Glauben – (wie) geht das? Ein Gespräch

Glauben – (wie) geht das? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Hermann Stinglhammer. Das folgende Gespräch ist als einer von sechs Beiträgen abgedruckt im gleichnamigen Buch. Hermann Stinglhammer (Hg.): Glauben – (wie) geht das? Pustet Verlag, Regensburg 2016. Der Band ist zugleich Eröffnungsband der Reihe „Passauer Forum Theologie“.

„Glauben – (wie) geht das? Ein Gespräch mit dem Passauer Bischof Dr. Stefan Oster SDB

Prof. Stinglhammer: Die Fragestellung „Glauben – (wie) geht das?“ impliziert verschiedene Problemhorizonte. 1. Was ist Glaube eigentlich? 2. Wie lässt sich Glaube heute im Zusammenhang eines dezidiert a-religiösen Lebenswissens als vernünftige Haltung des Menschen plausibel machen? Und 3. – wohl am entscheidendsten: wie geht das, glauben, wenn es heute noch geht? Denn religiöser Glaube scheint keinen Ort mehr in einem Bewusstsein zu haben, das allein durch die zählende und messende Vernunft geprägt ist…

Bischof Oster: In der Tat ein Problem. Es ist dies die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft. Glaube, Glaubenshaltungen, Glaubensüberzeugungen beeinflussen unseren Blick auf die Welt und damit unser Erkenntnisvermögen. Jeder Mensch glaubt irgendetwas, jeder Mensch ist von irgendetwas mehr oder weniger überzeugt.

Bei mir ist in diesem Zusammenhang das Paradigma der Begegnung immer ganz wichtig: Wir begegnen einander mit bestimmten Überzeugungen und Haltungen. Und wir spüren, dass wir zueinander mehr oder weniger Vertrauen haben. Die Qualität des Vertrauens beeinflusst ohne Zweifel die Qualität meiner Erkenntnis über den anderen. Ich kann dem anderen gegenübertreten in einer reinen Beobachterperspektive – so, als ob ich mit ihm nichts zu tun hätte und eine Datensammlung über ihn aufstelle.

Glauben – (wie) geht das? Über Beziehungen

Oder ich kann dem Anderen im Sinne eines Gegenübers, eines Du, wie die Dialogphilosophen sagen, begegnen. Das öffnet Dimensionen in mir, die mein Erkenntnisvermögen noch einmal beeinflussen, und zwar intensiv beeinflussen. Der Frage an einen Lebenspartner, eine Lebenspartnerin „willst du mich heiraten?“ muss notwendig eine Erkenntnis vorausgehen, die aus Vertrauen kommt. Und das ist notwendig eine Erkenntnis, die nicht automatisch in quantifizierbaren oder logisch empirisch fassbaren Wissensdaten einzufangen ist.

Glaube also eine Form von Beziehungswissen…

Glaube ist Beziehungswissen, ja ohne Frage. Also… nicht nur, aber auch. Ja, ich würde sogar sagen, Beziehung ist das erste, wie auch Papst Benedikt oder auch Papst Franziskus immer sagen: Das Ereignis einer Begegnung. Und das, was die Kirche nachher an Dogmen, an überliefertem Glaubenswissen beispielsweise im Credo tradiert, ist gewissermaßen die in Formulierungen geronnene Erkenntnis unserer Gotteserfahrung.

Viele moderne Zeitgenossen vertrauen sich völlig unproblematisch den Aussagen des modernen Weltbildes an. Aber der Schritt in den Gottesglauben hinein, das geht ihnen dann doch zu weit. Wie kann man darauf reagieren?

Also ich nehme an, das hängt untergründig damit zusammen, dass wir eine starke Individualisierung und Subjektivierung haben. Eine starke Betonung des freien Subjektes, die in bestimmter Weise auch sehr ich-haft sein kann. Und jeder Mensch hat ja irgendwelche Erfahrungen mit Glauben, vielleicht auch mit Christen und mit ihrem Gottesglauben.

Dabei gibt es hintergründig oft so etwas wie eine Ahnung: „Wenn ich mich wirklich einlassen würde, dann müsste sich etwas in meinem Leben wahrscheinlich verändern. Dann müsste ich etwas preisgeben, dann müsste ich meinen Blick auf die Welt oder bestimmte Situationen fallenlassen oder verändern oder vielleicht sogar auch ethische Perspektiven in meinem Leben.“

Wollen wir überhaupt glauben?

Und die Frage ist: „Will ich das überhaupt?“ Wenn ich anfange, Gott als Gott ernst zu nehmen, dann ist das ein Perspektivenwechsel sondersgleichen. Ich habe vorgestern eine Predigt gehalten und bin dabei auf diesen Werbeslogan eingegangen „Unterm Strich zähl ich“. Das ist praktisch die in eine positive Werbeaussage gegossene erbsündliche, ichhafte Verfassung des heutigen Menschen.

Möglicherweise die gesellschaftlichen Auswirkungen der modernen Ich-Philosophie unserer Denktradition ?

Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, aber  in  Bezug auf  Fichte kann man das vielleicht sagen. Freilich würde ich auch da differenzieren. Aber ein Christ, der es ernst meint, der kann nicht einfach sagen „unterm Strich zähl ich zuerst“. Wir Christen beten in unserem wichtigsten Gebet, dem Vaterunser „dein Wille geschehe“ – und nicht meiner zuerst!

Also doch die Spur der neuzeitlichen Subjektphilosophie…

Ich würde es nicht so eindeutig sagen. Wenn wir das Konzil anschauen, haben wir dort ohne Frage eine tiefere Entdeckung dessen, was Person heißt. Und diese Entdeckung ist wahrscheinlich nicht ohne die Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus zu denken. Wir haben als Kirche auch von Kant, Hegel und Fichte gelernt und verstehen tiefer, wer oder was die menschliche Person in ihrer Freiheit ist. Wobei wir dann auch neu verstehen müssen, was und wie die Freiheit Gottes im Verhältnis zur Freiheit des Menschen ist.

Glauben – (wie) geht das? Über die Freiheit

Wenn man die Subjektphilosophie genau durchdenkt, dann zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass menschliche Freiheit immer eine Freiheit ist, die in andere Freiheit eingewiesen bleibt, so dass eine absolutistisch gedachte Freiheit einen Widerspruch in sich bedeutet.

