Zum gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über die Möglichkeit der geschäftsmäßigen Förderung von Selbsttötung sind bereits wichtige Argumente genannt worden, besonders vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zusammen mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland.[1]
Unantastbare Würde und Heiligkeit des Lebens
Ich möchte diese und andere Äußerungen um einige Gedanken ergänzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt unser Grundgesetz in seinem ersten Artikel und es entfaltet aus diesem Satz alles Kommende: Der Staat hat die Aufgabe, die Würde des Menschen zu schützen – und Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Menschen würdevoll miteinander leben können. Immer schon ist es eine intensiv diskutierte Frage, was denn genau diese Würde sei und was sie ausmache. Für gläubige Christen hat die Menschenwürde ihre tiefste Wurzel in der Ebenbildlichkeit Gottes. Gott hat in seiner absoluten Freiheit Wesen geschaffen, denen er endliche Freiheit und Selbstbestimmung schenkt, zutraut und zumutet. Und er schenkt ihm darin und damit die Möglichkeit, im Zusammenleben mit anderen Personen den Sinn für sein eigenes Leben zu entdecken und das Wahre und Gute zu erkennen und zu tun. Das sind zentrale Momente von Würde, aber im Blick auf Gott sind diese von Gott her empfangen und von ihm abgeleitet – sie bleiben damit auch auf ihn bezogen. Und die Grundlage von allem, von aller Möglichkeit zur Entfaltung ist Leben, ist geschenktes Leben. Ausnahmslos jeder Mensch hat Leben immer nur empfangen, nie sich selbst gegeben. Die Möglichkeit, sich selbst als lebendiger Mensch in Freiheit zu entfalten, setzt geschenktes Leben voraus. Menschenwürde ist also empfangene, geschenkte Würde. Deshalb auch ist die Gabe des Lebens heilig, sie kommt vom dem Heiligen schlechthin. Daher muss konsequent gelten: Nicht nur die Würde des Menschen ist unantastbar, sondern tiefer noch: das Leben des Menschen ist unantastbar und unverfügbar, weil Gott der alleinige Herr über Leben und Tod ist. Dem ersten Artikel unseres Grundgesetzes geht eine Präambel voraus, in der es heißt, das deutsche Volk habe sich dieses Grundgesetz „in der Verantwortung vor Gott und den Menschen gegeben“. Ich bin der Überzeugung, dass sich die Verfassungsrichter mit ihrem Urteil zur Ermöglichung der geschäftsmäßigen Förderung von Selbsttötung am 26. Februar dieser Verantwortung vor Gott entledigt haben.
Versöhnung mit Gott
Dazu kommt ein weiterer Aspekt, den ich schon in der Debatte 2015 um diese Thematik formuliert habe, und der auch wieder ausdrücklich aus einer gläubigen Sicht kommt und daher in der gesellschaftlichen Debatte kaum je Berücksichtigung findet: Jeder Mensch hat in seinem Leben die Aufgabe, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Aus biblischer Sicht ist diese Versöhnung sogar die alles entscheidende Lebensaufgabe (2 Kor 5,20). Gelingendes Leben ist aus dieser Perspektive deshalb: Mit Gott versöhntes Leben – und zwar letztlich unabhängig davon, ob die äußeren Lebensumstände gerade leicht oder schwer sind. Das Leben selbst schenkt dem Menschen dazu immer neu Gelegenheiten, nicht selten auch gerade durch Phasen des Ringens und Leidens hindurch. Der christliche Glaube lässt sich deshalb u.a. auch als „Kunst des Sterbens ins Leben hinein“ deuten (vgl. Röm 6,8: „Wir sind (!) mit Christus gestorben, daher glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden.“)
Die Möglichkeit zur Versöhnung mit Gott nehmen?
Das heißt aber für unsere Problematik der Selbsttötung: Die Verneinung des eigenen Lebens durch Suizid ist damit im Grunde keine mögliche Antwort auf das lebenslang bestehende Angebot der Versöhnung mit Gott, der eben dieses Leben samt seiner ebenfalls von ihm bestimmten Lebenszeit schenkt. Die aktive Verkürzung dieser Lebenszeit ist gerade Verneinung dieses Angebots. Und ein Mensch, der einem anderen aktiv dazu hilft, sein Leben zu beenden, trägt das Seine dazu bei, dass dem Sterbenden damit auch diese Möglichkeit der Versöhnung genommen wird, die ihm andernfalls buchstäblich bis zum letzten Atemzug geschenkt wäre: Der Schächer am Kreuz hat sich ebendort noch im Angesicht des sterbenden Jesus von ihm versöhnen lassen, ehe beide ihr Leben aushauchten! (Lk 23,43).
Sinnerfahrung im Leid?
Zudem: Tatsächlich erfahren nicht wenige Menschen Situationen von unfassbarem und unerträglichem Leid. Die Welt selbst ist eine leidende, verwundete Welt. Christen glauben, dass dieses Leid weder abstrahiert, noch schön geredet werden kann und soll. Aber sie glauben an einen Gott, der in Jesus Christus am Kreuz mit allen Leidenden dieser Welt solidarisch geworden ist. Deshalb können Gläubige auch noch in den scheinbar sinnlosesten Erfahrungen von Leid immer noch Sinngebung finden. Christus hat sein Leiden nicht auf sich genommen, um uns alles Leid zu nehmen, sondern um uns zu helfen, es auszuhalten und auch noch in der tiefsten Dunkelheit die Anwesenheit des Lichtes finden zu können. In einer gebrochenen Welt kann auch und manchmal gerade das Leid ein Weg zur Entdeckung Gottes im Gekreuzigten und zur Versöhnung mit ihm sein.
Gott in der Verfassung?
Wenn die Väter und Mütter des Grundgesetzes diese Verfassung also auch „in der Verantwortung vor Gott“ formuliert haben, dann ist aus meiner Sicht die Ermöglichung aktiver Mitwirkung an der Selbsttötung eines Menschen ein dramatischer Verstoß gegen die Überzeugung, dass Gott der Herr über Leben und Tod, mithin über Anfang und Ende des Lebens ist. Wenn aber Gott nicht deshalb Eingang in die Präambel der Verfassung gefunden hat, weil er der Herr über Leben und Tod wäre, wüsste ich nicht, warum sonst? Und wüsste auch nicht, welchen Sinn die Formulierung „in der Verantwortung vor Gott“ sonst hätte.
Kultur des Todes
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist in unserer Gesellschaft daher aus meiner Sicht ein weiterer Schritt hinein in ein Verständnis von menschlicher Autonomie und Selbstbestimmung, das sich letztlich die eigenen Wurzeln abschneidet; ein weiterer Schritt zur Entfaltung einer „Kultur des Todes“ unter dem Schein einer „Kultur der Freiheit und Selbstbestimmung“.
Bild: A. Hofmeister
[1]https://dbk.de/nc/presse/aktuelles/meldung/gemeinsame-erklaerung-der-vorsitzenden-der-deutschen-bischofskonferenz-und-der-evangelischen-kirche-i/detail/