Die erfüllte Zeit – auch für mich! Hirtenbrief 2024

Die erfüllte Zeit – auch für mich! Der Hirtenbrief von Bischof Stefan Oster zur Fastenzeit 2024

Im Hirtenbrief in der Fastenzeit 2024 spricht Bischof Stefan Oster über die erfüllte Zeit – auf für mich! Der Hirtenbrief kann hier als Video angeschaut, nachgelesen oder -gehört (siehe unten) werden.

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Liebe Geschwister im Glauben,

die letzten Worte des heutigen Evangeliums sind die allerersten, die wir aus dem Mund Jesu kennen. Sie stehen ziemlich am Anfang des Markus-Evangeliums, dem ältesten Evangeliumstext, den wir haben. Und diese Worte sind sehr programmatisch.

Erfüllte Zeit

Jesus sagt hier: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ Ich möchte Sie einladen, mit mir darüber nachzudenken, was hier „erfüllte Zeit“ bedeutet und was das mit der Nähe des Reiches Gottes zu tun hat. Zunächst bedeutet es wohl einfach, dass sich mit dem Kommen Jesu sehr viele Verheißungen über den Messias aus dem Alten Testament erfüllt haben. Jetzt ist derjenige in Person da, auf den das Volk Israel über Jahrhunderte und Jahrtausende gewartet hat. Ein Mensch seiner Zeit, der zugleich mehr als jeder andere vor ihm erfüllt war von der Gegenwart Gottes. Jesus hat mit einer solch tiefen und authentischen Autorität gesprochen und gehandelt, dass in vielen anderen Menschen sehr bald die gläubige Überzeugung gewachsen ist: Er ist Gottes Sohn. Mehr noch: Er ist wahrer Mensch und zugleich wahrer Gott. In ihm, in dieser Person Jesus, ist die endgültige Versöhnung zwischen Mensch und Gott da, zwischen Gott und seinem Volk, zwischen Gott und seiner ganzen Schöpfung.

Vertrauen in den Vater

Dazu kommt: Diejenigen, die seine Einladung zur Nachfolge angenommen haben, die haben immer mehr verstanden, dass sie lernen mussten, ihm zu vertrauen. Und dass mit dem Vertrauen mehr Verstehen kommt, wie Gott in der Welt da ist. Und wie Gott in ihrem eigenen Leben da ist. Das Vertrauen und die Liebe zu Jesus helfen zum Beispiel, im eigenen Herzen zu erkennen, dass Gott wirklich ein Vater ist. Und dass dieser Gott mich sieht und mich an sich ziehen will. Und zwar obwohl ich oft so gelebt habe, als gäbe es ihn gar nicht. Und obwohl es in den Menschenherzen vieles gibt, was so anders ist als das Herz Jesu. Da gibt es falschen Stolz und Bitterkeit, da gibt es Egozentrik und Verachtung anderer, da gibt es Selbsthass und Suchtverhalten, da gibt es Abhängigkeit und Lüge, da gibt es Verrat, Ängste und Komplexe und noch viel mehr. All das ist im Menschenherzen und trotzdem liebt es der Vater, weil er es ja zunächst gut und liebenswert geschaffen hat. Er hat in uns die Fähigkeit zur Liebe, zur Gemeinschaft, zum Vertrauen und zum Glauben hineingelegt. Und wir spüren, dass das alles noch da ist – aber eben auch das andere. Und auch das ist die christliche Erfahrung: Das Gehen mit Jesus im Vertrauen zu Ihm, macht das Menschenherz heiler. Es wächst die Erfahrung von Vergebung, von Erneuerung und von der Fähigkeit, zu Gott wirklich Vater sagen zu können. In der vertrauensvollen Nähe zu Jesus, ist es möglich, sich in seine Ausstrahlung und in seinen Geist hineinziehen zu lassen – und wir lernen dann wirklich dieses Wort Jesu selber mit dem Herzen sprechen: mein Vater, Vater Unser.

Er ist nahe!