Ja, genau. Und ich glaube, dass das, was Sie sagen, auch ganz einhergeht mit Paulus. Bei Paulus finden wir diese zwei scheinbar diametral entgegengesetzten Aussagen: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Und auf der anderen Seite: „Und wenn ein Engel vom Himmel käme, ein anderes Evangelium verkündete als ich, verflucht sei er!“ – anders gesagt: „Orientiert euch an mir!“

Paulus ist auf der einen Seite ungeheuer selbstbewusst, Er ist überzeugt, dass er das Wort Gottes richtig und vollmächtig verkündet. Auf der anderen Seite – Christus lebt in ihm. Die Enteignung des ich-haften Subjektiven, also des negativ Subjektiven durch Gott führt in das tiefere Selbstsein, in die tiefere Erfahrung von Selbstsein. Und das spürt man bei Paulus: „Ich bin viel tiefer ich selber, weil ich der Doulos Christi, der Sklave Christi bin“, wie er immer sagt.

Wenn der Sinn fehlt

Michel Houellebecq, gegenwärtig einer der prominenten Autoren Frankreichs und ein areligiös Suchender, formuliert in einem Interview die für mich aufregenden Sätze, dass das Projekt der europäischen Aufklärung gescheitert ist, weil es eine Welt ohne Religion zurückgelassen hat, die das Leben unendlich traurig macht. Ich persönlich versuche in meiner Theologie, den  Glauben als christlichen Lebensstil und als Gegenentwurf zu den sich abzeichnenden Ausweglosigkeiten der Moderne verstehbar zu machen…

Ja, ich kann das nachvollziehen, wenn man Moderne sieht als die Selbstaneignung der Welt durch den Menschen und nur dieses. Dann ja, dann hat das ganze Ding keinen Sinn mehr. Ich habe manchmal zu meinen Studenten gesagt: „Wenn man die ganzen Sinnoptionen dieser Welt – und nur dieser Welt – zu Ende buchstabiert, was bleibt dann? Selbstmord – oder? Am Ende gibt es nur den Ausweg zwischen Selbstmord oder Christus, sehr radikal gesprochen. Ansonsten hat ja das Ganze keinen letzten Sinn, keinen Tiefsinn. Die Welt aus sich alleine, ohne Gott, ist am Ende einfach nur maßlos traurig.

Selbstmord als einziger Ausweg…

Das wäre die Position eines Existentialismus à la Camus. Selbstmord als das einzige Problem des Menschen auch in einer schönen Welt – aber ohne Gott.

Wenn man die Moderne auf diese Aspekte einschränkt, dann würde ich zustimmen. Wenn man in der Moderne aber auch die Möglichkeit der tieferen Erfahrung versteht, in der gezeigt wird, dass der Mensch durch das Du herauskommt aus dem eigenen Ich-Kreisel, dann nicht. Ich denke hier vor allem an Kierkegaard und natürlich wieder die Dialogphilosophen.

Meiner Ansicht nach kann man sagen: Selbst Hegels unglaublich groß angelegter Weg der Dialektik bleibt am Ende dennoch im subjektiven Gefängnis. Aber die Option Dialogik statt Dialektik zeigt den Ausweg. Der Andere ist und bleibt – auch nach der denkenden Aneignung im dialektischen Prozess – ein Anderer, den ich lernen muss zu lieben. Für den ich mich von mir selbst weg überschreiten, also trans-zendieren muss. Und der Zwischenraum zwischen meinem „Ich“ und dem des „Anderen“ ist nicht von mir her schließbar. Er ist – im gelingenden Fall – getragen vom Geist der Liebe.

Wäre dann das gesuchte Lebenswissen, das Christen in dieser Gesellschaft leben könnten und sollten, dass sie im Dialog mit einer größeren Wirklichkeit gerade so als Mensch sie selber werden?

Ja, natürlich. Ich meine, das war immer unsere Option, aber sie wurde nicht immer so gelebt. Wir begegnen jetzt in unserem Bistum den Ambivalenzen von Volkskirche, die einerseits immer noch gut ist. Wir spüren ja trotz allem: Das Evangelium ist auch Sauerteig in die Gesellschaft hinein, auch wenn das Ganze manchmal oberflächlich ist oder manchmal nur noch so etwas wie Brauchtum ist.

Glauben – (wie) geht das? Über die Volkskirche

Aber immerhin ist Kirche noch präsent. Man weiß noch irgendwie, dass es darum geht, gut zum anderen zu sein und dass es einen Herrgott gibt und so. Und gleichzeitig spüren wir längst, dass das heute nicht mehr genügt, um dem Druck der Säkularisierung standzuhalten. Wir brauchen für die Menschen tiefere Erfahrungen des Glaubens – und die sind immer dialogischer Natur.

Aber die Glaubensgestalt war lange Zeit nur monologisch. Glaube wurde mit Katechismuswissen identifiziert, das abgefragt und abgeprüft werden konnte. Diese Zeiten sind heute wohl endgültig vorbei. Und es scheint: Glaube und Leben klaffen mehr auseinander denn je. Welche Wege der Revitalisierung des Glaubens sehen Sie heute als verantwortlicher Bischof einer deutschen Diözese mit ihrem ganz spezifischen Gepräge?

Ganz schwierige Frage. Exemplarisch vielleicht folgendes. Ich hab im kleineren Rahmen, mit jungen Menschen oder mit verschiedenen Gruppen, Erfahrungen machen dürfen, die ich nun auch versuche, als Bischof fruchtbar zu machen – ohne dass das gleich ein Allheilmittel wäre. Meine Erfahrung ist, junge Menschen – oder Menschen überhaupt! – brauchen zunächst einmal so etwas wie einen Erfahrungsraum.

Kirche ist, glauben wir, der Ort, wo der Geist Gottes wirkt. Und sie ist Leib Christi und im Leib Christi wirkt der Geist Gottes einend, gemeinschaftsstiftend und er öffnet für die Erkenntnis Gottes. So ein „Raum“  wo irgendwie etwas erfahrbar wird, das kann zunächst vielleicht am besten als atmosphärisch beschrieben werden. Was meine ich? Ich komme in eine Gruppe von Menschen und spüre plötzlich: Hier ist gut sein. Und wenn ich – wie wir in Bayern manchmal sagen „ein wilder Hund“ bin und darf trotzdem in die Gruppe hinein, dann fang ich vielleicht irgendwann an mich zu schämen, weil die alle irgendwie so anders sind, so gut sind oder so etwas in der Richtung.

