich habe oft den Eindruck, dass wir von einer säkularen Öffentlichkeit Themen aufgedrückt bekommen, die nicht der Kern unserer Botschaft sind. Das Herz unserer Kirche ist die Begegnung mit dem Herrn. Leider ist für viele Menschen der Blick darauf völlig verstellt, weil diese Streitfragen wie eine dichte Hecke dazwischenstehen.

Die evangelische Kirche

Gelingt in den evangelischen Kirchen die Begegnung mit Gott besser?

Ich fürchte nein. Ich nehme wahr, dass die Auflösungserscheinungen in der evangelischen Kirche noch stärker sind, obwohl sie diese Fragen völlig anders beantwortet als die katholische Kirche. Ich sage das ohne Häme, sondern mit großem Bedauern, weil wir Geschwister in dem einen Herrn sind.

Für die evangelischen Kirchen ist das 2017 – der 500. Jahrestag der Reformation – ein wichtiges Jahr. Für Sie auch?

Nicht so wichtig wie für die Protestanten. Aber es wäre wichtig, in diesem Jahr etwas von unserem gemeinsamen Anliegen deutlich zu machen. Die Reformatoren haben sicher wichtige Impulse gegeben, etwas die Erinnerung an die Bedeutung der Heiligen Schrift und die Rechtfertigung durch den Glauben.

Dafür bin ich dankbar. Von katholischer Seite darf man dennoch die Frage stellen: Ist die Reformation eine Erfolgsgeschichte oder ist sie letztlich gescheitert, weil sie zur Kirchenspaltung führte? Luthers ursprüngliche Absicht war ja, eine Erneuerung und nicht die Eröffnung eines eigenen Kirche.

Die evangelische Kirche buhlt immer noch darum, dass der Papst 2017 doch bitteschön nach Lutherstadt Wittenberg reisen möge, um dem gemeinsamen „Christusfest“ seinen Segen zu geben. Aber Papst Franziskus will einfach nicht zusagen.

Das würde die Betonung auch zu sehr auf Deutschland legen. Der Papst trifft sich im Oktober in Lund (Schweden) mit Vertretern des Lutherischen Weltbunds. Allein diese Zusage finde ich schon bemerkenswert. Zuvor gab es schon 2011 die Begegnung zwischen Papst Benedikt XVI. und der EKD im Augustinerkloster in Erfurt. Den evangelischen Kirchen ist von katholischer Seite also schon ein hohes Maß an Entgegenkommen zuteil geworden.

Die Kirche und die Zukunft

Werden die Volkskirchen künftig stärker zusammenarbeiten, weil die Not sie dazu treibt?

Ich vermute und hoffe ja. Der Säkularisierungsdruck auf die Kirchen wird weiter zunehmen. Der Druck, sich zu rechtfertigen, warum man überhaupt noch Christ ist, wird wachsen. Die Zahl der Kirchenmitglieder wird weiter sinken, aber die Zahl der ernsthaften Christen wird zunehmen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Menschen, die sich ernsthaft um Nachfolge mühen, über die Konfessionsgrenzen hinweg besonders gut verstehen.

Sie werden im Jahr 2042 in Pension gehen. Wie wird die Kirche dann aussehen?

Schwere Frage. Die Kirche wird aus kleineren, dafür aber lebendigeren und entschiedeneren Gemeinden oder Gemeinschaften  bestehen. Sie werden stärker missionarisch aktiv sein.

Mission steht in der Kirche doch unter Verruf. Dialog ja – aber bitte keine Mission!

Im Matthäus-Evangelium 28,19-20 sagt der auferstandene Herr: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Menschen zu Schülern und Nachfolgern Christi zu machen, ist der Auftrag der Kirche.

Das ist leichter gesagt als getan.

Wenn ich missionieren will, geht es nicht darum, dem anderen die Wahrheit mit dem Trichter einzuflößen, sondern dass sein Herz von der Gegenwart Gottes berührt wird. Wer dazu bereit ist, für den wird es das Geschenk seines Lebens sein. Was dabei zentral ist: Wir brauchen Evangelisierer, also Menschen, die für Gottes Botschaft brennen, sie erklären können und dabei helfen, andere in die Begegnung mit Gott zu führen.

Vielen Dank für das Gespräch! (Fragen von Karsten Huhn)