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Jesus kennen lernen und ihm ähnlicher werden

Jemanden kennen lernen, heißt, Erkenntnis über ihn gewinnen. Eine Predigt von Bischof Stefan Oster im Urlaub 2014 darüber, wie Petrus Jesus kennen lernen durfte und ihm dadurch ähnlicher wurde.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
sicherlich kennen Sie das folgende Phänomen: Sie lernen einen interessanten Menschen kennen, sind vielleicht beeindruckt von ihm und schnell wächst in Ihrem Verstand ein Urteil über ihn: „Der ist so und so!“ Der ist zum Beispiel deshalb toll, weil er das und das gesagt oder getan hat. Ein erster Eindruck, ein erstes Urteil.

Aber dann stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Gelegenheit, diesen Menschen näher kennen zu lernen. Sie lernen langsam verstehen, was ihn antreibt, was ihn von innen her wirklich beschäftigt, was ihn motiviert, was seine Überzeugungen sind. Sie lernen seine Geschichte kennen, sie lernen allmählich so etwas wie das Lesen in seiner Seele.

Einen Menschen kennen lernen

Bei Menschen, die sich lange kennen und vertrauen und gern haben, lässt sich manchmal so etwas beobachten: Sie wissen in der Gegenwart des anderen schon, wie es ihm geht, selbst dann, wenn er gar nicht so viel sagt. Wenn Ihnen nun mit dem erwähnten interessanten Menschen so eine Erfahrung geschenkt würde, hätten Sie dann nach einiger Zeit noch dasselbe Urteil wie am Anfang? Wie nach dem ersten Eindruck?

Meine Antwort wäre: Wenn Ihre Menschenkenntnis passabel ist, wenn Ihr Interesse an dem anderen Menschen einigermaßen aufrichtig und wahrhaftig und nicht nur ichbezogen ist, und wenn der andere Mensch selbst einigermaßen echt ist, dann wird sich das erste Urteil mit einiger Wahrscheinlichkeit bestätigen.

Das Urteil bekommt eine andere Qualität

Aber Sie werden selbst sagen: „Mein Urteil hat jetzt eine andere Qualität. Es ist angefüllt mit Erfahrung, mit äußerem und innerem Erleben, es hat mehr Substanz.“ Vielleicht würden Sie auch sagen: „Es ist korrigiert worden, ich sehe jetzt, dass ich vielleicht ein wenig schnell oder oberflächlich gesprochen habe. Jetzt begreife ich noch mehr, was sein Reden und Handeln bedeutet.“

Eine solche Erfahrung, eine solches vertieftes, vielleicht auch revidiertes Urteil über den anderen Menschen kommt durch das ehrliche Kennen-lernen, durch das gemeinsame Gehen. Es kommt ohne Zweifel auch durch das Ertragen des Anderen. Denn kein Mensch ist immer gleich so, wie man ihn gerne hätte.

Durch Dick und Dünn

Freunde gehen miteinander durch Dick und Dünn, wie sie sagen. Aber so etwas impliziert doch auch: „Ich geh auch mit Dir, wenn es schwer ist, wenn es mich etwas kostet. Und genau das sind dann womöglich die Zeiten, in denen ich Dich besonders gut kennen lernen darf.“ Früher, als junger Kerl, bin ich gern mit Rucksack auf Reisen gegangen, auch mal wild, per Anhalter und solche Sachen.

Und da war meine Erfahrung: „Wenn du mal auf einer intensiven Reise mit jemandem gewesen bist und den anderen auch mal zwei Wochen im Zweimannzelt neben dir ausgehalten und kennen gelernt hast, mit allen Alltäglichkeiten und auch Unwägbarkeiten einer solchen Reise, dann lernst du verstehen, ob ihr wirklich Freunde seid.“

Kennen lernen: Herzen füreinander öffnen

Und auch heute denke ich noch: „So ganz falsch war diese Überlegung damals nicht.“ Heute verstehe ich aber noch besser, dass sich für so etwas die Herzen, die Seelen der beiden wirklich füreinander öffnen und sich auch gegenseitig durchdringen müssen. Und es ist gar nicht so leicht, einem anderen wirklich Platz in seinem Herzen einzuräumen.

Manchmal ist da zu viel Eigenes noch drin, das mit dem Anderen nicht kompatibel ist. Es ist eben ein Weg, manchmal auch ein Ringen und auf diesem Weg gleichen sich diese Herzen auch irgendwie an, sie werden einander auch ähnlicher. Ist es nicht so? Jemand der in seinem Herzen, von seinen Überzeugungen und seinem Blick auf die Welt völlig anders tickt als ich selbst, der wird es wirklich schwer haben, von mir gemocht zu werden, der wird es schwer haben, dass ich ihm wirklich mein Herz und mein Vertrauen schenke.