„Kirche ist, wo der Geist Gottes wirkt“

Und dann spür ich plötzlich, „ja es gibt etwas, was die eint, womit ich nicht oder noch nicht korrespondiere, womit ich nicht zusammenpasse.“ Und wenn ich das dann echt an mich heranlasse, und auch nach der Quelle dieses Gutseins der anderen frage, dann fängt vielleicht ein Prozess an, der mich anrührt, verwandelt, verändert. Es ist genau diese Erfahrung, von der die Schrift voll ist.

Paulus sagt häufiger etwas in der Art: „Früher habt ihr so gelebt und da ward ihr ausgeliefert – euren ganzen Egoismen und all euren Trieben und falschen Sehnsüchten und all so etwas. Aber jetzt habt ihr Christus, jetzt könnt ihr selbst anders leben und miteinander anders leben.“ Wo gibt es so etwas noch heute im normalen katholischen kirchlichen Leben? Wo ist so etwas noch spürbar? Also: solche Räume ermöglichen… Meines Erachtens hat das auch mit Formen von Spiritualität zu tun, die einen berühren.

Junge Menschen etwa werden stark berührt über Musik, denken Sie etwa an die Taizé-Erfahrungen und anderes. Dazu gehören auch Räume des Schweigens und der Spontanität. Wir experimentieren mit solchen Formen wie „nightfever“ oder mit „Lobpreis“ oder eben mit der Spiritualität von Taizé. Es geht um solche Räume, die geistlich geprägt sind, wo Menschen sich bewegen lassen. Zweitens muss aber dazu auch unbedingt die intellektuell herausfordernde Auseinandersetzung mit dem Glauben dazukommen.

Glauben – (wie) geht das? Erfahrungsräume schaffen

Ich treffe mich mit Jugendlichen, wir beten, schweigen, lobpreisen. Und dann, mitten da hinein, kommt ein theologischer Impuls, an dem ich mich sehr stark an der Schrift orientiere. Ich versuche herausfordernd zu sein, um dann darüber mit den jungen Menschen ins Gespräch zu finden, so dass sie ins Denken kommen. Und ein solches Nachdenken verbinden mit geistlicher Erfahrung – das ist meines Erachtens etwas von dem, was wir heute brauchen. Wir brauchen geistliche Erfahrung und ihr intellektuelles Verstehen.

Auch damit wir sprachfähig sind in Bezug auf unseren Glauben. Dazu braucht es auch eine Deutungskompetenz, eine Kompetenz, die die inneren Erfahrungen des Glaubens auch ins Wort bringen kann. Kurz gesagt: geistliche und geistige Nahrung tun not. Beides zusammen zeigt uns: Unser Glaube ist einerseits wirklich vernünftig. Aber er ist zugleich mehr: Er ist übervernünftig – und das ist etwas anderes als unvernünftig!

Kann angesichts dieser neuen Notwendigkeiten der Glaubensvermittlung die Pfarrgemeinde noch das Modell der Zukunft sein?

Ich glaube nicht genau so, wie sie sich heute durchschnittlich präsentiert. Aber ich glaube, Pfarrei ist plastisch und flexibel genug, um Modelle entstehen zu lassen, in denen solche Erfahrungen von Glauben wachsen können. Das ist auch eine Herausforderung für die Gemeindeleiter, für die Priester, für die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass sie Animatoren sind und werden von Gruppen, in denen solche Erfahrungen wachsen können, wie ich sie zu schildern versuchte.

Pfarrgemeinden – Modell der Zukunft?

Da gibt´s dann vielleicht die Gruppe, die die Heilige Schrift liest, oder die Gruppe, die den Lobpreis pflegt. Oder es gibt die Gruppe, die sagt, „wir wollen also den Altenbesuchsdienst übernehmen und zur Stärkung auch Formen geistlichen Lebens finden, damit wir die Kraft dafür haben…“ sowas – ja. Bischof Hemmerle hat schon vor Jahrzehnten gesagt, die Kirche der Zukunft wird Gemeinschaft von Gemeinschaften sein.

Und wenn diese Gruppen, die ich da jetzt schildere, bezogen sein werden auf die eine Eucharistie, weil wir wissen, dass wir alle als Kirche der eine Leib Christi sind, dann ist ein solche Vielfalt, glaub ich, gesund, dann wächst Kirche in dieser Weise neu. Das wird ein Veränderungsprozess sein, der womöglich gravierender ist als vieles, was wir die letzten Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten erlebt haben. Aber in die Richtung, nehm ich an, wird’s gehen.

Was bedeutet es für eine Kirche, die für einen lebendigen Glauben im Heute einstehen und für ihn werben will? Ist die Dimension der Geschichtlichkeit nicht häufig zu kurz gekommen, sodass der Glaube irgendwie aus der Zeit gefallen ist, wenn man so sagen kann? Ist Tradition im rechten Sinn nicht doch die Weitergabe des Feuers und eben nicht der erkalteten Asche? Also mir geht’s hier um den Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Glaubenslehre.

Dies ist natürlich eine richtig herausfordernde Frage. Es gibt ja Menschen, die sagen: „Um der Geschichtlichkeit willen gehen wir jetzt mal richtig in die Gegenwart hinein. Aber dazu müssen wir die starren ungeschichtlichen Dogmen hinter uns lassen und das irgendwie ganz neu probieren.“ Wenn wir aber einmal erfahren haben, dass diese vermeintlich starren Dogmen Aussagen über eine lebendige Person sind, nämlich über Jesus. Und wenn wir uns von ihm berühren und verwandeln lassen, dann sind und werden wir selbst die konkrete, geschichtliche Antwort auf dem Weg der Kirche durch die Zeit.

Glauben – (wie) geht das? Geschichtlichkeit

Unsere großen heiligen Männer und Frauen waren jeweils zutiefst in der Geschichte inkarnierte Antworten des Evangeliums auf ihre Zeit. Schauen Sie auf die ganzen Heiligen des 19. Jahrhunderts. Mein Ordensvater Don Bosco, der ist damals völlig anders als bisher und als die allermeisten mit jungen Menschen umgegangen. Ganz geschichtlich und in der Zeit, aber trotzdem ganz treu dem Evangelium und der Kirche und den Dogmen. Das darf kein Widerspruch sein.

