Unter dem Titel „Liberalisierung ist nicht die Lösung für die Kirche“ veröffentlichte die PNP am 18. Mai 2024 ein Interview mit Bischof Stefan Oster. Anlässlich seines zehnten Weihetages als Bischof von Passau zieht der Bischof Bilanz und spricht mit Chefredakteur Martin Wanninger und Dr. Stefan Rammer über seine Reformvorstellungen und der Wichtigkeit der persönlichen Beziehung zum Herrn.
Wenn Sie selbst Ihrer ersten Dekade als Passauer Bischof eine Überschrift geben müssten, wie würde das lauten?
Bischof Stefan Oster: Der Beginn einer großen Transformation.
Transformation wohin?
Oster: Ich glaube, dass die Kirche in Deutschland sich in den größten Umbruchszeiten seit der Reformation befindet. Die Kirche der Zukunft wird vermutlich weniger flächenpräsent sein, sondern eher in so etwas, was schon Bischof Hemmerle schon vor 50 Jahren gesagt hat: eine Gemeinschaft von Gemeinschaften. Das heißt, Menschen, die im gegenwärtigen Säkularisierungsdruck ihren Glauben leben und auch bezeugen wollen, oder vielleicht sogar im Glauben überleben wollen, tun sich zusammen, lernen miteinander, erzählen sich gegenseitig von ihrem gläubigen Leben oder persönlichen Erfahrungen, und beten auch miteinander. Es wird eine Konsolidierung von jenen sein, die den Glauben in einer gewissen Entschiedenheit leben.
Was heißt das für die Sichtbarkeit der Kirche in der Gesellschaft als Institution? Eine Art Gesundschrumpfen?
Oster: Eine spannende Frage. Wir haben zurzeit ungefähr eine Million Menschen, die in kirchlichen Einrichtungen ihr Geld von der Kirche bekommen. Wenn Sie fragen, wie viele Leute heute in Deutschland sonntags in die Messe gehen, dann sind wir auch bei einer Million. Wenn Sie fragen, wie groß die Schnittmenge ist und den Altersdurchschnitt derer anschauen, die sonntags, oder sagen wir mal, die nicht einfach in die Messe gehen, sondern aus den Sakramenten leben wollen, dann ist die wohl ziemlich gering. Das heißt, wir haben einen riesigen Apparat, der das gesellschaftliche Gewicht erzeugt, das auch wichtig ist, aber wir erleben, dass gewissermaßen ganz viel Einrichtungen, wo Kirche drauf steht, nur noch mehr oder weniger mit dem gefüllt sind, was wir Leben aus den Sakramenten oder überlieferte Glaubensgestalt nennen. Wie diese Spannung auf Dauer aufrechtzuerhalten ist oder wie das gehen kann in Zukunft, dafür fehlt mir jetzt noch die Fantasie.
Im Jahr Ihrer Berufung als Bischof sind 2047 Menschen ausgetreten. 2022 waren es fast 10 000. Wieviel Volkskirche gibt es in zehn Jahren noch? Werden z.B. Kirchen profanisiert?
Oster: Ich hoffe nicht, dass sich der Trend der Austritte beschleunigt, aber ich kann das auch nicht verneinen. Es werden sicher bestimmte Dinge wegfallen. Kann man das konkretisieren, greifbar machen? Da tue ich mich schwer. Wir haben beschlossen, dass wir mit dem Geld, das ja weniger wird durch die Austritte, zum Beispiel bei den Bauvorhaben Prioritäten schaffen. Es gibt Kleinodien, die bei uns in der Landschaft stehen, tolle Barockkirchen, die baufällig werden. Da können wir nur mehr Bestandserhalt leisten. Priorisieren werden wir Pfarrkirchen. Ob wir Kirchen schließen kann ich jetzt nicht prognostizieren.
Sie haben bislang 16 Priester geweiht. Wenig, aber dann wohl ausreichend für eine geschrumpfte Herde?