Diese Nähe, liebe Schwestern und Brüder, die Jesus ermöglicht hat, war nicht nur etwas für die Menschen, die damals gelebt haben. Nicht nur für die Jünger und Jüngerinnen Jesu. Sie ist auch für uns möglich. Wir kennen Jesu Wort aus der Bibel und wir haben besonders in den Sakramenten seine Nähe, seine Gegenwart. Wir feiern hier und heute, dass wir Kinder Gottes geworden sind, Familienmitglieder des Vaters und Geschwister unseres Bruders Jesus. Damit stehen wir in der Mitte des Evangeliums von heute: Die Zeit ist auch für uns erfüllt. Das Reich Gottes ist auch für uns nahe. ER ist nahe – und der Vater ist da, er ist mit uns und er schaut uns an mit einem liebenden Blick. Wenn wir das glauben und annehmen können, mit unserer ganzen Innerlichkeit, dann können wir auch mit einem anderen Blick und einem anderen Herzen in die Welt hinausgehen. Dann sehen wir überall in der Welt Spuren seiner Anwesenheit und dann ahnen wir im Glauben, dass im Grunde immer erfüllte Zeit ist und wir immer eintreten können in seine Nähe. Er bleibt uns ja nahe – es sind eher wir, die nicht da sind bei Ihm und in Ihm. Eintreten in seine Nähe bedeutet also auch: den eigenen inneren Blick reinigen lassen, und mit Ihm sehen lernen, dass er auch in den anderen Menschen ankommen will – und dass er sich sorgt um die Menschen in Not, um die Armen, die Einsamen. Um Kranke und Alte und um Menschen auf der Flucht. Und mit ihm sehen lernen, bedeutet auch: die Spuren seiner Anwesenheit in der Schöpfung erkennen – und sich mit zu sorgen um diese Schöpfung, weil er sie liebt. In dieser Nähe leben bedeutet nach Paulus und nach Papst Franziskus zugleich: In eine Freude des Herzens finden, die es nirgendwo anders gibt. Mit der Begegnung mit Jesus, sagt der Papst, kommt immer und immer wieder die Freude.

Der Kern des Evangeliums

Liebe Schwestern und Brüder, all dieses eben Gesagte würde ich als Kern des Evangeliums beschreiben. Aber berührt uns das wirklich? Oder ist es doch nur schöne Theorie – auch angesichts der aktuellen Situation der Kirche? Vor bald zehn Jahren hat mich Papst Franziskus in unserem schönen Bistum zum Bischof bestellt. Und wir spüren alle, wie sich in dieser Zeit die Gesamtsituation um die Kirche in unserem Bistum, in unserem Land, aber auch in den westlichen Ländern verändert hat. Ich würde sogar sagen, dramatisch verändert hat. Es ist eine Zeit des Umbruchs, der sich, nach meiner Einschätzung, weiter beschleunigen wird. Wir erleben Krisenszenarien der Institution Kirche aus vielerlei Gründen. Wir erleben auch inhaltlich die Krisen des Glaubens bei den Menschen. Wir erleben, dass es uns kaum gelingt, Menschen neu mit dem Evangelium bekannt zu machen. Viele, viele gehen weg. Und junge Menschen finden meist keinen Zugang mehr. Weil der Glaube also nicht mehr selbstverständlich ist, möchte ich uns für diese Fastenzeit einladen, uns selbst zu fragen: Wo haben wir dieses Geheimnis der Nähe zu Jesus in unserem eigenen Leben schon spüren dürfen? Kennen wir das Vertrauen auf Ihn und die tiefe, stille Freude, mit Ihm zum Vater gehören zu dürfen. Und mit Ihm mitwirken zu dürfen an der Einladung an alle, in Sein Reich zu finden? Sehnen wir uns danach? Sind wir schon einmal berührt worden an diesem inneren Ort in uns, von Ihm, von dem aller Sinn des Lebens kommt, alle Schönheit und Güte? Sind wir schon etwas vertraut mit diesem inneren Ort, der die Quelle einer Liebe ist, die überströmt?

Kirche als Ort der Nähe Jesu

Liebe Geschwister im Glauben, ich glaube fest – und erlebe es tagtäglich in unserem Bistum: In aller Krise der Kirche – sie bleibt doch der Ort, an dem Christus zu finden ist. In der Gemeinschaft der Glaubenden, im Wort, in den Sakramenten, in uns selbst. Und die Kirche bleibt es, bis er wiederkommt. Die äußere Gestalt der Kirche wird sich weiter verändern; aber im Inneren bleibt sie der Ort der Nähe Jesu. Ich will uns daher in dieser österlichen Bußzeit einladen: Gehen wir jeden Tag bewusst in die Stille – vor ein Kreuz, vor eine Ikone, vor eine Kerze. Bitten wir Jesus aufrichtig, mit uns zu sein – und dass wir immer mehr von Seiner stillen, unaufdringlichen Gegenwart spüren dürfen. Bitten wir Ihn, in die Freude zu finden, die nur von Ihm kommt. Und üben wir dann bei unseren Mitmenschen sehr bewusst einen Blick, der versucht, das Gute im anderen zu sehen und zu sagen. Und verbinden wir es mit dem Vorsatz, kein lästerndes Wort über den anderen zu sagen. Ich hoffe, dass wir dann an Ostern ein äußeres und inneres Fest feiern dürfen, dass uns so nahe geht, dass wir voller Glauben sagen dürfen: Jesus hat den Tod besiegt. Er lebt und ich mit Ihm. Und ich bin wirklich ein geliebtes Kind des Vaters!

Eine gesegnete Fastenzeit wünscht Ihnen

Dr. Stefan Oster SDB

Bischof von Passau

 

 


Der Hirtenbrief aus dem Jahr 2023 kann hier nachgelesen werden.