Man darf nicht sagen, das Alte ist ungeschichtlich und unbrauchbar, das schaffen wir ab und machen hier alles ganz neu. Das stimmt nicht. Der Punkt ist: Wir müssen mit dem Herzen sehen lernen, dass sich die Wahrheit, die wir in den vermeintlich so starren Dogmen aussagen, auf eine lebendige Person beziehen, auf Christus – und der ist derselbe, gestern, heute und morgen. Aber er ermöglicht uns dennoch immer neue Antworten für die jeweilige Zeit zu finden und zu geben.

Geschichtlichkeit kann dann  ja heißen, das, was im Glauben und in der Dogmatik bewährt ist, ist in die Zeit hinein fort- und weiterzuschreiben.

Ja, das glaub ich auch. Und mein Bild dafür ist das Wachstum einer Pflanze. Es ist ja immer dieselbe Pflanze, die aber dennoch aufgeht und hochwächst und ihre Gestalt verändert.

Das ist reinste Tübinger Schule des 19. Jahrhunderts – das organische Wachsen des Glaubens, seine Identität im Werden.

Und das ist durch und durch johanneisch. „Ich hab euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen. Aber der Geist wird euch nach und nach einführen…“ Das ist eine geschichtliche Beschreibung.

Glauben – (wie) geht das? Wie hineinfinden?

Geschichtlichkeit wäre theologisch ja völlig missverstanden, wenn man sich von der Wurzel der Tradition abspalten würde. Gerade heute wird in der Dogmatik die Tradition als Spur der Kontinuität wieder wertgeschätzt…

Wenn wir die Ordensgründer anschauen, Ignatius von Loyola war ein ganz anderer Typ als der heilige Benedikt und trotzdem stehen sie alle in Bezug zum Evangelium und alle in ihrer Geschichte ihrer Zeit mit ihren Antworten zutiefst verbunden im Evangelium.

Vielleicht eine der wichtigsten Fragen in diesem Gespräch: Wie geht glauben? Wie kann der heutige Mensch in den Glauben  hineinfinden und in ihm bleiben?

Vielleicht erst einmal von der negativen Seite her aufgerollt: Ich hab eine ganze Zeit lang jemanden zur Erwachsenentaufe geführt in Benediktbeuern. Aber diese Person hat woanders gelebt, kam immer mal wieder und hat dann gesagt: „Ok, jetzt brauch ich einen Taufpaten, eine Taufpatin“. Sie hat sich dann in einer Großstadt in Deutschland einer Gemeinde angeschlossen und hat gesagt, „ich brauch jemanden, der mir zeigt, wie man als erwachsener Christ lebt.“ – Und diese Person hat niemanden gefunden!

Das ist gewissermaßen die Anzeige, wo es bei uns fehlt! Das heißt, heute in den Glauben hineinfinden braucht Personen, die um ihre christliche Identität wissen, auch in ihrer Unterschiedenheit zur Welt. Es sind Menschen, die zu anderen sagen können: „Komm und sieh! Und geh mit mir mit: So leben wir Christen“. Da ist dann Lebensraum, da ist Erfahrbarkeit, da ist Lebendigkeit und all das, was es braucht.

„Wir sind Kinder dieser Zeit“

… Wir Christen und auch wir Ordensleute sind natürlich auch Kinder dieser säkularisierten Zeit und müssen das Christsein immer neu suchen – aber de facto ist es so etwas: „Komm und sieh, red mit uns und du entdeckst hoffentlich mitten unter uns den Herrn in seiner Gegenwart“.

Ich selber lebe jetzt als Bischof in einer kleinen Gemeinschaft. Um mich herum sind dankenswerter Weise Menschen, die sehr interessiert am geistlichen Leben sind. Und punktuell erfahren wir, wenn uns jemand besucht, dass die Leute dann sagen: „Jetzt hab ich wieder mehr entdeckt, wer Jesus ist!“ Natürlich ist bei uns nicht alles heil und nicht alles perfekt. Aber, wenn so etwas kommt, ist das einfach eine schöne Rückmeldung für das, wo wir im Kleinen um etwas ringen, suchen, miteinander als sehnsüchtige Menschen, die da auf dem Weg sind.

Was ich auch festgestellt hab: Es darf auch mal unkompliziert sein. Die Formen des Gebetes, des Glaubens, die müssen nicht immer nur starr und in „Hochform“ sein. Ein Beispiel: Wir haben Ende 2014 das so genannte „nightfever“ zum ersten Mal im Passauer Dom gehabt. Da ist das Allerheiligste ausgesetzt gewesen – Hochform des katholischen Frömmigkeitslebens – ja. Und gleichzeitig war da vieles anders.

Das Angebot an die jungen Leute: „Kommt mal rein, da könnt ihr eine Bibelstelle ziehen oder eine Kerze hinstellen, oder ihr könnt mit jemandem reden, da hinten singt einer mit euch oder wer will, kann beichten.“ Die Leute kommen zu Hunderten rein und gehen irgendwann wieder raus. Echt rührende Szenen, spielen sich da ab. Manche knien vorm Allerheiligsten, weinen, umarmen sich, Menschen sind bewegt, im Hintergrund leise Lobpreismusik – atmosphärisch alles ganz dicht. Das war die eine Erfahrung, und wir waren erstaunt, was da passiert ist. Es war ja das erste Mal bei uns.

Glauben – (wie) geht das? Beispiele

Die zweite Geschichte dazu im Kontrast: Es war am 1. Januar. Da geht immer die ewige Anbetung für das ganze Bistum im Dom los. Und ich bin dieser Feier als Liturge vorgestanden, es war auch gut. Aber viel, viel weniger bewegend, denn wir hatten ein ganz starres Schema, wie das da so ist: Also jetzt beten wir dieses Gebet, dann beten wir dieses Gebet. Und alle haben geschaut, was macht der Bischof, was kommt als nächstes und so fort, alle haben brav mitgemacht. Nicht schlecht, ich will das keinesfalls schlechtreden. Wir brauchen ritualisierte Formen, die geben Sicherheit.