Ich müsste erst feststellen, dass er es wirklich wert ist und dann müsste ich ihm im Grunde auch ein wenig ähnlicher werden und er mir, damit sein inneres Wohnen in meinem Herzen und umgekehrt auch besser passt. Unsere Innenwelten müssten irgendwie angeglichen werden.

Das richtige Bekenntnis

Warum, liebe Schwestern und Brüder, erzähle ich so etwas? Heute vor allem wegen Petrus! Letzten Sonntag haben wir noch die großartige Passage gehört, wie Jesus auf Petrus seine Kirche baut, wie er ihm die Schlüsselübergabe verheißt, wie er ankündigt, dass die Mächte der Unterwelt ihn nicht überwältigen. Warum hat Jesus das getan?

Weil Petrus das richtige Bekenntnis, ein richtiges Urteil geäußert hatte: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (Mt 16,16) Jesus erkennt, dass Petrus hier vom Vater ein ganz besonderes Charisma empfangen hat. Petrus sagt, was die Mitte unseres Glaubens ist. Und er sagt es richtig: Jesus ist der Messias, der Sohn Gottes. Und Jesus sagt auch zu Petrus: „Das hast Du nicht aus Dir, nicht aus Fleisch und Blut, das hast Du vom Vater im Himmel.“ (Mt 16,17)

Petrus versteht nicht so recht…

Petrus hat also ein erstes, richtiges Urteil ausgesprochen. Aber nun, gleich folgt die nächste Szene, die vom heutigen Evangelium, nun redet Jesus von seinem Leiden und von seinem nahenden, gewaltsamen Tod und von seiner Auferstehung. Und jetzt ist es so, dass Petrus offenbar doch nicht recht versteht, was Jesus meint. Er kennt ihn doch noch nicht so gut.

Er ist mit ihm noch nicht genügend durch Dick und Dünn gegangen. Sein Herz ist noch zu sehr bei sich, noch nicht offen genug für den Abgrund des gottmenschlichen Herzens Jesu. Er kann das noch nicht vertragen, sein eigenes Fleisch und Blut wehren sich gegen den Gedanken, dass Jesus leiden wird. Und Jesus sagt nun zu demselben, auf den er gerade noch die Zusage hingesprochen hatte, die Mächte der Unterwelt würden die Kirche, die auf diesem Felsen gebaut ist, nicht überwinden, zu demselben sagt er: Im Prinzip hat dich die Hauptmacht der Unterwelt jetzt schon überwunden! „Satan, weg von mir!“ (Mt 16, 23) Worauf baut Petrus nämlich noch? Jesus sagt: „Du willst, was die Menschen wollen, nicht was Gott will“ (Mt 16, 23)

Tiefe erfahren

Und in Bezug auf unsere vorangehenden Überlegungen heißt das auch: Dein Urteil, Petrus, über Jesus ist noch nicht tief genug, noch nicht reif, noch nicht fest genug, du musst erst mit Jesus durch Tod und Auferstehung gehen, du musst erst dein eigenes Scheitern, deine Hartherzigkeit einsehen.

Du musst dich erst von Jesus – in der Demut seiner Fußwaschung an dir selbst verdemütigen lassen. Du musst vor allem zuerst Vergebung erfahren für deinen Verrat – aus der Liebe seines reinen Herzens. Und du musst diese Vergebung an dich heranlassen.

Von der Liebe berührt

Und dann, Petrus, wenn du dich von dieser Liebe berühren lässt, wenn dein stolzes Ich wirklich in der Liebe Christi gleichsam eingeschmolzen wird, wenn du ihn aus der Tiefe seiner Seele kennen lernen konntest, wenn du gelernt hast ihn zu lieben und ja, auch zu ertragen in seiner göttlichen Unergründlichkeit und Majestät und Andersheit, dann erst wirst du auch ein authentischer Felsenmann werden. Der mit dem Schlüssel.

Dann wirst du einer sein, der dem anderen Menschen sein eigenes geöffnetes, aufgeschlossenes Herz wirklich entgegenhalten kann. Und dann werden die anderen Menschen spüren, dass sie in dir auch Christus begegnen – weil du ihn kennst und weil du ihn liebst, weil er in dir wohnt, weil er deine Seele seiner ein wenig ähnlicher gemacht hat.