Oster: Grundsätzlich glaube ich: Aus einem gläubigen Volk erwächst die Zahl der Priester, die es braucht. Wenn wir unsere bisherigen Strukturen anschauen, haben wir aber natürlich viel zu wenig. Wir haben diese auslaufende Volkskirche, die immer noch davon ausgeht, dass jeder Getaufte kirchlich beerdigt wird, jedes katholische Kind in der dritten Klasse Kommunion empfängt. Das heißt, es ist noch irgendwie das Flächendeckende, das wir bedienen wollen und müssen und dafür auch das Personal brauchen. Wenn wir fragen, wer kommt heute nach, wer entscheidet sich heute bewusst für Kirche, dann ist das im Grunde das andere Modell. Dann wird es um das Hineinführen in eine tiefere persönliche und gemeinschaftliche Christusbeziehung gehen. In der Praxis bedeutet das eine Unterscheidung: Wo und wie können wir Seelsorge im herkömmlichen Sinn weiter bedienen oder wo lassen wir manches, weil wir merken, das ist vielleicht sogar ein totes Pferd? Und wo können wir neue Wege gehen?
Aber es gibt Bischofskollegen von ihnen, die Volkskirche nicht abschreiben, sondern sie lieber reformieren wollen, um sie wieder attraktiver zu machen…
Oster: Ich schreibe Volkskirche nicht ab. Ich bin selbst ein Kind der Volkskirche und will auch das, was gut ist, pflegen und bewahren. Aber ich glaube nicht, dass wir dem Megatrend der Säkularisierung in der Gesellschaft am besten begegnen, wenn wir einfach das Stichwort Liberalisierung oben drüber schreiben. Das ist nicht die Lösung. Im Gegenteil, ich glaube eher, das würde unsere Auflösungserscheinungen beschleunigen.
Ist es aber nicht ein Widerspruch, dass sie einerseits engagierte Christen als Zukunft der Kirche sehen – aber viele der jungen Menschen, die sich heute noch aktiv in die Kirche einbringen wollen, am dringendsten eine liberalere Haltung bei der Sexualmoral oder bei Themen wie dem Frauenpriestertum wünschen. Sind die alle fehl am Platz…?
Oster: Fragen wie die Rolle der Frau im Weiheamt klären sich nicht im Bistum Passau. Sie klären sich in Rom. Es gibt aber tatsächlich innerhalb des Katholizismus eine massive Bruchlinie, die der Papst versucht zusammenzuhalten, auch weltkirchlich. Insbesondere über die anthropologischen Fragen zerreißt es Kirchen – die Anglikaner, die Evangelikalen, die Methodisten. Und das hat auch uns erreicht.
Sie sagen stets, sie sehen ebenfalls Reformbedarf in der Kirche. Was muss ihrer Meinung nach reformiert werden? Bei welchen Punkten würden Sie im laufenden synodalen Prozess mitgehen, bei dem Rom ja bremst.
Oster: Ich kann den Papst verstehen, was er mit Synodalität meint. Das ist deutlich unterschiedlich von dem, was in Frankfurt passiert ist beim deutschen Synodalen Weg. Der ist sehr viel stärker politisch orientiert gewesen und auf Durchsetzung von bestimmten Positionen, bei denen von vornherein feststand, wohin es hingehen soll. Das ist völlig anders, als wenn der Papst in Rom sagt, wir sind hier im geschützten Raum und wir reden, beten, schweigen, fragen und antworten. Der Papst will, dass auf dem Weg dieser Methode Polarisierung überwunden wird und wir uns auf einer tieferen Ebene begegnen. Es muss dabei auch immer um die Frage gehen, wie kann ich die Position des anderen retten. Und vor Ort bedeutet das: Wie gelingt Glaubensvertiefung? In Glaubenskenntnis und in Erfahrungen mit dem Herrn, die Herzen berühren und verändern?
Für viele Gläubige ist das sehr abstrakt. Konkret werden Sie meist wahrgenommen als jemand, der Reformen bremst. Schmerzt Sie das?
Oster: Ich versuche zunächst einmal treu zu sein, dem, was ich bei der Weihe versprochen habe. Was die Kirche in den entscheidenden Punkten sagt, versuche ich, inhaltlich und spirituell zu vollziehen. Das Ringen um die eigene Glaubwürdigkeit macht aber leider noch nicht, dass die Menschen jemanden schon im rechten Licht sehen. Die Beurteilung von einigen, die dann halt einfach zwei, drei Positionen sehen, an denen sie abklären, ob man jetzt „böse oder gut“ ist, das muss ich hinnehmen. Und freilich würde ich mir auch wünschen, dass die Dinge, die wir längst verändert oder Initiativen, die wir neu begonnen haben, auch jenseits eines Schubladendenkens wahrgenommen würden.
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