Aber ich habe eben auch erlebt, dass man sich einfach völlig unkompliziert vor den Herrn begeben kann. Das muss nicht ohne Ehrfurcht sein, wenn man aus freiem Herzen beten kann, was einen berührt. Das waren – ehrlich gesagt – in meiner Ordensgemeinschaft auch die Zeiten, die mich geistlich auch genährt haben, vor allem mit den jungen Menschen. Dort hat einer einfach gesagt: “Heute leit´ ich das Gebet und er hat vier Lieder ausgesucht und wir haben dann gesungen, dann wieder geschwiegen und so weiter.

Völlig ohne Anstrengung, aber ein atmosphärischer Raum, wo geistliches Leben wachsen kann, sich entfalten kann. Das kommt daher, weil ich Jugendseelsorger war. Es gibt natürlich auch andere Formen, wo Menschen miteinander vor Gott da sind. Ich bin halt ein Sohn Don Boscos und viel mit jungen Leuten unterwegs gewesen.

Ein Blick auf die früheste Zeit der Kirche

Heißt es, dass man – vielleicht im Blick auf die früheste Zeit der Kirche – wieder so etwas in Gemeinden implementieren muss wie „Katechumenatsräume“, wo die Leute durch Christen in den Glauben hineinfinden können. Man ist heute irgendwie Christ, aber es gibt keine Strahlkraft mehr. Und wir werden nicht gefragt, warum wir Christen sind. Dieses Nichtgefragtwerden markiert für mich ein Defizit, einen Weg in die „Selbstvergleichgültigung“ des Christentums.

Ein Problem der Volkskirche ist, wir haben über Jahrzehnte Strukturen entwickelt, die irgendwie funktioniert haben. Auch, was das Inhaltliche des Themas Glaubensweitergabe betrifft – mehr oder weniger. Wir haben den Schulunterricht, wir haben die Kommunionkatechse, Firmkatechese, wir haben Wallfahrten, Maiandachten, der Pfarrer predigt Sonntag für Sonntag. Und man  hat gemeint, auf diese Weise lernen die Leute wie selbstverständlich, was man glaubt. Es war flächendeckend und es hat mehr oder weniger funktioniert, wenn auch auf oft einem bisschen oberflächlichen Niveau. Aber die Leute haben sich binden lassen, einbinden lassen.

Flächendeckende Wirklichkeit

Aber jetzt greift soziologisch der Säkularisierungsdruck und wir spüren, wir haben keine Antwort auf dieses gesellschaftliche Phänomen. Und im Grunde fällt das, um was es bei Katechumenatsräumen  gehen soll, bei uns aus – und das ist nun eine andere flächendeckende Wirklichkeit unserer Kirche! Also: Wo lernt ein junger Mensch oder ein kritischer Mensch oder ein gestandener Erwachsener, wenn er lernen will, wie Christsein geht? Da gibt es so viele Katholiken hier, aber wo kann ich intellektuell und spirituell lernen, was man in der Kirche glaubt, was die Kirche glaubt, wie man in ihr glaubt?

Also, was lerne ich heute in einer Gemeinde? Ich kann dort in ein bis drei Chören lernen, was man singt und wie man singt. Aber wenn man lernen will, was Christsein ist, was Glaube ist, schicken sie einen zum Pfarrer, und der muss es wissen, meint man. Unser Glaube, unsere Kirche hat Verantwortlichkeiten, Strukturen, Zuständigkeiten, auch Rituale – aber kaum mehr wirkliche Erfahrungs- und Begegnungsräume. Das ist der entscheidende Punkt. Und wir haben noch nicht wirklich die Antwort.

Glauben – (wie) geht das? Lernen von anderen

Ich meine, die neuen geistlichen Gemeinschaften kommen mit Lösungen, die auch da und dort offensichtlich tragen. Und da sind immer diese beiden Momente: intellektuelle Formation und geistliche Formation, die gehen irgendwie einher und formen die Gemeinschaft. Das hat was. Bei den geistlichen Gemeinschaften gibt es zwar auch spezifische Versuchungen, das muss auch nicht automatisch funktionieren. Aber man kann da was lernen. Jedenfalls: Wir brauchen solche Räume – und ohne die wird wahrscheinlich das Christentum irgendwann verschwinden hier bei uns.

In ihrem Bischofsbüro hängt Sieger Köders schönes Bild von Don Bosco. Ist das genuin Salesianische ein Weg für uns heute?

Das ist natürlich auch in unserer Ordensgemeinschaft immer eine Herausforderung gewesen. Don Bosco „faceva cosi“ haben unsere Brüder immer gesagt, – „so hat es Don Bosco gemacht – also machen wir es jetzt genauso!“ Das Ringen wiederholt sich auch hier: Was ist lebendige Tradition und was ist nur Hüten der Asche? Oder was heißt: mit Don Bosco leben für die heutige Zeit? Da ist wieder das Thema Geschichtlichkeit.

Das Gebetshaus in Augsburg

Zum Beispiel gibt es da ein Gebetshaus in Augsburg. Das ist eine spannende Erfahrung auf die Frage: Wo wächst eigentlich heute Kirche vor allem unter jungen Menschen? In Augsburg gibt es eine Einrichtung eines Laien, eines studierten Dogmatikers. Der hat mit ein paar Freunden eine Erfahrung gemacht, die sie sagen lassen: “Ich glaube, dass es wichtig ist für heute, dass es einen Ort gibt, wo Gott 24 Stunden rund um die Uhr angebetet wird.“ Ich bin mit meinen jungen Leuten dorthin gefahren und wir haben uns das angeschaut. Da haben wir den Leiter gefragt, „Warum denn das Ganze, ist doch alles ein bisschen spleenig.“ Dann hat er gesagt: „Weil Gott es wert ist“.

Ja sagte er, „wir haben so viele Orte in unserer Gesellschaft, die 24 Stunden am Tag geöffnet sind und irgendwelche Dienstleistungen bereithalten, Spielhallen, Bordelle, Krankenhäuser, die Polizei, die Tankstelle. Das ist uns alles richtig was wert, McDonalds nicht zu vergessen. Wenn das so ist, dann werden wir doch wohl auch einen Ort in unserem Bistum haben, wo Gott rund um die Uhr angebetet wird, um seiner selbst willen, weil er es wert ist, weil er es uns wert ist.“ Also – wir haben alle geschaut.