„Gleicht euch nicht dieser Welt an“

Vielleicht, Schwestern und Brüder, verstehen wir nun auch den abgründigen Satz aus der zweiten Lesung. Der Hl. Apostel Paulus sagt den Römern: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist, was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ (Röm 12,2)

Paulus sagt uns: Wir können erst erkennen, was Gott gefällt, wenn unser Herz, unser Denken verwandelt ist. Und wie geht das? Wie geht diese Verwandlung? Paulus sagt: „Der wahre und angemessene Gottesdienst ist es, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen“ (Röm 12,1).

In die Lebensschule Jesu gehen

Im Blick auf das, was wir bisher bedacht haben, bedeutet es: Wie Petrus in die Lebens- und Kreuzesschule Jesu gehen. Es bedeutet lernen, das Kreuz zu verstehen als seine absolute Erniedrigung für uns, für mich. Wollen wir einen Gott, der wirklich für uns stirbt, Schwestern und Brüder? Wollen wir, dass dieser Gott, sich als ein derart Erniedrigter, Gefolterter, Toter in unserer Seele ausbreitet, dass er in unserer Seele Wohnung nimmt?

Und zwar mit dem Ziel, dass unsere Seele seiner ähnlich wird? Mit dem Ziel, dass wir wirklich selbst Liebe lernen, Demut, Abstieg? Und zwar aus ihm, aus dem Gehen mit ihm und dem Leben mit ihm – und nicht aus uns selbst und unserer eigenen Kraft? Wir haben im heutigen Evangelium auch die wirklich schwer wiegenden Sätze gehört: „Wer mein Jünger sein will, verleugne sich selbst und folge mir nach.“ Und: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen.“ (Mt 16,25)

Diese Texte haben Gewicht

Liebe Schwestern und Brüder, diese Texte des heutigen Tages haben Gewicht. Sie zielen ins Herz unseres gläubigen Lebens. Und sie wiegen dann unerträglich schwer, wenn wir Jesus nur oberflächlich kennen, wenn wir uns damit begnügen, das Evangelium in der Form von ein paar netten Geschichten zu kennen, die uns allzu geläufig sind.

Aber wirklicher Glaube, tiefes Vertrauen, echte Gotteserkenntnis wachsen durch einen beständigen Umgang mit ihm. Durch die beständige Bitte, er möge bei uns sein, durch immer neues wirkliches Betrachten der Schrift, durch ein Leben, in dem wir ihn innerlich an unserer Seite wissen, im beständigen Zwiegespräch mit ihm. Durch solches Leben und Beten, durch Gutes tun aus seiner Kraft und durch die Feier der Sakramente, wandelt er sich uns ein. Immer mehr.

Selbst Schlüsselfigur werden

Dann wächst uns die Kraft zu, selbst Schlüsselfiguren zu werden, wie Petrus, weil wir den Menschen dann den Weg zum Herzen Jesu aufsperren können. Und auch wenn diese Worte des heutigen Textes schwer wiegen, so sagt uns Jesus trotzdem auch: „Nehmt mein Joch auf euch. Lernt von mir. Ich bin gütig und von Herzen demütig. Ich will euch Ruhe verschaffen für eure Seele.“ (Mt 11,28) Und: „Ich will, dass meine Freude in euch ist.“ (Joh 17,13)

Wie geht das zusammen? Diese Schwere des Kreuzes, die Forderung, das Leben um seinetwillen zu verlieren einerseits und seine Erklärung, dass seine Last leicht sei andererseits? Ich glaube, es geht nur dann zusammen, wenn unsere Herzenserkenntnis immer mehr davon erfüllt wird, dass es niemanden gibt, der unsere Sehnsucht nach Wahrheit, nach Liebe, nach Schönheit, nach Freiheit so sehr erfüllen kann und wird wie er; wenn wir mit unserer Herzenserkenntnis berühren dürfen, dass Jesus und kein anderer das Ziel unserer letzten und tiefsten Sehnsüchte ist.

Er ist gegenwärtig

Und wenn wir dann immer wieder erfahren auch dürfen: Er ist gegenwärtig, er trägt und begleitet unser Leben, dann Schwestern und Brüder, dann zieht im Herzen wirklich der Friede ein. Und dann wissen wir, dass auch die ganz schweren Lasten des Lebens trotzdem nicht mehr ein allerletztes Gewicht haben.

Denn wir haben ihn. Wir kennen ihn und lieben ihn. Bei ihm kommt das Herz zur Ruhe. Und dann spüren wir: Er lehrt uns nicht nur das Kreuz zu tragen, nein, er trägt es auch mit. Und er speist uns mit einer Kraft, die schon aus der Freude der Auferstehung kommt und er schenkt uns Anteil an dieser Freude. Amen.

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