Wo Kirche wächst

Dort sind inzwischen mehr als über 20 Hauptamtliche, sog. Gebetshausmissionare. Das sind junge Menschen, die sagen: „Meine Berufung ist es, in diesen Dienst zu treten, jeden Tag vier oder fünf Stunden da in diesem Gebetsraum zu sein, Lobpreis zu halten. Wir leben von der Vorsehung und tun dies alles, weil es Gott wert ist.“ Und sie haben inzwischen eine sog. Jüngerschaftsschule, eine Lobpreisschule und machen einmal im Jahr eine Riesenkonferenz in Augsburg. Da kommen ein paar tausend Leute.

Da wächst Kirche. Warum? Meines Erachtens, weil Gott um seiner selbst willen erkannt, angebetet, gelobt und gepriesen wird. Und das geht immer noch einher mit sehr herausfordernder inhaltlicher Katechese. Ich finde das jedenfalls spannend. Womöglich hat das Ganze auch seine Kinderkrankheiten, aber da ist etwas da, wo Kirche heute wächst – gegen jeglichen Trend. Überall erleben wir Rückgang und da auf einmal fängt was an. Und meine Frage ist: Was können wir davon lernen?

Glaubenseinsichten

Ziemlich sicher liegt es daran, dass Glaube hier auch Erfahrung bei sich hat. Und zwar die Erfahrung des Evangeliums, die sich buchstäblich im Auf und Ab des Lebens bewährt. Das heißt aber noch einmal in Bezug auf die Vermittlungsgestalt des Glaubens, dass Glaube eben primär ein spirituelles Lebenswissen sein müsste und nicht eine Auflistung dogmatischer oder moraltheologischer Lehrsätze.

Ich möchte diese Dinge in ihrer Bedeutung für die christliche Lebensgestalt nicht kleinreden. Aber müssen die Inhalte von Dogmatik und Moral nicht ins Leben hinein rückübersetzt, ja irgendwie aufgetaut und verflüssigt werden, damit der Mensch sie überhaupt in einem lebensvollen Glauben bewohnen kann? Müssen wir also nicht den Schritt zurück in die Erfahrung als genuinen Ort der Glaubenseinsicht gehen?

Ja freilich, aber wie geht das? Das ist unsere Frage überhaupt. Wissen Sie, manchmal rede ich genau von dem, wovon Sie reden mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit Priestern oder engagierten Laien und ich spüre da manchmal: Die Leute sind irgendwie beeindruckt, fasziniert. Aber sie haben dann plötzlich das Gefühl: Aha, der Bischof will irgendwie, dass wir jetzt noch mehr machen, als wir eh schon tun…

Wird zu wenig getan?

Um das geht es genau nicht…

Um das geht es genau nicht! Es geht nicht darum, dass die Leute denken sollen, wir machen etwas zu wenig oder ganz verkehrt oder so. Dann sage ich immer, „nein, nicht einfach mehr machen. Mir es geht eher darum: ich will Sehnsucht wecken“! Und dann kommt ein Pfarrer und meint „Jetzt sagt der Bischof, ich soll zu all dem vielen, das ich tue, auch noch mehr beten!“ Dann sag ich, „nein, das soll nicht noch eine weitere Anstrengung sein!“

Schauen Sie auf die großen Gestalten unseres Glaubens: Theresa von Avila, Ignatius von Loyola, Don Bosco! Die haben alle sehr, sehr viel geleistet. Aber sie sind doch vor allem unsere geistlichen Leuchttürme. Woher kommt das? Sie haben offensichtlich Kontemplation und Aktion so ineinander geführt, dass sie gewissermaßen immerfort in der contemplatio waren, immerfort gelernt haben, in der Gegenwart Gottes zu leben und daraus ihre Aktivität zu entfalten. Das war nicht eine zusätzliche Anstrengung, sondern es war ihr Lebensvollzug: Beim Herrn sein und mit dem Herrn das Seine tun!

Papst Franziskus hat neulich, das fand ich wunderbar, zu den Priestern gesagt: „Die Schlüsselkompetenz des Priesters ist: Ausruhen können beim Herrn!“ Ja, aber bei uns ist es doch ganz oft – wenn man ehrlich ist – genau umgekehrt. Dann heißt es: „Jetzt muss ich auch noch das Brevier beten.“ Das darf natürlich auch immer wieder so sein, im Alltag. Aber wir müssen dennoch die Frage an uns heran lassen: „Haben wir gelernt, so vor dem Herrn zu sein und auszuruhen, dass wir mit den Psalmisten sagen können: Herr, vor deinem Angesicht ist Freude in Fülle, Wonne für alle Zeit?“

Menschen hineinhelfen

Und heißt es nicht auch noch einmal, lernen, das Leben aus der Perspektive Gottes anzuschauen und in dieser Perspektive zu leben und so dessen inne zu werden, was die Wahrheit Gottes und d.h. mein Heil ist?

Genau, das was Sie sagen. Nur eben meine Frage ist, wie helfe ich den Menschen in diesen Innenraum, von dem ich versucht habe zu sprechen, so dass das wirklich möglich ist? Jesus ist gekommen, um uns ins Reich Gottes zu führen – das ist gleichsam der innere Wohnraum im Herzen des Vaters. Dort darf ich zu Hause sein. Der ist mein Herr, meine Wahrheit, wie es bei Johannes heißt. Und aus dem heraus gehe ich in die Welt.

Und im Johannesevangelium spitzt sich dann der Konflikt zu. Und der Herr sagt: „Wenn ihr unter den Menschen lebt als die Jünger nach meinem Herzen, dann hassen sie euch, weil ihr nicht zu ihnen passt. Wenn ihr aber sagt, wir wollen alles genau so machen wie sie, wie die Welt – wir wollen uns gewissermaßen der Welt gleichmachen, ja dann lieben sie euch.“

Es braucht also authentische Lebemeister des Glaubens, Lehrer des christlichen Lebenswissens…

Na klar, heilige Männer und Frauen. Wir haben nichts nötiger als heilige Männer und Frauen, Menschen, die gelernt und eingeübt haben, ganz aus Gott zu leben, und die dann auch noch anderen helfen können, in das Geheimnis des Christseins hineinzuführen; Lebemeister – also: „Kommt und seht!“

„Wir brauchen heilige Männer und Frauen“

Führt das unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zwangsläufig zum Modell der „kleinen Herde“? Und ist dies möglicherweise von Anfang an die realistische Gestalt von Kirche?

Mag sein. Aber das kann ich nicht, will ich auch nicht eindeutig definieren. Zunächst gilt: Natürlich ist Jesus für alle gestorben und die Kirche ist das Instrument der Versöhnung Gottes mit der ganzen Menschheit: Für alle! Und man darf wohl schon von der „anima naturaliter christiana“ im Menschen reden. Ich glaube, wenn der Mensch wirklich im Herzen erkennen würde, wer der Herr ist, dann würde er sagen, jetzt endlich weiß ich, wo meine ganze Sehnsucht immer schon hinzieht.

Andererseits: Wir vergessen tatsächlich, dass im Evangelium ein Moment der wirklichen Entschiedenheit für Christus gefragt ist. Auch der Umkehr, der Buße, des Kreuztragens. Christus will uns alle erlösen, ja unbedingt. Aber eben nicht ohne uns, nicht automatisch, nicht ohne unser entschiedenes Ja zu ihm. Und wie viele das am Ende dann sein werden in einer veränderten Gestalt von Kirche, vermag ich nicht zu sagen. Ich hoffe, alle!

Bei Christus ankommen

Wenn der Mensch seine Sehnsucht zu Ende denkt, kommt er bei Christus an…

Genau. Aber die Welt ist in der Verfassung, in der sie heute eben ist. Und da  geht vieles verloren, vieles bricht ab. Ich glaube nicht, dass wir den Weg der Nivellierung gehen dürfen, wie es mancherorts in der Kirche passiert. Es wird nichts ändern, wenn wir sagen, „passen wir uns halt immer mehr ein bisschen dem an, was die Welt so ersehnt.“ Eigentlich geht es um die größere Entschiedenheit.

Nicht, dass wir jemanden ausschließen wollen, das überhaupt nicht! Sondern es muss und wird immer auch einige geben, die exemplarisch zeigen, was gelebtes Christentum heißt. Ich find es beispielsweise eine Tragödie, dass in unserer Kirche das Ordensleben praktisch am Verschwinden ist. Ordensleben, das ist der radikale Versuch eines Lebens aus – oder vielmehr – in der eucharistischen Gestalt, aus der bräutlichen Gestalt, aus der Unmittelbarkeit zum Herrn. Mit einem solchen Leben favorisiere ich gerade nicht eine Art von spiritueller Autoerotik, nach dem Motto: Ich und mein lieber Gott und sonst nichts.

„Gott alleine genügt“

Sondern eher so: Gott alleine genügt – aber in einer Weise, dass ich befreit von mir selbst auf die Menschen zugehen kann. Das geht, wenn ich ganz in ihm lebe. Und das ist eigentlich Ordensleben als exemplarisches Leben, das den anderen Menschen zeigt, was es bedeutet, wenn man mit Gott lebt. Und ich find es wirklich tragisch, dass da so viel verschwindet. Das bedeutet nämlich zugleich auch, dass der geistliche Grundwasserspiegel bei uns sinkt.

Kürzlich war zu lesen, dass in Frankreich an diesem Osterfest 4000 Menschen getauft wurden, davon die Hälfte unter 20 Jahren. Und in Berlin spricht man in diesen Tagen geradezu von einem Taufrausch, der am Osterfest stattgefunden hat. Vielleicht ein neuer Akzent des Christlichen gerade in den säkularisierten Metropolen…

Wenn es so wäre – wunderbar! Außerkatholisch sprechen wir manchmal von Erweckungsbewegungen. Innerkatholisch ist es meistens verbunden mit heiligen Männern und Frauen, die irgendwo etwas ausgelöst haben, Franziskus oder Ignatius oder ähnliche Gestalten. Ich sehne mich danach, dass es in unserem Bistum oder in der deutschen Kirche einen Aufbruch gibt, wenn die Leute wirklich wieder tiefer den Herrn selbst entdecken – durch alle Verstellungen und Entstellungen hindurch.

Aber die Frage dabei ist ja, glauben wir das überhaupt noch, dass es möglich ist, dass wir das Evangelium so verkünden, dass jemand auf die Idee kommt: „Der, der da so redet, der kennt ihn persönlich?“ Ich sage Ihnen: Alle die, die mich ins Herz getroffen haben, waren Menschen, wo ich den Eindruck gehabt hab, der lebt wirklich in Jesus – und Jesus ist für den nicht einfach nur ein theologischer Gedanke oder eine dogmatische Formulierung, sondern, der kennt den Herrn wirklich, ganz persönlich?

Glauben – (wie) geht das? Mehr als nur Worte

Die Verkündigung der ersten Apostel ist immer verbunden mit Geist und mit Kraft. Sie ist nie nur einfach Wort. Wo sind unsere Verkündiger, die mit Geist und mit Kraft verkünden, aus der persönlichen Begegnung mit Jesus Christus? Solche Leute suche ich – und sehne mich selbst danach, so von ihm zu sprechen.

Vielleicht steht sich die bundesdeutsche Kirche dabei mit ihren ausdifferenzierten Strukturen im Weg, wenn es doch vor allem der geistbegabte Einzelne ist, der den Glauben voranbringt, ihn zeugt…

Ja, das ist die Ambivalenz unserer Großkirche, die natürlich dazu neigt, sich in Strukturen zu ergehen, die das Persönliche ausbremsen. Ich frag mich, wie wird ein Mensch wirklich ein Evangelisierer? Was muss der für einen Weg hinter sich haben, was für eine Geschichte mit dem Herrn persönlich? Und da hilft kein Geld, da hilft keine Struktur, da hilft das lebendige Zeugnis von anderen, die das Evangelium glaubwürdig machen, damit spürbar wird: „Jesus ist da. Er lebt in deinem Leben und er will es verändern und verwandeln.“

Von Gott persönlich berührt werden

Noch ein wenig tiefer: Es geht nicht um das Zeugnis des Zeugen, sondern um das persönliche Berührtwerden von Gott, das Erfahren des Berührtseins, das zuletzt die unabdingbare Initialzündung des Glaubens sein muss…

Das setz ich voraus, ja. Also – wenn ich von Christus spreche, dann muss irgendwie die Erfahrung vorausgegangen sein: Ich bin ihm begegnet und ich lerne jetzt zu deuten, zu sprechen, wie er ist und wer das ist und was er mit meinem Leben macht.

In unserer Gesprächskultur kann man längst über alles reden, nur Glaubenserfahrungen stecken tief in der Schamzone. Müssen wir im Grunde so etwas implementieren wie ein neues Sprechen über meinen persönlichen Glauben?

Ja, unbedingt. Ich hab seit meiner Priesterweihe immer wieder Gruppen gebildet. Da waren einmal ein paar Frauen, die im Grunde ein wenig frustrierte Firmhelferinnen waren. Frauen, die darunter gelitten haben, dass die Kinder irgendwie nichts mehr glauben oder nichts mehr annehmen. Dann hab ich gesagt: „Es geht nicht darum, dass ich euch noch die 110. Methode beibringe, wie man jetzt irgendwas spielt oder noch besser macht. Es geht ziemlich sicher darum, dass ihr selber in die eigene Tiefe kommen könnt.“

Glauben – (wie) geht das? In die Tiefe finden

Wir haben uns dann regelmäßig getroffen, den Katechismus gelesen, miteinander gebetet, über dies und jenes gesprochen. Und dann haben wir uns nach zwei Jahren getroffen und eine Art Feedbackrunde gemacht. Geschaut, was es mit uns gemacht hat. Und eine ganz nüchterne Mathematiklehrerin sagte dann: „Ich habe jetzt erst begriffen, dass es in unserem Glauben wirklich um Jesus geht.“ Ich hätte heulen können, weil man gespürt hat – die Frau hat eine Erfahrung gemacht. Und alle anderen haben gesagt: „Ja wir können jetzt endlich sagen, was wir glauben, wem wir glauben, warum wir glauben und warum wir Christen sind.“

Ein sich selbst verständlicher und auskunftsfähiger – auch selbstbewusster Glaube…

Genau, nicht verlegen eben. Und das war auch wieder so eine Initialentzündung für mich, dass ich sage, so das sind Möglichkeiten, wie wir Menschen helfen können, da hineinzufinden.

Zuletzt: Das Motto auf der Homepage der Diözese Passau lautet: „Wer glaubt, ist nicht allein“. Könnten Sie diesen schönen Satz als Bischof dieser Diözese am Schluss ein wenig durchbuchstabieren?

„Ich bin bei euch alle Tage“

Das bezieht sich natürlich zuerst auf die Erfahrung der Zusage Jesu: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ Aus diesem Bewusstsein leben zu dürfen, auch in den schwierigsten Lebenssituationen, so verstehe ich dieses Motto zuerst. Ich hab neulich in einer Predigt gesagt, warum waren in der Hölle der Konzentrationslager oder der Nazigefängnisse Menschen wie Edith Stein, Pater Kolbe, Dietrich Bonhoeffer Menschen, wo die anderen gespürt haben: In denen lebt Gott! Die haben in aller Not einen Frieden, der nicht nur von dieser Welt ist. Und das spürt man  denen an. Mitten in diesem Grauen wird die Zusage bestätigt: „Ich bin bei euch alle Tage!“ Da wächst eine große innere Freiheit, die den Menschen mutig und tapfer macht.

Und dann ein Zweites: Die Entdeckung einer inneren Verwandtschaft in Christus. Als Prediger spreche ich die Leute mit „Brüder und Schwestern“ an. Für viele ist das einfach eine fromme Floskel. Aber de facto ist es unsere Verbundenheit in einer Wirklichkeit mit dem Herrn. Und die, die ihn kennen, die kennen auch sich gegenseitig. Die, die Jesus kennen, das spürt man denen an. Es gibt so was wie einen christlichen Stallgeruch, den nimmt man an, wenn man mit Jesus lebt.

Deswegen hatten die Apostel immer irgendwie ein Gespür davon, ob einer den Geist schon hat, ob er schon ganz dazu gehört oder nicht. „Hatte der den Stallgeruch schon, kennt der Jesus schon, ist es schon mein Bruder?“ Wir nivellieren das sehr schnell zu: „Alle Menschen sind Brüder und Schwestern.“ Ja, das stimmt schon, wir gehören alle zur einen Menschheitsfamilie.

Wer glaubt, ist nie allein

Aber in der Christusfamilie sind wir noch einmal auf eine ganz besondere Weise Brüder und Schwestern, Verwandte. Und wenn wir den Glauben ernst nehmen, dann ist es eine Verwandtschaft, die tiefer reicht als die biologische Verwandtschaft, mit meiner Mutter, meinem Vater und mit meinem Bruder, mit meiner Schwester. So – und das eben heißt auch  „Wer glaubt ist nie allein“.

Und wenn man dieses Motto noch weiter öffnen könnte? Dahingehend, dass wir als Christen auch noch einmal für unsere ungläubigen Mitmenschen den Himmel offenhalten. Dass wir nie für uns alleine glauben? 

Ja, wunderbar! Das ist das Thema der Stellvertretung, dass wir in irgendeiner Weise für- und voneinander leben. Jesus ist für alle gestorben. Er ermöglicht auf geheimnisvolle Weise allen einen Zugang zu Gott. Ich denke mir immer, wenn wir einmal im Himmel sein werden und uns begegnen, dann dürfen wir wirklich das ganze Spektrum verstehen. Dann werden wir staunen, uns werden die Augen übergehen, wenn wir erkennen, wer da alles für uns gelebt, geliebt, gelitten, gebetet, gekämpft hat – und für wen wir, obwohl wir es nicht wussten.

Es ist möglich, dass wir den anderen mitnehmen, und vielleicht weiß der gar nichts davon und ich weiß auch nichts davon. Aber Gott weiß es. Ich glaube, durch die bedingungslose Liebe einem anderen gegenüber berühren wir irgendwie ihn – Gott allein wird wohl wissen wie – mit der Liebe Jesu, die er dann im Herzen hat. Und die holt ihn dann vielleicht nach Hause – hoffentlich nach Hause, genau!

Das ist ein schöner Schluss. Vielen Dank, Bischof Stefan, und alles Gute!


Das Gespräch „Glauben – (wie) geht das?“ zwischen Bischof Stefan Oster und Prof. Dr. Stinglhammer ist erschienen in dem Buch: Glauben – (wie) geht das? Hg. von Prof. Dr. Werner Stinglhammer. Pustet Verlag, Regensburg 2016.